«Zur Notfallstation bitte, Bienenstich» – ein Tag bei den Badmeistern von St. Jakob

Für die einen sind sie Lebensretter und Vorbild, für die anderen bloss Spielverderber: Die Badmeister, heimliche Hüter des Freibadidylls. Wie ist es so, dort zu arbeiten, wo andere Ferien machen? Ein Protokoll.

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Für die einen sind sie Lebensretter und Vorbild, für die anderen bloss Spielverderber: Die Badmeister, heimliche Hüter des Freibadidylls. Wie ist es so, dort zu arbeiten, wo andere Ferien machen? Ein Protokoll.

Grillenzirpen begleiten die ersten aufgeschnappten Gesprächsfetzen an diesem Samstagmorgen. «Lueg mol do, Alte. Voll keine do, Alte.» Erwartungsfroh schlurfen sich zwei Teenies die Restmüdigkeit aus den Beinen, sie sind auf dem Weg ins Gartenbad St. Jakob, wohin die TagesWoche für einen Tag ihren Korrespondenten entsendet.

Das Ziel: Vollkontakt mit dem Sommer, der dieses Jahr so lange auf sich hat warten lassen. Der Protagonist: Schichtleiter Daniel De Carolis, Hüter und Patron der Freibadanlage. Die Story: Herausfinden wie es ist, dort zu arbeiten, wo der Rest der Gesellschaft der Entspannung frönt.

Freibäder sind so etwas wie die Proto-Topoi der arbeitsfreien Zeit, das waren sie schon immer. Kaum ein Ort ist im kollektiven Bewusstsein so regenbogenfarben in Assoziationen eingesponnen wie die gute alte Badi. Sonnenbaden, Rutschbahn rutschen, Glace essen. Die Badi ist der Ort, an dem in der «Bravo»-Fotolovestory das Wort «Schwarm» auftaucht und Tipps zum gegenseitigen Eincremen unauffällig überflogen, dabei aber tief verinnerlicht werden.

Der 10 Meter-Turm. Trotz mehreren Rutschbahnen noch immer unbestrittener Star unter den Joggeli-Attraktionen. (Bild: Daniel Faulhaber)

Böse Zungen behaupten, die Badi sei nicht mehr das, was sie mal war. Dass ihre grosse Zeit vorüber sei und «natürliche» Gewässer ihr den Rang abliefen. Über der Thujahecke zögen dunkle Wolken auf, sagen sie, aber stimmt das? Badi, quo vadis?

Der Schichtleiter, wichtigster Mann der Zone

Daniel De Carolis könnte einer Foto-Story entsprungen sein. Gross gewachsen, braun gebrannt, helle Augen, dunkle, halblange Haare. Wie alle andern trägt der 35-Jährige Uniform: Ein rotes, ärmelloses T-Shirt und kurze Hosen. Crocs an den Füssen. De Carolis ist seit zwei Jahren Schichtleiter im Freibad St. Jakob und damit der wichtigste Mann der Zone, wie sich bald herausstellt. Erster Job: Kundenbetreuung.

09:37 Uhr: Ein Badegast vermisst seine Flip-Flops. De Carolis sperrt den Schrank mit den Fundsachen auf. «Schwarze Latschen, da sind sie ja.» Der Mann strahlt und dankt. De Carolis wünscht einen schönen Tag.

09:42 Uhr: An der Eingangskasse fehlt Wechselgeld, «vor allem Zweifränkler, bitte». De Carolis holt Zweifränkler aus dem Safe und bringt sie zum Eingang.

09:55 Uhr: De Carolis begibt sich auf Kontrollgang in die Katakomben des Bads. Der Protokollant hinterher. Mehrmals täglich steigt der Schichtleiter hier hinunter und misst, was die Messgeräte hergeben. pH-Werte in fünf verschiedenen Becken, die Konzentration des freien Chlors, die Konzentration gebundenen Chlors. Wie in allen modernen Bädern ist auch die Infrastruktur im Joggeli zu weiten Teilen vollautomatisiert, der prüfende Blick auf die Armaturen ist dennoch unverzichtbar. So werde an schönen Tagen zum Beispiel mehr Chlor gebunden als an bedeckten, der Regler müsse dann entsprechend angepasst werden, erklärt De Carolis und stülpt sich eine Atemmaske über.

10:35 Uhr: Eines der Chlorfässer ist leer und muss gewechselt werden. Vorsicht ist angesagt, Handschuhe, Atemmaske, sichere Handgriffe dringend empfohlen. Auf den Fässern prangen Warnschilder: tote Fische, verätzte Hände und Oberflächen, leicht entflammbar. Die Zufuhr von Chemikalien in die Schwimmbecken wird akribisch gemessen, Unregelmässigkeiten landen sofort als Warnhinweis auf De Carolis‘ Handy.

«Unsere Chlor-Werte entsprechen den Normen, nicht zu viel, nicht zu wenig», sagt De Carolis. Und ausserdem: «In den USA haben sie mehr Chlor im Trinkwasser als wir hier im Badewasser.» 

Zusätzlich zu den automatischen Messungen werden dreimal täglich Wasserproben von Hand genommen. (Bild: Daniel Faulhaber)

Diese werden hinter den Kulissen sorgfältig überprüft… (Bild: Daniel Faulhaber)

… und dann in eine entsprechende Tabelle eingetragen. Abnormalitäten werden so innerhalb kürzester Zeit bemerkt. (Bild: Daniel Faulhaber)

11:05 Uhr: Wieder oben angelangt, ist das Team mittlerweile vollzählig. Sieben Badmeisterinnen und Badmeister sind an schönen Tagen mindestens zugegen – und an diesem Tag zeigt das Thermometer bereits um diese Zeit 31 Grad Celsius. Ein schöner Tag.

Bei Schichtbeginn heisst es für die Mitarbeitenden umziehen und ab auf den Turnus, bestehend aus verschiedenen Stationen: Familienbad, Sportbad, Sprungturm, Rutschbahn oben und Rutschbahnumgang. Mindestens einer patrouilliert. Das Team steht via Walkie-Talkies in ständigem Kontakt.




Blick aufs Familienbecken, eine der entspannteren Stationen auf dem Turnus. (Bild: Alexander Preobrajenski)

*Kchht «Jemand zur Notfallstation bitte, Bienenstich», *Knack. *Kchht, «Daniel, wann geht der Sprungturm auf?» *Knack.  

De Carolis unterbricht jeweils den Redefluss, wenn das Gerät zu rauschen beginnt und hört hin. Meist ist dann irgendwo etwas passiert, geplaudert wird also kaum. «Wenns einen Notfall gibt, muss die Leitung offen sein», erklärt De Carolis. Darum kommuniziere die Mannschaft so viel wie gerade nötig. Schwere Notfälle sind selten, aber sie kommen vor. Im Hitzesommer 2015 verstarb ein 50-jähriger Mann im Joggeli.

Sprüche klopfen, die Sonne geniessen? Von wegen

De Carolis war damals als Erster zur Stelle und barg den Mann aus dem Wasser. Das ganze Team sei in so einer Situation in seiner  Professionalität als Hilfeleister und Rettungsdienst gefordert, dem Schichtleiter kommt dennoch die Hauptverantwortung zu. Keine einfache Aufgabe im Extremfall, «aber das gehört nun mal zu meinem Job», sagt De Carolis und hält sich das Walkie-Talkie näher ans Ohr:

*Kchht «Brauche Hilfe an der Kasse, bitte», *Knack. «Bin unterwegs». Weg ist De Carolis.

So richtig will niemand über den Vorfall vom vergangenen Jahr reden, ein toter Badegast ist das Horrorszenario jedes Freibads. In der Umkleidekabine der Badmeister hängt ein Notfallplan, die Rettungsabläufe werden immer wieder durchexerziert. Und trotzdem lassen sich Zwischenfälle niemals ausschliessen. «Am unberechenbarsten sind die Geräuschlosen» sagt einer der Badmeister, Turnusstation Familienbecken.

An den Schulungen gingen die Übungskandidaten mit viel Geschrei und wilden Bewegungen unter. «Dann rennt man hin, zack, Rettung.» Aber es gebe eben auch solche, von denen man nichts höre, nichts Auffälliges sehe. Und trotzdem gehen sie unter. «Da muss man brutal wachsam sein.»

Badmeister Mathias (der Protokollant verkehrt mit den Badmeistern per Du) sieht ganz genau hin, damit ihm so etwas nicht passiert.

Gefahrendetektor ein

14:00 Uhr: Die Sonne knallt senkrecht auf das Wasser im Sportbad. Man entwickle so eine Sehgewohnheit, sagt er und fährt mit dem Arm einmal quer durchs Bild. «Schweifblick». Dann gilt es, potenzielle Gefahren im Auge zu behalten. Schwimmflügel bedeuten erhöhte Gefahr. Wilde Bewegungen bedeuten erhöhte Gefahr. Laute Stimmen könnten erhöhte Gefahr bedeuten.




Unter der Oberfläche brodelt die Anarchie. Die Badmeister wissen Bescheid und markieren Präsenz. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Mathias hat seine Schaustrategie perfektioniert. Gezieltes Fixieren der Hotspots mit seismografischer Alarmbereitschaft im erweiterten Blickfeld. Er steht auf. «Bewegen ist auch wichtig, tote Winkel muss man ausmerzen.»

Der Hauptjob der Badmeister, da sind sich alle einig: Präsenz markieren. Sonst hätten sie hier innerhalb von zwei Stunden die blanke Anarchie: Streckenschwimmer, die Querspringern eine scheuern. Turmakrobaten, die ihre «Bicicletta» auf dem Beckenrand vollendeten. Schlimme Hygienezustände und Raufereien. «Die Leute wollen sich hier austoben und das ist okay», sagt Stephan, seit 20 Jahren dabei. «Aber Regeln braucht es nun mal, damit alle auf ihre Kosten kommen.» Gute alte Badiidylle, alles nur geheuchelt?

Halbstarkenprobleme und Buschfeuer

Ein Ort, an dem es regelmässig «klöpft», sei das Becken bei der Rutschbahn. Auf den Betonpfeilern im Wasser komme es zu Hahnenkämpfen unter Jugendlichen. Kulturprobleme? «Halbstarkenprobleme». Meistens reicht eine Ansage und die Sache sei erledigt. Wenn nicht, stellt man die Hitzköpfe zwecks Abkühlung vor die Türe, «dann können sie dort weitermachen, wenn ihnen danach ist», feixt Stephan.

Letzthin hätten vor der Badi ein paar Jungs aus Leichtsinn einen Busch angezündet, erinnert sich De Carolis, der vom Kurzeinsatz an der Kasse zurück ist. Er habe ihnen die Leviten gelesen und – er zeigt mit zwei gespreizten Fingern auf seine Augen, dann auf die imaginierten Kinderaugen – klar gemacht: Ich hab euch im Blick. Seither gabs nie mehr Probleme mit denen, sie haben sich abends sogar noch entschuldigt.

Plötzlich bringt eine Hiobsbotschaft die stoische Ruhe der rot Gewandeten ins Wanken. *Kchht «Butterfly» *Knack. «Oh nein, nicht schon wieder», stöhnt die Truppe. Das Codewort «Butterfly» steht für Ungemach der unappetitlichen Art, das hier nicht näher beschrieben werden soll. Einer der Badmeister muss hin und die Sache bereinigen. Nicht zum ersten Mal, irgendjemand scheint die Badmeister gezielt provozieren zu wollen. De Carolis geht sich seufzend die Videoaufnahmen der letzten Stunde anschauen.




Anstehen zur Prime-Time. Zu Spitzenzeiten kamen früher über 6000 Menschen ins Joggeli. Diese Zahl hat heute Seltenheitswert. (Bild: Alexander Preobrajenski)

16:00 Uhr: Es seien bisher 2500 Gäste gekommen, vielleicht etwas mehr, schätzt der Schichtleiter. Das sei ganz okay, aber nicht überwältigend. Noch vor ein paar Jahren habe das Joggeli an Spitzentagen über 6000 Eintritte verzeichnet, aber die Badegewohnheiten der Leute hätten sich verändert. Erst die Buvetten, dann die Duschen. Seit am Rheinufer aufgerüstet werde, sei es ruhiger geworden im Gartenbad. Nur die treusten Gäste kommen kontinuierlich, die Längenschwimmer im Sportbad. Sie schätzen die frühen Öffnungszeiten unter der Woche (ab 6 Uhr) und vermissen ein Sportbad im Winter. «Schreiben Sie das ruhig», sagt ein offenbar passionierter Streckenschwimmer: «Im Winter wirds richtig eng im Rialto

Balanceakt am Beckenrand

De Carolis mag seinen Job, auch wenn dieser mit seiner Ausbildung zum Physiologen wenig gemein hat. Dabei kann die Arbeit ganz schön hart sein. Zwölf-Stunden-Schichten sind die Regel, nach Badeschluss um 20 Uhr ist er locker noch zweieinhalb Stunden da und sprengt den Rasen, versenkt Putzroboter in den Becken, sammelt Zigarettenstummel ein oder mäht den Rasen.




Ein Mann, ein Turm. De Carolis hält im Joggeli alle Fäden zusammen. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Badmeister sollen Präsenz markieren, ohne kleinlich zu werden. Sie müssen die Sicherheit der Badegäste gewährleisten, ohne Bedürfnisse einzuschränken. Sie müssen gegenüber Kindern, wie deren Eltern oder Grosseltern den richtigen Ton treffen, müssen diplomatisch bleiben, wenn Zoff droht, und durchgreifen, wenn Grenzen überschritten werden. Das klappt bestimmt nicht immer. Aber in den allermeisten Fällen klappt es gut, wie der Besuch im Joggeli zeigt.

19:30 Uhr: Zeit für eine erste Bilanz. Einige Bienenstiche, zwei Holzsplitter in Zehen, ein kurzes Gerangel, zwei leichte Prellungen am Sprungturm, ein Schmetterling. Diese Bilanz kann sich sehen lassen, so Mitte Juli. Die Leitung wird ausnahmsweise zweckentfremdet:

*Kchht «Gute Nachrichten vom Familienbecken. Das Bad leert sich langsam» *Knack.

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