«Zu viele halten sich aus der Politik heraus»

Klimaerwärmung, demographischer Wandel, Finanzkrise – oft werden solche Phänomen theoretisch abgehandelt. Doch das funktioniert nicht, sagt der Autor und Geisteswissenschaftler Jonas Lüscher. Diese Themen müssen «erzählt» werden, damit man die Menschen erreicht.

Beobachtet die Wiederkehr des Konservatismus mit grosser Sorge: Autor Jonas Lüscher. (Bild: Christian Schnur)

Probleme wie die Klimaerwärmung oder der demographische Wandel lassen sich nicht mit Computermodellen erklären, sagt der Autor und Geisteswissenschaftler Jonas Lüscher. Diese Phänome müssen «erzählt» werden, damit man die Menschen erreicht.

Jonas Lüscher schreckt nicht zurück vor den grossen Themen unserer Zeit. Mit seiner für den Schweizer Buchpreis 2013 nominierten Novelle «Frühling der Barbaren» hat der 37-Jährige eine Parabel auf das «Nicht-Handeln» in der Finanzkrise geschrieben (siehe auch «Kimstedt liest»).

In seinem 1.-August-Essay «Die unanständige Mehrheit» hat er die mangelnde Solidarität der Schweizer Stimmbevölkerung mit Minderheiten beklagt. Und in seiner Doktorarbeit, mit der er derzeit am Philosophischen Institut der ETH Zürich promoviert, stellt der in München lebende Schweizer die These auf, dass die Vorherrschaft mathematischer Erklärungsmodelle schlecht ist für unsere Gesellschaft. Im Gespräch erklärt Lüscher, weshalb wir dringend möglichst viele Geschichten brauchen.

Jonas Lüscher, seit der Veröffentlichung von «Frühling der Barbaren» sind Sie ein gefragter Autor. Eben sind Sie von einer Einladung an die Buchmesse in Abu Dhabi zurückgekehrt. Gleichzeitig arbeiten Sie mit Hochdruck an Ihrer Doktorarbeit. Wie bringen Sie beides unter einen Hut?

Schlecht! (lacht) Ich habe natürlich ein Zeitproblem. Dass ich nach der Veröffentlichung des Buches so viel damit zu tun haben würde, war ja schwer vorauszusehen. Andererseits hängen meine philosophische Arbeit und mein literarisches Schreiben auch eng zusammen. Es ist mehr oder weniger dieselbe Denkbewegung.

Inwiefern befruchten sich Ihr philosophisches und Ihr literarisches Schaffen denn gegenseitig?

Ich denke viel über gesellschaftliche und politische Fragen nach. Einige dieser Gedanken fliessen ins philosophische Schreiben, andere ins literarische. Dahinter steht die Überzeugung, dass sehr viel autoritatives, nützliches Wissen aus der Literatur gewonnen werden kann. Wie einige hier am Lehrstuhl von Professor Michael Hampe an der ETH Zürich suche ich nach erzählenden Formen der Philosophie, die sich mit zeitgenössischen Fragen befassen. Der US-amerikanische Philosoph Richard Rorty hat diese Art von Philosophie als «Kulturpolitik» bezeichnet. Sie interessiert sich nicht so sehr für ein argumentatives Behaupten. Eher geht es darum, Vorschläge zu machen, wie wir über die Welt sprechen und weshalb wir bestimmte Begrifflichkeiten hinter uns lassen sollten.

Unsere Gesellschaft orientiert sich stark an Zahlen und Fakten. Ist dies ein Teil des Problems, mit dem der Journalismus kämpft?

Insofern ja, als dass man nur noch nach rentablen Geschäftsmodellen sucht und wenig über Inhalte spricht. Abgesehen davon ist es natürlich wichtig, dass sich der Journalismus auf Studien und Zahlen beruft. Ich mache aber die Beobachtung, dass er stark darum bemüht ist, Klarheit zu schaffen, selbst wenn es keine Klarheit gibt. Die Leser wollen eine Zeitung, die ihnen möglichst schnell, kurz und klar die Welt erklärt.

Sie selbst waren früher als Dramaturg in der Filmbranche tätig. Können Sie sich vor dem Hintergrund ihrer philosophischen Arbeit vorstellen, als Drehbuchautor zurückzukehren?

Eine gute TV-Serie zu entwickeln wäre schon eine sehr reizvolle Aufgabe. Aber es gibt gute Gründe, weshalb ich mich damals aus der Filmbranche zurückgezogen habe. Man bewegt sich in einem Markt, der es praktisch verunmöglicht, interessante Filme zu drehen. In Deutschland ist selbst bei Kinofilmen stets ein Fernsehsender beteiligt, weil sonst keine Fördergelder zu kriegen sind. Wenn ein Fernsehsender mit an Bord ist, gehört auch eine Fernsehredaktion dazu, und dann geht es vom ersten Tag an um Einschaltquoten. Das Schöne am Schreiben ist, dass ich tatsächlich nur Papier und Bleistift brauche und mir niemand dreinredet. Vielleicht finde ich zwar keinen Verlag, aber immerhin habe ich das Buch geschrieben, das ich schreiben wollte.

Arbeiten Sie an einem neuen literarischen Projekt?

Ja, ich arbeite an einem Band mit Erzählungen, die alle in Kalifornien spielen. Mich interessieren die USA: der amerikanische Alltag, die Kultur, die Politik, aber vor allem auch die Gründungsgeschichte.

(Bild: Christian Schnur)

Weshalb?

Ich glaube, dass die Auseinandersetzung mit Amerika wichtig ist. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln der USA liegen in Europa, aber es entstand etwas Neues daraus. Wir könnten viel voneinander lernen, wissen aber zu wenig übereinander. Der hiesige Anti-Amerikanismus ist in seiner Massivität krankhaft. Wenn man in Online-Kommentaren das Wort «Amerikaner» mit «Deutscher» oder «Türke» ersetzte, würden alle laut «Rassismus, Rassismus!» schreien. Es ist gerade salonfähig, in einer Art und Weise über Amerikaner zu sprechen, bei der einem ganz anders wird. Gleichzeitig wissen viele Amerikaner zu wenig darüber Bescheid, was in Europa läuft. Einem signifikanten Teil der amerikanischen Bevölkerung kann man offenbar verkaufen, dass skandinavische Länder eigentlich totalitäre, kommunistische Staaten sind.

«Ich wünsche mir, dass sich die Menschen vermehrt in Geschichten verstricken.»

Der Blick auf andere Gesellschaften und geschichtliche Epochen ist Ihnen wichtig?

Ja, sicher. Die räumliche oder zeitliche Horizonterweiterung ist das Schönste an Erzählungen überhaupt. Sie bewirken, dass uns erst einmal fremd erscheinende Menschen plötzlich weniger fremd sind. Wir beginnen, ihre Lebensmodelle zu verstehen, und begreifen, dass sie so anders gar nicht sind. Die grundlegenden Empfindungen – Schmerz, Demütigung, die Angst vor dem Tod – sind ziemlich überall dieselben. Die Art und Weise, wie in der Schweiz über Flüchtlinge gesprochen wird, zeigt eine mangelnde Fähigkeit, sich in diese Menschen hineinzuversetzen und Mitgefühl zu empfinden. Zu verstehen, was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen und in einer Nussschale über das Mittelmeer zu reisen, fällt einem leichter, wenn man eine gewisse Ahnung von anderen Leben hat. Deswegen wünsche ich mir, dass sich die Menschen vermehrt in Geschichten verstricken.

Kürzlich haben Sie im Rahmen der Veranstaltungsserie «Blackbox Science» am Schauspielhaus Zürich versucht, ein Publikum in Geschichten um die Finanzkrise zu verstricken. Wie ist das vonstattengegangen?

An dieser Veranstaltung haben wir am Beispiel der amerikanischen Subprime Credit Crisis versucht, ein narratives Netz zu knüpfen. Es ging dabei nicht darum, die Subprime Credit Crisis zu erklären, sondern herauszufinden, wie man auf erzählerische Art und Weise ein so komplexes Phänomen beschreiben kann. Wir haben ungefähr 14 Ausschnitte aus Romanen, Filmen, Interviews und journalistischen Beiträgen vorgelesen und gezeigt. Mit diesen Werken wollten wir nicht eine bestimmte Aussage treffen, sondern in erster Linie zeigen, dass es keine eindeutigen Antworten, sondern verschiedene Perspektiven auf eine Problematik gibt und dass man die Finanzkrise nicht auf einen Slogan wie «Die Gier der Banker» herunterbrechen kann. Der Abend ist uns aber nicht zu 100 Prozent gelungen. Wir haben das Publikum wohl mit Informationen erschlagen. Einige Besucher hatten das Gefühl, sie müssten am Ende des Abends die Finanzkrise verstehen. Von diesem Erkenntnisdruck haben wir sie zu wenig befreit.

«Die Überprofessionalisierung der Philosophie hat dazu geführt, dass sie nicht mehr interessant ist.»

Zumindest kann man Ihnen nicht vorwerfen, Sie würden sich als Geisteswissenschaftler im Elfenbeinturm verkriechen. Sie wagen immer wieder den Schritt an die Öffentlichkeit. Was treibt Sie an?

Die Überzeugung, dass die Philosophie möglichst nahe an gesellschaftlich relevanten Fragen sein sollte. Die Überprofessionalisierung der Philosophie hat dazu geführt, dass sie nicht mehr interessant ist. Eine pragmatische Maxime besagt, dass nur das, was im Leben einen Unterschied macht, auch in der Theorie einen Unterschied machen soll. Das will ich ernst nehmen. Darüber hinaus bin ich überzeugt, dass fast alles, was wir tun und denken, auch irgendwie politisch ist.

Sie setzen sich damit aber auch einer Anstrengung aus, die Sie sich ersparen könnten…

Ja, man exponiert sich. Die Selbstzweifel, die man ohnehin hat, werden natürlich nicht besser, wenn man mit seinen Thesen auch noch an die Öffentlichkeit geht. Aber ich glaube, dass man das einfach tun muss. Zu viele Leute halten sich aus dem Politischen und Gesellschaftlichen heraus. Dem grassierenden Anti-Intellektualismus muss etwas entgegengesetzt werden. Es geht darum, dass eine bestimmte Art und Weise, über die Dinge zu sprechen, in der Öffentlichkeit noch vorkommt. Wir stehen an einem Punkt, der gefährlich ist. Die Wiederkehr des Konservatismus und des Nationalismus beobachte ich mit grosser Sorge. Ich finde es unglaublich beunruhigend, dass in Frankreich Zehntausende von Bürgern gegen die Ehe von Homosexuellen auf die Strasse gehen. Die Ereignisse in der Ukraine, der Rechtsrutsch bei den Europawahlen oder die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Griechenland sind alarmierende Zeichen. An schlechten Tagen befürchte ich, dass Zeiten auf uns zukommen, die wir uns im Moment noch kaum vorstellen können. Wenn es so weit kommt, möchte ich mir nicht den Vorwurf machen müssen, ich hätte nicht mein bescheidenes Scherflein dazu beigetragen, als man das Ruder noch herumreissen konnte.

Jonas Lüscher, 1976, ist ausgebildeter Primarlehrer. Nach einem Abstecher in die Filmindustrie studierte er Philosophie und arbeitete als Lektor, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Ethiklehrer in München. Lüscher promoviert derzeit an der ETH Zürich zum Thema «Narration des Komplexen». 2012/13 verbrachte er neun Monate am Comparative Literature Department der Stanford University in Kalifornien. Sein literarisches Debüt «Frühling der Barbaren» war 2013 für den Schweizer und den Deutschen Buchpreis nominiert.

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