Zu Besuch im Kinderhirn: Mit der Neuropsychologin im Film «Inside Out»

Tobende Emotionen, Persönlichkeitsinseln und Träume aus dem Filmstudio: Der Film «Inside Out» verspricht Einsichten in den Kopf eines Kindes. Wie viel davon hat mit der Realität zu tun? Neuropsychologin Salome Kornfeld gibt Auskunft.

Kommandoführer im Kinderkopf: Trauer, Angst, Wut, Ekel und Freude bei der Arbeit.

(Bild: OutNow)

Tobende Emotionen, Persönlichkeitsinseln und Träume aus dem Filmstudio: Der Film «Inside Out» verspricht Einsichten in den Kopf eines Kindes. Wieviel davon hat mit der Realität zu tun? Neuropsychologin Salome Kornfeld gibt Auskunft.

«Habt ihr euch je gefragt, was in den Köpfen anderer Menschen abgeht?», fragt eine Stimme zu Beginn von «Inside Out». Sie gehört einer kleinen gelben Figur mit blauen Haaren und einem so unerschütterlich sonnigen Gemüt, wie es nur in Kinderfilmen möglich ist. Oder in Kinderköpfen: Es spricht Joy, die personifizierte Freude, eine von fünf Emotionen, die im Kopf der elfährigen Protagonistin Riley sitzen und das Leben des kleinen Mädchens mehr oder weniger im Griff haben.

Der neue Streifen aus dem Hause Pixar liefert nicht nur beste Familienunterhaltung, er versorgt die Zuschauer auch mit aufschlussreichen Antworten zur Eingangsfrage: In unseren Köpfen hocken Emotionen, die Erinnerungen horten, Ideen einschrauben, Persönlichkeitsinseln aufbauen, Traumkino schauen und über ein Schaltpult all unsere Handlungen steuern. 

In echt sieht das natürlich etwas anders aus. Oder? Wir haben bei der Neurowissenschaftlerin Salome Kornfeld nachgefragt.

Frau Kornfeld, in «Inside Out» wird das Innenleben des Mädchens Riley von fünf Emotionen in Form lustiger Figürchen bestimmt. Wut, Trauer, Freude, Angst und Ekel beeinflussen Rileys Leben – eine realistische Vorstellung?

Realistisch ja, wenn auch sehr vereinfacht. Emotionen beeinflussen unser Handeln, wie viele es sind ist aber von Theorie zu Theorie unterschiedlich. Die fünf Emotionen, die in Rileys Kopf das Sagen haben, sind angelehnt an das Modell des amerikanischen Psychologen Paul Ekman, der von sieben «Basisemotionen» ausgeht, die in allen Kulturen die gleichen sind: Fröhlichkeit, Wut, Ekel, Furcht, Traurigkeit, Verachtung und Überraschung. Die beiden Letzteren haben die Filmemacher ausgelassen – vielleicht aus Gründen der Vereinfachung. 

(Bild: Samuel Stoecklin)

Salome Kornfeld (27)

Hat in Basel und Bern Psychologie studiert. Seit zwei Jahren arbeitet sie als Doktorandin der Neuropsychologie in einem Forschungsprojekt auf der Abteilung für Neuropädiatrie, Entwicklung und Rehabilitation an der Kinderklinik des Inselspitals Bern. Das Projekt beschäftigt sich mit der Reorganisation des Gehirns bei Kindern und Jugendlichen, die einen Schlaganfall erlitten haben.

Was ist mit der Kommandozentrale? Die fünf Emotionen sitzen in den «Headquarters», einer Schaltzentrale im Gehirn, wo sie alles mitbekommen, was Riley sieht. 

Genau, und hier hört es dann auch ziemlich schnell auf mit der Realität (lacht). Im Film wird suggeriert, dass die fünf Emotionen in der Stirnseite des Gehirns sitzen, also genau da, wo sich der am weitesten vorne liegende Teil des Gehirns, der präfrontale Cortex, befindet. Gewisse Teile des präfrontalen Cortex kontrollieren und regulieren mitunter unsere Emotionen. Von daher macht der Standort der Schaltzentrale durchaus Sinn. Nur werden die Emotionen in diesem Teil unseres Hirns nicht – wie im Film erzählt – produziert, sondern vielmehr verwertet und in Kontext gebracht. Die Emotionsproduktion geschieht in viel tiefer liegenden Strukturen des Gehirns. Das Zusammenspiel stimmt also, nur der Ort ist vereinfacht dargestellt.

Die fünf Figuren sehen nicht nur alles, was «ihr» Mädchen durchlebt, sie steuern auch all ihre Handlungen. Haben Emotionen wirklich einen derartigen Einfluss auf unser Verhalten?

Sie sprechen die zweite Ungenauigkeit an: Riley wird im Film nur von ihren Emotionen gelenkt, dabei gibt es nichts, was diese Emotionen reguliert. Keine Vernunft, wenn Sie so wollen. Das wäre in der Realität anders. Wenn Riley also wütend auf jemanden wäre, dann bräuchte es nicht nur wie im Film die Emotion Wut, sondern auch eine Instanz, die diese Emotion bewertet, die in die Zukunft blickt und nach den Konsequenzen von Aktionen fragt. Diese Vernunfts-Instanz fehlt aber völlig. Andererseits ist es auch so, dass bei Kindern die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren noch weniger entwickelt ist als bei Erwachsenen. Das passt dann wieder durchaus in den Film, in dem ja der Kopf von Riley die Hauptrolle spielt.

 

Der Film liefert Stoff für interessante Diskussionen mit Kindern: Warum sind wir alle verschieden?

Andererseits haben bei den Erwachsenen im Film auch nur die Emotionen etwas zu sagen.

Genau. Hier bräuchte es tatsächlich noch eine höhere, eine übergeordnete Instanz, welche die Emotionen überwacht, plant und in die Zukunft denkt. Dann würde auch der Ort des präfrontalen Cortex wieder stimmen, der für die Kontextualisierung zuständig ist: Was habe ich bisher erlebt, wie setze ich was ein, wie verhalte ich mich und welche Konsequenzen haben meine Handlungen?

Joy, die Freude, ist zu Beginn des Films die einflussreichste Emotion in Rileys Gehirn, sie hat eine klar übergeordnete Funktion. Die Trauer hingegen gewinnt erst gegen Ende an Gewicht – wie erklären Sie sich das?

Das hat wahrscheinlich viel damit zu tun, dass Riley eine glückliche Kindheit hatte. Sie ist behütet aufgewachsen und hatte als Kind wenig einschneidende Veränderungen in ihrem Leben. Dass die Freude eine so wichtige Position einnimmt, hat mit dem Temperament zu tun, mit Rileys Disposition, also mit dem, was sie bereits bei der Geburt mitbringt. Aber auch mit dem Umgang, den ihre Eltern und sie miteinander hatten, indem sie ihr eine sorglose Kindheit ermöglichten. Und Riley reagiert entsprechend: Sie ist ein glückliches Kind und will das auch bleiben für ihre Eltern, die sie nur als ihren kleinen Sonnenschein kennen. Nach dem Umzug nach San Francisco ist dies aber nicht mehr so einfach. Weil Riley gelernt hat, dass sie als glückliches Kind ihre Eltern glücklich macht, lässt sie vielleicht deshalb die Trauer bis kurz vor Ende des Films gar nicht zu.



Protagonistin Riley, für einmal in Aussensicht.

Protagonistin Riley, für einmal in Aussensicht. (Bild: OutNow)

In anderen Worten: andere Kindheit, andere Kommandozentrale?

Absolut. Bei einem anderen Kind würde die Schaltzentrale anders aussehen. Hätte Riley beispielsweise eine streng autoritäre Erziehung erlebt, wäre vielleicht der kleine Zorn vermehrt am Hebel, die Konsole hätte vielleicht auch nur einen Knopf. Oder die Emotionen würden nur dasitzen und sich kaum bewegen.

Am Ende des Films ändert sich die Kommandozentrale und die Emotionen kriegen mehr Knöpfe zum Bedienen. Dazu gehört auch ein «Pubertäts»-Knopf, dem sie aber noch keine besondere Aufmerksamkeit schenken. Wie wird sich Rileys Innenwelt mit der Pubertät verändern?

Das Spannendste würden wohl die Hormone sein. Eine richtige Invasion von Hormonen, die die Emotionen durcheinanderbringen und Unruhe stiften (lacht). Die Emotionen werden stärker in Konflikt zueinander stehen, weniger schnell einrenken und Lösungen finden. Ihr Gehirn wird sich während der Pubertät in verschiedenen Regionen in unterschiedlichstem Tempo entwickeln. Dies kann mitunter die Unausgeglichenheit ihrer Emotionen erklären. Riley wird jedoch auch lernen, differenzierter mit ihren Gefühlen umzugehen. Zudem wird sich viel in ihrer Persönlichkeit tun, die Persönlichkeits-Inseln…

…die Inseln ausserhalb der Zentrale, die Rileys Persönlichkeit ausmachen und von Erinnerungen und Erfahrungen gespeist werden.

Genau, die werden in einem viel grösseren Wandel sein, ständig zusammenbrechen und wieder neu aufgebaut werden. Am einen Tag wird vielleicht die Familien-Insel gross und stark sein, am anderen Tag die Freundschafts-Insel. 



Gute Aussichten: Von ihrer Kommandozentrale aus haben die fünf Emotionen Ausblick auf Rileys Persönlichkeitsinseln.

Gute Aussichten: Von ihrer Kommandozentrale aus haben die fünf Emotionen Ausblick auf Rileys Persönlichkeitsinseln. (Bild: OutNow)

Was meinen Sie zu Rileys Träumen: Sie werden in einer Art Filmstudio weit unter der Schaltzentrale gedreht und dann von den Emotionen zusammen mit der schlafenden Riley auf einer Art inneren Leinwand betrachtet.

Das Filmstudio ist ein witziges und auch ziemlich akkurates Bild: Während des Schlafens werden im Hirn aus verschiedenen Erinnerungen Geschichten oder Abfolgen gebaut. Ausserdem wandern ihre Erinnerungen des Tages ins Langzeitgedächtnis – auch das passiert bei uns im Hirn während wir schlafen. Das mit der Leinwand ist hingegen weniger wirklichkeitsgetreu. Es gibt dazu neuere Forschung, die zeigt, dass beim Träumen die Hirnregionen aktiviert werden, die bei der wirklichen Ausführung von Bewegungen zum Zug kommen. Riley sollte also ihre Träume als aktive Person erleben, nicht bloss als Zuschauerin. Das gilt auch für die Emotionen, die während Rileys Schlaf Pause machen: Das Hirn ist während des Träumens nicht passiv, ganz im Gegenteil. 

In einem Interview meinte der Regisseur Pete Docter, er habe den Film nicht nur für Kinder gemacht, sondern auch für Eltern, die verstehen wollten, was im Kopf ihres Kindes passiert – ist ihm das gelungen?

Der Film schafft auf jeden Fall eine Vereinfachung der komplexen Zusammenhänge, die unser Handeln und unsere Persönlichkeit ausmachen, wenn auch auf sehr amerikanische und etwas kitschige Art und Weise. Nicht alles in «Inside Out» ist wissenschaftlich stichhaltig, viel wichtiger scheint mir aber, dass der Film Stoff für interessante Diskussionen mit Kindern liefert: Warum sind wir alle verschieden? Wieso bin ich manchmal ohne Grund wütend? Ist es okay, wenn ich auch mal traurig bin? Und das ist durchaus bemerkenswert.

«Inside Out» 

Freude sitzt zusammen mit Traurigkeit, Furcht, Ekel und Wut in der Hauptzentrale von Rileys Kopf und steuert von dort aus die Gefühlsregungen des elfjährigen Mädchens. Eine harmonische Arbeit – bis Riley mit ihren Eltern von Minnesota nach San Francisco zieht. Von nun an steht die Gefühlswelt des jungen Mädchens kopf und die Emotionen haben alle Hände voll zu tun. Als Freude und Kummer durch ein Missgeschick auch noch aus der Kommandozentrale hinausgeschleudert werden und durch Rileys labyrinthartiges Hirn den Weg zurück finden müssen, scheint das Chaos komplett.

«Inside Out» läuft in den Kinos Capitol, Pathé Küchlin, Pathé Plaza und Rex.

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