Es gibt Gesprächsbedarf. In kaum einem anderen Kanton verhängen die Justizbehörden derart viele unbedingte Freiheitsstrafen wie in Basel-Stadt. Das zeigt ein Vergleich mit ausgewählten Kantonen.
Warum das so ist, bleibt zunächst unklar. Die Kriminalstatistik jedenfalls gibt keine Hinweise auf eine Zunahme von Verbrechen, die entsprechend gesühnt werden. 2011 setzte der Basler Knastboom ein und hält seither ungebrochen an. Obwohl die Zahl der von der Polizei registrierten Delikte heute nicht grösser ist als 2011.
2017 wurde in Basel jeder siebte Verurteilte ins Gefängnis geschickt. Das ist beinahe doppelt so viel wie im Schweizer Durchschnitt. Selbst der notorisch haftgläubige Kanton Genf hat mittlerweile eine tiefere Inhaftierungsrate als Basel-Stadt. Aber was sind die Ursachen für diese Entwicklung?
Wer mit Strafverteidigern spricht, erhält schnell einen Verantwortlichen geliefert: das Basler Strafgericht, das seit einigen Jahren Härte demonstrieren wolle und deshalb Verbrechen strenger ahnde. Diese Kursänderung soll auf den ehemaligen Strafgerichtspräsidenten Jeremy Stephenson zurückgehen, der mittlerweile für die LDP im Grossen Rat sitzt.
Stephenson hat 2009 in einem Interview tatsächlich eine Verschärfung angekündigt. Damals bewegten schwere Gewaltdelikte die Basler Öffentlichkeit. Stephenson erklärte in der «bz Basel», seine Richter seien zum Schluss gekommen, Gewalttäter länger hinter Gitter zu bringen. Die Strafen seien nach einer jahrelangen Tendenz zur Milde «eindeutig zu tief», der Strafrahmen werde nicht ausgeschöpft.
Mit der heutigen Situation habe diese Entscheidung aber nichts zu tun, erklärt Stephenson der TagesWoche: «Es ging uns um relativ schwere Gewalt, da wollten wir keine Strafe unter zwei Jahren sehen. Das war damals die Botschaft und das haben wir auch durchgezogen.»
Gilt die Doktrin bis heute? Stephensons Nachfolgerin Felicitas Lenzinger (SP) reagiert genervt auf eine Anfrage: «Ich höre diese Theorie immer wieder, aber sie stimmt nicht.» Sie verweist auf die Urteilsstatistik des Strafgerichts. Die Zahlen zeigen: Nicht die Gerichte sind für den Haftboom verantwortlich. 2017 wurden in Basel 655 Haftstrafen ausgesprochen, aber nur 125 vom Strafgericht.
«Geldstrafen häufig ohne Wirkung»
Für den Rest ist vornehmlich die Staatsanwaltschaft verantwortlich. Diese verurteilt an jedem einzelnen Tag des Jahres 75 Personen. Knapp 28’000 Strafbefehle verschickte die Behörde alleine letztes Jahr. Dabei ist die Staatsanwaltschaft auch berechtigt, Leute ins Gefängnis zu schicken – für bis zu sechs Monate. Solch kurze Freiheitsstrafen machen über zwei Drittel der Basler Gefängnisstrafen aus.
Die Staatsanwaltschaft versucht, den Trend zu erklären. Von 2011 bis 2013 hätten der «arabische Frühling», insbesondere die Umstürze in Nordafrika zu einer Zunahme der Kriminalität geführt. «Zahlreiche Männer aus dem arabischen Raum haben teilweise mehrfach delinquiert», sagt Behördensprecher Peter Gill. Diebstähle aller Art hätten massiv zugenommen. Nach 2013 ging diese Kriminalität deutlich zurück – nicht aber die verhängten Haftstrafen.
Die Staatsanwaltschaft findet eine neue Erklärung dafür: Zwar müssten gemäss geltendem Recht grundsätzlich Geldstrafen ausgesprochen werden. Allerdings seien «Geldstrafen häufig ohne Wirkung geblieben», sagt Gill. Die Verurteilten seien häufig gar nicht in der Lage gewesen, diese zu bezahlen. Bei «ungünstiger Legalprognose» oder in Fällen, wo eine Geldstrafe nicht bezahlt werden könne, dürfe die Staatsanwaltschaft deshalb Haftstrafen aussprechen. «Von dieser Ausnahme haben alle Staatsanwaltschaften Gebrauch gemacht», sagt Gill.
Die Frage bleibt, ob in Basel nicht die Ausnahme zur Regel gemacht wurde. Die Zahlen unterscheiden sich jedenfalls enorm von denen anderer Kantone. Auch dafür hat Gill eine Erklärung parat: «Basel-Stadt ragt zusammen mit den Kantonen Genf und Waadt aufgrund der Westgrenze aus dem schweizerischen Mittel heraus.» Allerdings teilt etwa der Kanton Baselland eine weitaus längere Grenze mit Frankreich als Basel-Stadt – und schickt nur einen Bruchteil der Täter ins Gefängnis.
«Fundamentales Problem»
Marc Thommen ist Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich und ausgewiesener Experte für die Strafbefehlspraxis in der Schweiz. Gemeinsam mit seinem Team wertet er derzeit Hunderte Strafbefehle aus St. Gallen, Bern und Zürich aus. Thommen beobachtet das Treiben der Staatsanwaltschaften kritisch: «Das ist schon sehr speziell im internationalen Vergleich, dass Staatsanwaltschaften Haftstrafen ausfällen können.»
Ob die Praxis vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben würde, ist noch offen. Bislang haben die Richter nur Strafbefehle mit Geldstrafen als zulässig erklärt. «Es wäre spannend zu sehen, was der Gerichtshof zu Haftstrafen sagt», meint Thommen.
Sein Problem mit den Strafbefehlen ist nicht grundsätzlicher Natur, etwa bei Strassenverkehrsdelikten sei nichts dagegen einzuwenden. Bei Haftstrafen ändert sich seine Einschätzung: «Zwar besteht die Möglichkeit zur Einsprache, aber das ist mit Kosten verbunden, zudem ist die Frist mit zehn Tagen viel zu kurz.» Das würde kaum reichen, um das Urteil zu verstehen, gerade für fremdsprachige Verurteilte. Und dann müsse man sich in der kurzen Zeit noch einen Anwalt beschaffen.
Als «extrem problematisch» erachtet Thommen, dass Staatsanwälte Menschen ins Gefängnis schicken können alleine aufgrund der Aktenlage, ohne sie jemals angehört zu haben: «Es ist ein fundamentales Problem, das rechtliche Gehör zu verwehren.»
Stark steigende Kosten
Damit hat auch der als Hardliner geltende frühere Strafrichter Jeremy Stephenson Mühe: «Mir war es sehr wichtig, mit jedem Angeklagten sprechen zu können, seine subjektive Situation anzuschauen, bevor ich ein Urteil fällte.» Bei Parkbussen sei ein direkter Kontakt nicht nötig, bei Delikten, die eine Haftstrafe nach sich ziehen, sei das aber anders. «Es wäre wichtig, dass mehr Fälle vor Gericht kommen, die jetzt per Strafbefehl erledigt werden», sagt Stephenson.
Nicht zuletzt, weil kurze Freiheitsstrafen sehr umstritten sind. Sie reissen den Verurteilten aus dem sozialen Umfeld, bringen den Verlust des Arbeitsplatzes mit sich. Eine Resozialisierung ist in der kurzen Haftzeit indes nicht möglich. Ob kurze Haftstrafen wirklich kriminalitätsmindernd sind, dafür finden sich keine Belege.
Gleichwohl liegen sie im Trend. Anfang Jahr sind die Hürden nochmals gesenkt worden. Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) hat ein neues Sanktionenrecht in Kraft gesetzt, das Staatsanwälten zusätzlichen Spielraum verschafft. Die erklärte Hoffnung dahinter: eine abschreckende Wirkung.
Zumindest in einem Bereich sind kurze Freiheitsstrafen unbestreitbar wirksam: Sie kosten den Steuerzahler viel Geld. Die Kapazitäten im Stadtkanton reichen seit Jahren nicht aus, um die eigenen Häftlinge unterzubringen. Deshalb hat Basel-Stadt das Gefängnis in Sissach zugemietet und baut am Standort Bässlergut derzeit eine neue Haftanstalt mit 78 Plätzen. Baukosten: über 40 Millionen Franken. Die Vollzugskosten dürften damit weiter steigen. Sie haben sich seit 2010 mehr als verdoppelt und betrugen letztes Jahr 51 Millionen Franken.