Zwei Jahre «Kurzzeithaft»? Baselland steckt Häftling monatelang ins letzte Loch

Der Kanton Baselland sperrt einen Mann aus Algerien fast zwei Jahre ins Gefängnis, das nur für Kurzstrafen oder die Dauer einer U-Haft ausgelegt ist. Die Haftbedingungen verstossen in mehrfacher Hinsicht gegen Bundesrecht.

Im Gefängnis Arlesheim verbrachte der Mann den Hauptteil seiner Haft. Die Einfahrt wirkt neu, innen ist es völlig veraltet.

Zwei Wochen vor Verhandlungsbeginn hörte R.R. auf zu essen, vier Tage später schnitt er sich an einem Arm die Adern auf. Der gebürtige Algerier war gezeichnet von einem Jahr in Ausschaffungshaft und einem Leben, das aus den Fugen geraten war.

Als der 42-Jährige am 6. Januar 2017 vor dem Strafgericht in Liestal erscheinen musste, konnte er sich kaum auf den Füssen halten. Verhandelt wurden an jenem Morgen Taten, die bereits mehrere Jahre zurücklagen: unerlaubtes Übernachten in einer Asylunterkunft, Aufenthalt ohne gültige Papiere, das Anzünden eines T-Shirts in einer Gefängniszelle.

Zugeschaltet war auch R.R.s Schweizer Ex-Frau. Er hatte sie in seiner Heimat in Algerien geheiratet und war ihr in die Schweiz gefolgt. Die Ehe zerbrach nach einigen Jahren, worauf R.R. seine Aufenthaltsbewilligung verlor.

Am Ende des Vormittags vor dem Strafgericht Baselland wurde R.R. in fünf Punkten schuldig gesprochen: Hausfriedensbruch, Brandstiftung, Widerhandlung gegen das Ausländergesetz, Missbrauch einer Fernmeldeanlage und Ungehorsam gegen amtliche Verfügung. Das Gericht verurteilte ihn zu zwei Jahren Freiheitsstrafe.

22 Monate – so lange befindet sich R.R. nun bereits im Gefängnis. Doch eine eigentliche Strafvollzugsanstalt, wie gesetzlich vorgeschrieben, hat er bis heute keine gesehen. Seit knapp zwei Jahren verbüsst er seine Strafe in Bezirksgefängnissen des Kantons Baselland. Die Haftbedingungen verstossen in mehrfacher Hinsicht gegen die bundesrechtlichen Vorgaben über den Strafvollzug.

14 Monate verbrachte R.R. im Gefängnis Arlesheim. Es erfüllt noch nicht mal die Standars der Untersuchungshaft.

Sämtliche Gefängnisse im Kanton sind für Untersuchungshaft sowie Kurzstrafen vorgesehen und nicht auf langfristige Aufenthalte ausgelegt. Das völlig veraltete Gefängnis Arlesheim, wo R.R. während mehr als 14 Monaten inhaftiert war, erfüllt selbst die Standards für Untersuchungshaft nicht mehr, wie der Kanton selber Anfang dieses Jahres mitteilte. Die Zellen sind zu klein, es fehlt an Tageslicht, Aufenthaltsräumen und ausreichend frischer Luft.

Vor wenigen Wochen wurde R.R. in das neuere Regionalgefängnis Muttenz transferiert. Auch dieses ist nur für kurze Aufenthalte vorgesehen, so steht es in der kantonalen Verordnung. Auf den Transfer in eine Strafvollzugsanstalt wartet der psychisch stark angeschlagene Algerier weiterhin vergeblich. «Die Strafvollzugsbehörde macht mit mir, was sie will», sagt er. Als Folge der Haftbedingungen klagt er über psychosomatische Schmerzen, Atemprobleme und Panikattacken.

Behörden missachten Vorschriften des Bundes

Der Bund setzt den Kantonen klare Vorschriften über Haftbedingungen im Strafvollzug. Im Fall von R.R. setzen sich die Behörden im Kanton Baselland über so gut wie all diese Vorschriften hinweg.

Drei Beispiele: Laut Strafgesetzbuch müssen die Gefängnisse zusammen mit den Gefangenen einen individuellen Vollzugsplan erstellen. Sie müssen ihnen eine Gelegenheit zur Weiterbildung geben und eine den jeweiligen Fähigkeiten angemessene Arbeit ermöglichen. Alle drei Vorgaben haben die Behörden im Fall von R.R. bis heute nicht erfüllt. Der Gefangene sah nie einen Vollzugsplan, hat keinerlei Möglichkeit für Weiterbildungen und kaum Beschäftigungsmöglichkeiten.

Der Rechtsanwalt Markus Husmann kümmert sich seit wenigen Monaten im Auftrag der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch um den Fall von R.R. Er sagt: «Aus unserer Sicht steht eine Verletzung der vollzugsrechtlichen Bestimmungen sowie der Grund- und Menschenrechte im Raum.»

Der Kanton verletze nicht nur die Vorschriften über die Haftbedingungen, er hätte den Gefangenen richtigerweise auch bereits vor mehreren Monaten entlassen müssen. «Hat ein Verurteilter zwei Drittel seiner Strafe verbüsst, ist er grundsätzlich bedingt zu entlassen. So steht es im Strafgesetzbuch», sagt Husmann.

In mehreren Gesuchen haben humanrights.ch und Husmann die Verlegung oder eine sofortige Entlassung gefordert. Ohne Erfolg: Das Amt für Justizvollzug Baselland hat sämtliche Anträge abgelehnt. R.R. bleibt in kantonaler Haft.

Weil R.R. keine Aufenthaltsbewilligung hat, würde er bei seiner Freilassung sofort wieder straffällig.

Beim Kanton Baselland ist man sich der rechtswidrigen Situation offenbar nicht bewusst. Gerhard Mann, Leiter Justizvollzug, teilt auf Anfrage mit, R.R. selber habe durch wechselhafte Kooperationsbereitschaft eine Verlegung verhindert. Damit folgt er derselben Argumentation, mit der seine Behörde die bisherigen Gesuche um eine Verlegung abgelehnt hatte.

Die Rechtfertigung der Behörde lautet in verkürzter Fassung so: Die Strafvollzugsanstalten Bostadel (ZG) und Lenzburg (AG) waren nur zu einer Aufnahme von R.R. in der Sicherheitsabteilung bereit. Aufgrund der äusserst langen Wartefristen sei eine Überstellung nicht möglich gewesen. Im April 2017 habe R.R. einer freiwilligen Rückkehr nach Algerien zugestimmt, weshalb der Kanton den Gefangenen wieder von den Wartelisten in Bostadel und Lenzburg abmeldete. Allerdings habe R.R. seine Einwilligung zu einer Ausreise wenig später wieder rückgängig gemacht. Wegen der langen Wartefristen wäre eine erneute Anmeldung in einer Strafvollzugsanstalt zu diesem Zeitpunkt jedoch aussichtslos gewesen, sagt Mann.

Vollzugsanstalten sehen Problem nicht

Auch eine vorzeitige Freilassung sei nicht möglich gewesen, weil der Gefangene aufgrund seiner fehlenden Aufenthaltsbewilligung ab dem Moment der Freilassung sofort wieder straffällig geworden wäre. «Wie Sie sehen, ist Herr R. für seine Lage leider grösstenteils selber verantwortlich.»

Die Anschuldigung, der Kanton verstosse gegen Grund- und Menschenrechte, weist Mann in aller Form zurück. Er betont: «Es handelt sich hierbei hinsichtlich der langen Dauer im Regionalgefängnis um einen Einzelfall.»

Der Darstellung des Kantons widerspricht nicht nur der Gefangene selber, auch die Direktionen der Strafvollzugsanstalten Bostadel und Lenzburg tun das. Auf Anfrage teilen die Anstalten mit, die Wartefristen für die Sicherheitsabteilung seien deutlich kürzer als für den Normalvollzug.

«Die Wartezeiten betragen unter Umständen allenfalls einige wenige Wochen», sagt Marcel Ruf, Leiter der Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Es sei äusserst unwahrscheinlich, dass ein Gefangener während mehreren Monaten auf eine Platzierung in der Sicherheitsabteilung warten müsse.

Auch R.R. widerspricht der Darstellung des Kantons Baselland vehement: «Ich habe zu keinem Zeitpunkt einer freiwilligen Reise zugestimmt», sagt er.

«Ich hoffe, dass in diesem Kanton in Zukunft kein weiterer Gefangener diese Behandlung erleiden muss», sagt R.R.

Schriftliche Belege kann Gerhard Mann für die Darstellung des Kantons keine vorlegen. Ein Schreiben der Gefängnisse betreffend der Wartezeiten sei nicht vorhanden, einzig ein Brief von R.R. Darin erklärt sich der Gefangene unter bestimmten finanziellen Bedingungen zwar zu einer Rückreise bereit. Um eine finale Einverständniserklärung zu einer freiwilligen Rückreise handelt es sich dabei allerdings nicht. Zumal der Kanton nicht bereit war, auf die Forderungen einzutreten.

«Für mich wirken die Argumente der Vollzugsbehörde vorgeschoben», sagt Rechtsanwalt Markus Husmann. «Der Kanton hätte meinen Mandanten so rasch wie möglich in eine Strafvollzugsanstalt verlegen müssen.» Nach Vollzug von zwei Dritteln der Strafe hätte er entlassen werden müssen. Möglicherweise hätte dann das Migrationsamt beim Gericht Ausschaffungshaft beantragt, denn diese droht ihm aufgrund seiner ungültigen Aufenthaltsbewilligung nach Ende der strafrechtlichen Haftstrafe.

Weshalb der Kanton sich so beharrlich gegen eine Überweisung in eine Strafvollzugsanstalt oder eine Entlassung aus der Strafhaft stemme, sei für ihn nicht nachvollziehbar, sagt Husmann. Gemeinsam mit der Organisation Human Rights denkt er nun über weitere Schritte nach: über ein Staatshaftungsverfahren etwa, bei dem der Kanton unter anderem auf Schadensersatz und Genugtuung verklagt werden kann.

An der Situation von R.R. wird all das kaum etwas ändern. «Ich hoffe, dass in diesem Kanton in Zukunft kein weiterer Gefangener diese Behandlung erleiden muss», sagt R.R. Für sich selber hat er die Hoffnung aufgegeben. Seine Haftstrafe dauert noch bis zum 6. Oktober 2018. Danach drohen ihm bis zu sechs weitere Monate Haft im Basler Ausschaffungsgefängnis Bässlergut.

Dossier Hinter Gittern

Kaum ein Kanton verhängt so viele Haftstrafen wie Basel-Stadt. Und nicht nur Verbrecher sitzen im Gefängnis.

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