Zukunftsforscher Scott Smith beschäftigt eine Frage: «Was wird schiefgehen?»

Scott Smith erforscht die Zukunft und macht sich dabei hauptberuflich Sorgen. Er warnt: «Wir brauchen Regeln, das nächste Uber wird ein Biotech-Unternehmen sein.»

«Ich lächle selten auf Fotos», sagt Smith. Er sei eher skeptischer Natur.

(Bild: Nils Fisch)

Scott Smith erforscht die Zukunft und macht sich dabei hauptberuflich Sorgen. Er warnt: «Wir brauchen Regeln, das nächste Uber wird ein Biotech-Unternehmen sein.»

Dieses Interview kann auch im Original auf Englisch gelesen werden. To the English version of this article.

An Konferenzen mit dem Wort «Innovation» im Titel herrscht diese ganz eigentümliche Stimmung. Jeder stellt sich mit Vornamen vor, gebügelte Hemden werden mit Hoodies kombiniert und irgendwo steht immer eine Retro-Couch. Diese Kombination hilft offenbar dabei, die kreativsten Köpfe aus der Gründer- und der Wissenschaftsszene zusammenzubringen. Ende Oktober kamen wieder einmal alle diese Elemente zusammen, an der «Lift Basel» in der Markthalle, einer Konferenz für Unternehmer und Forscher aus dem Gebiet der Life Sciences.

Eine Veranstaltung fiel im dichten Programm aus Podiumsdiskussionen und offenen Workshops thematisch aus dem Rahmen. Während anderswo über «Surgeon Superpowers» oder «Beer decoded» diskutiert wurde, widmete sich eine Expertenrunde dem Thema Überalterung. Welche Herausforderungen bringt diese demografische Entwicklung mit sich? Welche Chancen?

Unter diesen Experten war der amerikanische Zukunftsforscher Scott Smith. Er sprach über mögliche Auswege und bedankte sich beim Publikum dafür, dass es ihm «an einem Freitagnachmittag dabei zuhört, wie ich über das Sterben spreche». Später trafen wir Smith in einem Raum voller roter Stühle zum Interview.

Scott Smith, Sie wurden vom Moderator bei «Lift Basel» als «reisender Futurist» vorgestellt. Das klingt nach einem wunderbaren Job.

Es ist tatsächlich ein wunderbarer Job, allerdings klingt diese Berufsbezeichnung etwas seltsam. Ich helfe verschiedensten Organisationen dabei, komplexe Zukunftsvisionen zu entwerfen und zu verstehen, wie sich diese Organisationen weiterentwickeln könnten. Um dies tun zu können, muss ich möglichst oft rausgehen und die Welt sehen. Dann stosse ich auf neue Technologien, neue Produkte und treffe vor allem viele unterschiedliche Menschen. Nur durch das Reisen kann ich alle diese Erfahrungen machen und daraus lernen.

Wie ein Entdecker?

Ja, ein wenig. Grundlage meiner Arbeit sind Neugier und fundierte Recherche. Daneben spielt das menschliche Element eine wichtige Rolle. Es wäre ein Leichtes, die grössten Elektronikmessen zu besuchen und mich dann mit dem Gefühl zurückzulehnen, die Zukunft gesehen zu haben. Was mich viel stärker interessiert, ist, wie die Welt und wie die Menschen neue Technologien aufnehmen und im Alltag verwenden.

Wann hat Sie zum letzten Mal etwas überrascht?

Vor Kurzem war ich zum ersten Mal in Singapur, einer sehr futuristischen Stadt. Die Gesellschaft dort ist sehr modern, gleichzeitig ist das politische System sehr repressiv. Es war sehr interessant zu sehen, wie mit diesem Widerspruch umgegangen wird.

Wenn ich heute auf dem neuesten Stand der Technik sein will, welches Gerät muss ich mir anschaffen?

Klar könnten wir uns über die neueste iPhone-Generation unterhalten, über Oculus Rift und andere Dinge, die wir im Laden kaufen können. Spannender als den heutigen Stand der Technik finde ich jedoch die Frage, welche Technologie die Zukunft prägen wird. Mich interessieren Dinge, die heute vielleicht erst auf dem Papier bestehen, in zehn Jahren aber in jedem Haushalt zu finden sein werden. Zurzeit sprechen zum Beispiel alle von 3D-Druckern, die Dinge aus Kunststoff herstellen können. Was aber ist mit biologischen 3D-Druckverfahren? Können wir organische Zellen zu Fleisch heranwachsen lassen?



«Gadgets interessieren mich nicht. Ich denke lieber über Technologien nach, die erst auf dem Papier existieren», sagt der Futurist Scott Smith.

«Gadgets interessieren mich nicht. Ich denke lieber über Technologien nach, die erst auf dem Papier existieren», sagt der Futurist Scott Smith. (Bild: Nils Fisch)

Welche Fähigkeit ist wichtiger für Ihre Arbeit: Eine unbegrenzte Fantasie zu haben oder die Gegenwart genau analysieren zu können?

Am wichtigsten ist es, ein Gleichgewicht dieser beiden Fähigkeiten zu schaffen. Es reicht nicht aus, schöne, fantasievolle Entwürfe einer wunderbaren Zukunft zu zeichnen. Die Szenarien können erst überzeugen, wenn sie auf einem Fundament von Daten und Beobachtungen aufbauen.

Es gibt immer eine Technologie, die gerade gehypt wird. Derzeit zum Beispiel spricht alle Welt vom Internet der Dinge oder von selbstfahrenden Autos. Wie schaffen Sie es, von diesem Enthusiasmus nicht mitgerissen zu werden?

Ich habe mir inzwischen ein gutes Sensorium für solche meist sehr temporäre Hypes angeeignet. Ich stelle mir stets die gleichen Fragen: Auf welche Hindernisse könnte eine Innovation stossen? Was könnte schiefgehen? Welche ungewollten Konsequenzen könnten daraus entstehen?

Sind Sie ein Optimist?

Menschen, die mich kennen, würden diesen Begriff wohl nicht verwenden. Ich selbst würde mich als hoffnungsvollen und zugleich realistischen Menschen bezeichnen. Wer zu optimistisch wird und bloss noch die vielen wunderbaren Dinge sieht, die uns in der Zukunft erwarten könnten, läuft Gefahr die problematischen, oft versteckten Aspekte aus den Augen zu verlieren. Ich gehe immer von der Annahme aus, dass wir die Welt verbessern können. Nicht indem wir uns auf einzelne, möglicherweise positive Entwicklungen konzentrieren, sondern indem wir stets den gerechtesten und nachhaltigsten Weg wählen.

Und trotzdem leben Sie in ständiger Sorge, dass jederzeit etwas schiefgehen könnte?

Ja, es kann einem schon Kopfschmerzen bereiten, wenn man darüber nachdenkt, wie viele traurige Probleme es in der Welt gibt. Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen, etwa der Klimaerwärmung. Dieses Thema ist so komplex, dass man versucht ist, einfach aufzugeben. Meine Arbeit unterscheidet sich nicht gross von derjenigen eines Chirurgen. Niemand findet es toll, einen Menschen aufzuschneiden. Aber man tut es, weil es das Leben dieser Person auf lange Sicht verbessert. Man muss eine Toleranz für unangenehme Fragen entwickeln. Wie soll man sonst etwas lernen?

Viele der aktuell erfolgreichsten Unternehmen wie Uber, Airbnb und Netflix werden als «disruptiv» beschrieben. Ein Begriff, der Ihnen gar nicht gefällt. Warum nicht?

Ich halte den Begriff für genauso wenig aussagekräftig wie den Begriff Innovation. Kaum zwei Leute verstehen das gleiche darunter. Natürlich gibt es eine klassische, schulbuchmässige Definition von Disruption. Aber eigentlich ist es weniger Disruption als Dislocation, das heisst, es findet nicht ein Bruch mit alten Technologien, sondern eine Verschiebung hin zu neuen Technologien statt. Disruption ist ein unnötig aggressiver Begriff. Will ein Unternehmen einen Markt erobern, muss es die herkömmlichen Marktteilnehmer und Strukturen nicht zwingend zerstören.

Disruption als Auslöser einer Evolution hat doch auch etwas Gutes.

Das haben die Ökonomen ursprünglich wohl auch damit gemeint, als sie diesen Begriff einführten. Es ging um die Weiterentwicklung, um den Übertritt in eine neue Art, Dinge zu tun. Niemand von uns würde im 19. Jahrhundert leben wollen. Doch Disruption ist zu einem Begriff geworden, der als eine Art Persilschein viel zu schnell das aggressive Auftreten junger Unternehmen erklären soll. Viele dieser Startups haben keinen konkreten Plan, abgesehen davon, irgendetwas «zerstören» zu wollen. Dabei ist das oft nicht das Klügste. Viel intelligenter und nachhaltiger wäre es, Kooperationen und Partnerschaften einzugehen.

Weshalb zerbrechen Sie sich den Kopf über Semantik, also über die Bedeutung von Wörtern?

Politiker zeigen uns jeden Tag, wie mächtig Sprache ist. Wir müssen Unternehmer und Politiker beim Wort nehmen und sie zur Rechenschaft ziehen, wenn Sie gewisse Dinge sagen. Nur weil eine Technologie «disruptiv» ist, bedeutet dies noch lange nicht, dass diese Technologie der Gesellschaft etwas bringt. Viele Leute sagen: «Lasst Uber doch das Transportwesen und die Mobilität verändern, das ist eben Innovation.» Dann müssen wir uns wiederum fragen, wozu wir überhaupt noch Gesetze und Regulierungen haben.

Bald stimmen wir in Basel über ein neues Taxigesetz ab. Im Vorfeld gab es heftige Diskussionen darüber, ob wir Uber nicht verbieten sollten. Ist das nicht ein wahnsinnig hilfloses Unterfangen?

Genau das ist das Problem. Semantik ist derart wichtig, weil Wörter zu einer Polarisierung der Gesellschaft führen können. Es ist der helle Wahnsinn, dass wir darüber diskutieren, ob wir künftig Taxis oder Uber haben wollen, dass es keine Lösung dazwischen, kein Nebeineinander geben soll. Was Uber im Grunde tut, ist Mobilität in Software zu übersetzen und somit einen integrierten, durchgehenden Service zu errichten. Sie hätten das auch tun können, ohne gegen Gesetze zu verstossen. Das wäre wohl nicht schnell genug gegangen für ihre Investoren, aber so hätte die Evolution wenigstens mit der Gesellschaft verhandelt werden können. Das nächste Uber wird eine Biotech-Firma sein. Stellen wir uns das gleiche Verhalten bei einem Unternehmen vor, das künstliche Organismen herstellt! Die nächste Disruption wird in einem Gebiet erfolgen, in dem wir uns mehr Regeln wünschen als dies bei Taxis der Fall ist.

«Wir sollten ‹verkaufen› nicht plötzlich ‹teilen› nennen.»

Uber wird auch oft als Beispiel für die «Sharing Economy» genannt, ebenso Airbnb. In einem Video auf Youtube haben Sie gesagt, dass es einen traurigen Grund dafür gebe, weshalb diese Geschäftsmodelle zurzeit derart erfolgreich sind.

Airbnb entstand in einer Zeit, als die Weltwirtschaft viele Menschen in die Armut trieb. Also waren diese Menschen darauf angewiesen, Räume zu vermieten, einfach um sich ihre eigene Wohnung weiterhin leisten zu können. Den grössten Erfolg hat Airbnb in Städten, wo die Wohn- und Lebenskosten am stärksten angestiegen sind. Etwas zu vermieten oder zu verkaufen hat jedoch nichts mit «teilen» zu tun. Wenn Sie mir Ihr Fahrrad ausleihen und dafür fünf Franken verlangen, teilen Sie Ihr Fahrrad nicht mit mir, sie verkaufen mir eine Fahrt damit. Es geht also wieder um Semantik. Teilen ist ein wichtiges Wort, es hat eine soziale und emotionale Bedeutung. Wir sollten es nicht kaputtmachen, indem wir verkaufen plötzlich teilen nennen.

Werden Sie manchmal als Linker betitelt?

Das kann schon sein. Aber es ist nicht meine Absicht, so betitelt zu werden. Ich nutze zwar Airbnb, habe jedoch noch nie ein Uber bestellt. Das kann man durchaus als politischen Akt verstehen. Meine Sichtweise ist jedoch nicht ideologisch begründet, sondern fusst auf der Überzeugung, dass wir langfristig nachhaltige Unternehmen brauchen. Uber und Airbnb können nützliche Dienstleistungen anbieten, aber das muss auf eine faire Weise geschehen, von der möglichst viele Menschen profitieren können.

Sie sprechen über langfristige Nachhaltigkeit. Warum scheint das für heutige Unternehmen kein attraktives Ziel zu sein?

Der heutige Markt ist aus den Fugen geraten. Risikokapital und der Wunsch nach möglichst grosszügiger Finanzierung überwiegen gegenüber dem Wunsch nach möglichst langfristigen, nachhaltigen Geschäftsmodellen. Ich spreche über Geschäftsmodelle, die Arbeitsplätze generieren und einen soliden, konstanten Umsatz erzeugen. Hoffentlich sind Uber und Airbnb auch in 50 Jahren noch auf dem Markt. Aber in einer Form, die gesellschaftlichen Nutzen verspricht, Stellen schafft und Steuereinnahmen abwirft.

«Es bringt nichts, die Weltwirtschaft mit noch mehr Zucker und Koffein vollzupumpen.»

Sind Sie zuversichtlich, dass sich die Art, Unternehmen zu führen, in naher Zukunft verändern wird?

Es gibt Widerstand gegen die rein profitgetriebenen Geschäftsmodelle. Die Öffentlichkeit macht ihrem Unbehagen über die Wirtschaftsführer an vielen Orten auf der Welt Luft. Es macht es nicht besser, nur weil sich das Fehlverhalten weg von den Banken hin zu den Startups und schnellwachsenden, disruptiven Unternehmen verschoben hat. Wir wünschen uns wirtschaftliche Entscheide, die sich auch in zehn, zwanzig Jahren noch rechnen. Es bringt wirklich nichts, die Weltwirtschaft mit noch mehr Zucker und Koffein vollzupumpen und auf den nächsten Kollaps zu warten.

Apropos warten: Tesla hat soeben den sogenannten Autopiloten herausgegeben, eine Software die selbstständig ein Auto lenkt. Ich habe keinen Führerschein. Denken Sie es lohnt sich noch, dies nachzuholen, oder soll ich besser warten bis selbstfahrende Autos zum Regelfall werden?

Haben Sie 80’000 Euro auf der Seite?

Die Fahrzeuge werden doch sicher günstiger, wenn sich die Technologie weiterentwickelt hat.

Das wird aber noch etwas dauern. Wollen Sie wirklich noch so lange warten? Oder gibt es vielleicht andere Möglichkeiten der Fortbewegung? Ich lebe in Holland, wo wirklich jeder ein Fahrrad hat. Es fasziniert mich, wie dort drei Verkehrssysteme – Bahn, Auto und Fahrrad – nebeneinander betrieben werden. Mir leuchtet es nicht ein, weshalb wir das ganze Mobilitätssystem umkrempeln sollten, um Platz für die ganzen autonomen Fahrzeuge zu schaffen. Es ergibt beispielsweise Sinn, die ganzen riesigen LKW-Flotten durch selbstfahrende Warentransporter zu ersetzen. Aber ich sehe nicht, wie wir ganze Städte mit selbstfahrenden Privatfahrzeugen ausstatten wollen. Der Aufwand dafür ist zu gross.

Ausserdem finde ich den Gedanken etwas unheimlich, dass die Autos auf eigene Faust die Stadt durchstreifen.

Vor hundert Jahren war es auch beängstigend, sich vorzustellen, dass die Menschen dereinst in benzinbetriebenen Metallkisten durch die Gegend fahren würden. Es würde ein komplettes Umdenken der Mobilität erfordern. Unsere Kinder werden in einer ganz anderen Welt aufwachsen, was die Strassen und den Verkehr betrifft. Vieles, was wir ganz selbstverständlich als Teil unserer Kultur des 21. Jahrhunderts betrachten, hat mit benzinbetriebenen Autos zu tun. Man denke an die ganzen stilprägenden Filme. Was wäre «Rebels without a cause» gewesen, wenn James Dean in einem Tesla S mit Autopilot herumgekurvt wäre? Die Stadtplanung der letzten hundert Jahre wurde alleine vom Auto geprägt. Wo und wie wir in den Städten heute leben, wurde von den Strassen vorgeschrieben, auf denen die ganzen Autos Platz finden mussten. Daran hängt auch eine ganze Industrie, die uns mit Gummi, Glas und Treibstoff versorgt.



Wenn er nicht gerade über die Zukunft nachdenkt oder schreibt, ist Scott Smith ein gefragter Sprecher an Konferenzen auf der ganzen Welt.

Wenn er nicht gerade über die Zukunft nachdenkt oder schreibt, ist Scott Smith ein gefragter Sprecher an Konferenzen auf der ganzen Welt. (Bild: Nils Fisch)

Selbstfahrende Autos sind das eine, die Automatisierung geht aber noch weiter. Wenn man dazu noch die Überalterung in Betracht zieht, stehen wir vor einem riesigen Problem: Immer mehr Arbeiten werden von Maschinen erledigt, gleichzeitig leben die Menschen immer länger. Was bleibt da noch zu tun für uns?

Wir können uns um die vielen alten Menschen kümmern. (Lacht.) Ernsthaft: Falls wir tatsächlich bis in zwanzig oder vierzig Jahren jede zweite Arbeitskraft durch einen Roboter ersetzen sollten, bringt das enorme Probleme mit sich. Ich bin mir allerdings überhaupt nicht sicher, ob uns das überhaupt gelingen wird. Wir arbeiten aus verschiedenen Gründen: Weil wir in unserer Aufgabe Erfüllung finden, weil wir unsere Fähigkeiten nutzen und verbessern wollen. Und dann arbeiten wir auch ganz einfach, um uns und unsere Familie ernähren zu können. So wie unsere Gesellschaft heute aufgebaut ist, braucht es eine gewisse Anzahl Menschen, die arbeiten, Steuern bezahlen und damit das System tragen. Steigt die Arbeitslosigkeit auf zwanzig oder dreissig Prozent, droht dieses Gleichgewicht zu kippen. In Spanien beträgt die Arbeitslosigkeit nach der Rezession heute 25 Prozent. Nicht alle diese Menschen haben Umschulungen gemacht oder sind zurück an die Universität gegangen. Fazit: Es gibt immense wirtschaftliche Hindernisse, die einer solchen Automatisierung im Wege stehen.

Handelt es sich bei diesen Hindernissen um natürliche Barrieren? Oder liegt es an uns, beispielsweise als Bürger und Konsumenten, dieser Entwicklung einen Riegel vorzuschieben?

Wir stehen heute an einem Punkt, an dem wir uns einige gewaltige Fragen stellen müssen: Fragen zu Mobilität, Einkommen, Arbeit, Gesundheit und zum Klima. Die Antwort könnte konsequent kapitalistisch oder sozialistisch ausfallen. Wenn wir blind so weitermachen wie bisher, stellt sich ein neues, soziales Gleichgewicht ein, das uns nicht gefallen wird. Wir können nicht massenweise Menschen entlassen, nur weil ihre Arbeit auch von Maschinen erledigt werden kann.

Wenn Sie über neue Technologien schreiben oder nachdenken, bewegen Sie sich oft auf einem schmalen Grad zwischen Utopie und Dystopie.

Tun wir das nicht alle?

Wie halten Sie die Balance?

Ich habe Berufskollegen die ganz klar Position beziehen, indem sie sich einer bestimmten Technologie oder Zukunftsaussicht verschreiben. Sie werden zu Lobbyisten und tun den lieben langen Tag nichts anderes, als andere Menschen von ihrer Ansicht zu überzeugen. Ich bin mir sicher, Sie und ich haben sehr verschiedene Vorstellungen davon, wie unsere Zukunft aussehen soll. Deshalb werde ich Ihnen nicht meine Zukunft aufzwingen, sondern versuchen, Sie zu einer eigenen Meinung zu befähigen. Die Welt ist ein unordentlicher, komplizierter Ort voller unordentlicher, komplizierter Menschen. Jeder mit seinen eigenen Bedürfnissen.

Mein Beruf, der Journalismus, ist ebenfalls fundamentalen Veränderungen unterworfen und wird deshalb zunehmend kompetitiv. Welche Fähigkeit sollte ich mir wohl aneignen, um meine Konkurrenten hinter mir zu lassen?

Vor einigen Jahren wäre die Antwort wohl gewesen: «Sie sollten Datenjournalist werden». Ich glaube daran, dass die Fähigkeit, gute Geschichten zu erzählen und diese zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu publizieren, noch immer die wichtigste journalistische Kompetenz bleibt. Interessante, solid recherchierte Geschichten bleiben gefragt. Die Menschen schätzen Qualität und Tiefgang.

Sie haben in einem Blogpost über Technologien geschrieben, die unsere Gefühle lesen, verstehen und darauf reagieren können. Wie lange dauert es noch, bis mein Computer ein Interview wie dieses hier für mich erledigen kann?

Die technische Möglichkeit dafür hätten Sie wohl bereits. Es gibt eine Software, die selbstständig einfache Sport- und Börsenartikel verfassen kann. Das Unternehmen hat den Code kürzlich veröffentlicht. Damit kann künftig ein grosser Teil des niederschwelligen, zahlengetriebenen Journalismus von dieser Software übernommen werden. Doch die Frage ist: Wird der Computer je in der Lage sein, die zwischenmenschlichen, nonverbalen Signale zu lesen? Wird er je ein Gespräch steuern können, wie Sie es tun? Ich glaube nicht daran. Und selbst wenn, eine Software wird nie intuitiv handeln und entscheiden können. Langjährige Erfahrung und handwerkliche Fähigkeiten sind sehr schwierig durch Technologie zu ersetzen.

Ein Interview dient dazu, Fragen zu beantworten. Das ist die rein funktionale Sichtweise. Dazu kommt aber noch der soziale Aspekt: Man trifft jemanden und führt ein interessantes Gespräch. Warum sollte ich das überhaupt meinem Computer überlassen?

Ein Verleger könnte einen wirtschaftlichen Entscheid fällen. Eine Software ist günstiger als Journalisten. Auf lange Sicht aber würde dadurch die publizistische Qualität verwässert. Es gibt Algorithmen, die Gemälde erkennen und duplizieren können. Ich habe vor Kurzem für die amerikanische Zeitschrift «Wired» einen Artikel zu diesem Thema geschrieben. Wann wird zum ersten Mal ein Roman ausgezeichnet werden, der nicht von einem Menschen verfasst wurde? Vielleicht würden wir den Unterschied gar nicht merken, denn bereits heute sind wir von vielen maschinen-geschriebenen Texten umgeben. Als Konsumenten werden wir langsam an den etwas ungelenken, seltsamen Schreibstil gewöhnt, den Maschinen verwenden. Und dennoch: Wenn ich einen Restauranttipp in Basel will, frage ich lieber Sie als einen Computer.

Von Robotern zurück zu Menschen: Sie haben die weltweite Überalterung eine «tickende Zeitbombe» genannt. Ist das nicht ein wenig drastisch?

Die demografische Entwicklung lügt nicht. Das sind Zahlen, die man nicht von heute auf morgen verändern kann. China hat erst vor Kurzem seine Ein-Kind-Politik aufgegeben, weil sie gesehen haben, dass dadurch langfristig die chinesische Gesellschaft bedroht ist. In den USA fliesst bereits heute ein ungebührlich grosser Teil des Bruttoinlandproduktes in die Altenbetreuung. Die USA haben noch keine dramatisch überalterte Gesellschaft und dennoch bedroht die Situation die ganze Volkswirtschaft. Deshalb wollen die Republikaner andere Sozialleistungen einsparen, um diese Gesundheitskosten weiterhin bezahlen zu können. Wir müssen unseren ganzen Lebensstil überdenken. Wer keine staatliche Gesundheitsversorgung will, muss gesünder leben. Es ist ein kniffliges Problem.

Das zudem unzählige Gründe hat.

Man nennt solche demografischen Probleme deshalb auch «Tsunamis», denn man sieht sie Jahrzehnte im Voraus kommen. Nach den Weltkriegen stieg die Geburtenrate rasant. Das hat uns zwar durch das 20. Jahrhundert gerettet, doch nun wird es zum Problem. Bis in vierzig Jahren wird sich unser Leben materiell verändert haben. Jede Wette, wenn wir beide sechzig oder siebzig Jahre alt sind, werden wir uns an dieses Gespräch erinnern und denken: «Doch, es war tatsächlich ein riesiges Problem.» Werden wir Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, wenn wir von anderen alten, pflegebedürftigen Menschen umgeben sind? Wer wird sich um uns kümmern? Wer wird die Kosten übernehmen?

Wir sind sehr gut darin, solche beängstigenden Probleme zu ignorieren. Sie haben jedoch in Ihrem Referat davon gesprochen, dass in der Überalterung ein Marktpotenzial von 15 Billionen Dollar schlummert. Müsste das nicht ausreichend Motivation sein, dieses Thema anzupacken?

Ich fände es nicht gut, wenn wir soziale Probleme künftig nur noch mit einer marktwirtschaftlichen Herangehensweise lösen würden. Das führt zwangsläufig zu einer Ungleichbehandlung. Zum Glück hängt in den meisten Ländern der Zugang zu lebenserhaltenden Massnahmen nicht davon ab, ob Patienten das Geld dafür aufbringen können. Leider ist genau das in den USA der Fall. Das ist schädlich für eine Gesellschaft, es bringt die Menschen gegeneinander auf.

An einem anderen Podium haben Sie darüber gesprochen, wie die unternehmerfreundliche und innovationsfreudige Kultur der USA Europa als Vorbild dienen könnte. Doch die USA kämpfen mit gravierenden Problemen, die Ungleichheit ist enorm. Während Hotspots wie das Silicon Valley von Geld überquellen, haben die Menschen in Detroit nicht einmal fliessendes Wasser in ihren Häusern. Warum sollten wir eine solche Kultur übernehmen wollen?

In einer perfekten Welt könnte man nur die guten Seiten einer solchen Kultur übernehmen und die schlechten nicht. Doch natürlich gibt es einen Zusammenhang. Die USA sind ein künstliches Land mit einer künstlichen Kultur. Das Land ist entstanden als demokratisches und ökonomisches Experiment. Man kann nicht erwarten, dass vor diesem Hintergrund eine ausgewogene, faire Gesellschaft entsteht. Dennoch könnte Europa von den USA lernen und umgekehrt. Die USA könnten versuchen, einen inneren Zusammenhalt und eine soziale Wohlfahrt nach europäischem Vorbild zu schaffen. Europa hingegen könnte sich vom freigeistigen und anpackerischen Unternehmertum der Amerikaner inspirieren lassen.

Sie haben sich vor Kurzem in Europa niedergelassen, weil Sie das Gefühl hatten, dass Sie «weiterkommen» wollten. Was versprechen Sie sich von diesem Umzug?

Viele Themen, die mich beruflich interessieren, bedingen einen ganzheitlichen Ansatz. Das gilt etwa für Transportsysteme oder erneuerbare Energie. Ich will verstehen, wie die verschiedenen Bestandteile solcher Netzwerke zusammenarbeiten können. Ausserdem ist es gut, zuweilen den sozialen und politischen Kontext wechseln zu können. In den USA kann ich beispielsweise die ganze Flüchtlingsproblematik nur am Fernseher beobachten. Mir ist es aber wichtig, solche Themen aus erster Hand erleben zu können. Damit ich die Auswirkung einer solch gewaltigen Migrationsbewegung auf unsere Gesellschaft verstehen kann, muss es für mich mehr sein als blosse Politik oder eine Nachrichtengeschichte.

Weshalb haben Sie sich für Amsterdam entschieden?

An zahlreichen holländischen Universitäten passiert gerade sehr viel in diesem Bereich. Es wimmelt von faszinierenden Forschungsprojekten.

Gibt es ein Thema, für dessen Erforschung Sie dringend in die Schweiz reisen müssten?

Da gibt es bestimmt vieles. Zum Beispiel höre ich viel Gutes über das hiesige Bildungssystem. Im internationalen Vergleich sind die Schweizer sehr gut ausgebildet. Mich würde beispielsweise interessieren, welchen Einfluss das auf die Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes hat. Hier geschehen viele interessante Dinge im Bereich der Biotechnologie. Gut studieren liesse sich in der Schweiz auch die internationale Zusammenarbeit. Letztes Jahr war ich im Cern, es ist hochinteressant, wie offen die staatliche Forschung dort betrieben wird mit Wissenschaftern aus der ganzen Welt. Die Schweiz als sehr kleines Land musste sich zwangsläufig mit der Frage befassen, welche Kooperationen es eingehen soll, um voranzukommen.

«Offenheit ist Grundlage allen Fortschritts, egal ob es um das Erbgut, die Wirtschaft, Software-Entwicklung oder Kreativität geht.»

Genau diese Offenheit wurde in den letzten Jahren politisch heftig attackiert. Derzeit wird eine ganze Reihe von Gesetzen implementiert, die uns von Europa und dem Rest der Welt isolieren werden.

Das geschieht an vielen Orten auf der Welt. In den USA haben wir mehrere Präsidentschaftskandidaten, die davon sprechen, einen Grenzwall errichten zu wollen. Katalonien will Spanien verlassen, im Vereinigten Königreich träumen die schottischen Nationalisten immer noch von der Unabhängigkeit. Alle diese Bewegungen haben ihren Ursprung in der Wirtschaftskrise der letzten Jahre. Und gleichzeitig sind solche Ideen als Kritik an der Globalisierung zu verstehen. Einerseits ist das verständlich, andererseits zerstört es auch Chancen. Offenheit ist Grundlage allen Fortschritts, egal ob es um das Erbgut, die Wirtschaft, Software-Entwicklung oder Kreativität geht.

Nun haben wir viel über problematische Zukunftsszenarien gesprochen. Gibt es einen Bereich in dem wir völlig unbesorgt in die Zukunft blicken können?

Ich will wirklich ungern übertrieben skeptisch wirken, aber wir befinden uns heute an einem Punkt, an dem sich alles rasend schnell entwickelt. Umso wichtiger ist es, dass wir weiterhin die unangenehmen Fragen stellen. Zuversichtlich bin ich, wenn ich mir anschaue, was in der Lebensmittelindustrie zurzeit passiert, etwa indem neue Eiweissquellen erforscht werden. Es wird intensiv darüber nachgedacht, wie wir in Zukunft eine immer grösser werdende Population mit immer weniger Ressourcen ernähren können. So halte ich Soylent für eine ungefährliche Erfindung, auch wenn ich es selbst nie trinken würde. In Indien wurde vor wenigen Wochen ein Soylent-Klon lanciert. Es ist enorm wichtig, dass wir einen Weg finden, Menschen zu ernähren, die keinen Zugang zu Lebensmitteln haben.

Soylent ist eine dieser Erfindungen, die auch aus einem Zukunftsroman stammen könnten. Haben Sie schon mit dem Gedanken gespielt, Science Fiction zu schreiben?

Ich habe nicht nur darüber nachgedacht, ich habe mich schon daran versucht. Meine Arbeit verlangt es manchmal, fiktive Geschichten und Szenarien zu entwerfen. Dazu arbeite ich regelmässig mit Schriftstellern aus diesem Genre zusammen. Mit Künstlern und Designern suche ich neue Wege, zukünftige Risiken und Möglichkeiten zu kommunizieren. Wenn ich heute aufhören könnte zu arbeiten, würde ich mich wohl als Schriftsteller versuchen.

Wären Ihre Geschichten eher utopisch oder dystopisch?

Weder noch. Mich interessieren Geschichten, die sich beinahe real anfühlen, sodass man sie nicht unbedingt direkt als Fiktion erkennt. Es fällt leicht, eine reine Fantasiegeschichte als Fiktion abzutun, um sich nicht länger mit den aufgeworfenen Fragen beschäftigen zu müssen.

Sie hätten doch sicher eine Botschaft, die Sie in Ihrer Literatur rüberbringen wollen. Da kann ein leichter Dreh in die eine oder andere Richtung sehr hilfreich sein.

Wahrscheinlich wären meine Geschichten aus psychologischen Gründen leicht dystopisch gefärbt. Nicht, um die Menschen zu erschrecken, sondern um sie auf die schwerwiegenden Implikationen unseres heutigen Handelns aufmerksam zu machen. Ich bin prinzipiell skeptisch gegenüber übertrieben positiven Geschichten. Es ist gesund, sich eine konstruktiv kritische Haltung anzueignen und weiterhin Fragen zu stellen. Fragen, die uns helfen, die Zukunft positiver zu gestalten.

Scott, vielen Dank für diese aufmunternden Worte zum Schluss.

Zukunftsforscher Scott Smith

Scott Smith berät mit seinem Team von «Changeist» internationale Organisationen und Unternehmen dabei, wie sie sich für eine unklare Zukunft wappnen können. Er erforscht seit über 20 Jahren Veränderungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Kultur. Ausserdem lehrt er an der Designhochschule IED Barcelona und schreibt für verschiedene Publikationen wie «Wired», «Quartz» und «HOLO».

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