Einen Internetanschluss und haufenweise Post-it-Zettel: Das braucht, wer mit zwei jungen Menschen kommunizieren will, die kein Wort Deutsch verstehen. So wie es Noëmi und Thomas Nichele getan haben, als sie im Herbst 2015 Sara und Lava bei sich aufnahmen. Die beiden Mädchen sind als sogenannte UMA, also unbegleitete minderjährige Asylsuchende, in die Schweiz gekommen. Sara aus Eritrea und Lava aus Syrien.
Inzwischen sind die jungen Frauen volljährig. Sara ist mit einer Freundin zusammengezogen, Lava wohnt noch bei den Nicheles in Reinach. Beide absolvieren aktuell eine Vorlehre und treten im August eine Lehrstelle an, Sara als Altenpflegerin und Lava als Coiffeuse. Klingt ganz nach einer Erfolgsgeschichte, aber wie sah der Weg dorthin aus?
Am Anfang die Sprache
«Unsere erste grosse Aufgabe war es, das Vertrauen der Mädchen zu gewinnen», sagt Thomas. «Das ging Hand in Hand mit dem Lernen der Sprache.» Weil weder Sara noch Lava Englisch oder Französisch konnten, wurde von Anfang an ausschliesslich Deutsch gesprochen.
Auch die Mädchen untereinander konnten sich nur auf Deutsch verständigen. Ein grosser Vorteil, davon ist Thomas heute überzeugt. «So konnten sie sich nicht auf ihre Insel zurückziehen, sondern mussten sich jeden Tag mit uns und mit unserer Sprache auseinandersetzen.»
Wo fängt man denn da an, wenn man keinen gemeinsamen Wortschatz teilt? «Wir haben sehr viel im Internet nachgeschlagen. Wenn Sara zum Beispiel wissen wollte, was ‹Peterli› ist, habe ich ihr ein Bild davon gezeigt», erzählt Noëmi.
Später haben die Kinder der Nicheles dann im ganzen Haus die Gegenstände mit Post-its beschriftet: Das ist ein Kühlschrank, das ein Spiegel, das die Treppe. Die Gemeinde Reinach hat zudem eine eigene Integrationsklasse ins Leben gerufen, wo bis zu 20 junge Flüchtlinge zusammen die Sprache lernten. «Heute verstehen und sprechen sie beide sehr gut Deutsch.»
«Wir haben ihnen erklärt, dass sie sich jetzt hier in der Schweiz auch anpassen müssen.»
Den Nicheles war es wichtig, dass ihre beiden Mädchen nach der Integrationsklasse auch für ein halbes Jahr eine Regelklasse besuchten. «Vom Stoff waren sie überfordert. Uns ging es aber darum, dass sie in Kontakt mit gleichaltrigen Schweizern kommen und den ‹normalen› Schulalltag kennenlernen», sagt Noëmi.
Thomas betont, wie wichtig es noch immer ist, von Sara und Lava eine aktive Integration zu fordern. «Wir haben ihnen erklärt, dass sie sich jetzt hier in der Schweiz auch anpassen müssen. Weil sie sonst im Arbeitsleben einfach keine Chance haben.»
Das sei mitunter ein schwieriger Prozess gewesen. So wurden die Mädchen als Asylsuchende von der Sozialhilfe unterstützt und hätten manchmal gerne mehr Geld gehabt. Die Nicheles erklärten ihnen, dass für dieses Geld andere Menschen gearbeitet haben. Dass von ihnen dafür auch eine Gegenleistung erwartet werde, etwa indem sie sich in der Schule oder bei der Lehrstellensuche anstrengen.
Mit Engagement und Kompromissen
Weil beide keine definitive Aufenthaltsbewilligung erhielten und noch immer einen F-Ausweis («vorläufig aufgenommen») besitzen, war die Suche nach einer Lehrstelle nicht leicht. «Wir haben sie dabei kräftig unterstützt. Ich bin mit Sara bei verschiedenen Spitälern und Pflegeeinrichtungen vorbeigegangen und habe den Verantwortlichen dort gesagt, dass wir Sara weiterhin aktiv unterstützen, etwa was die Schule betrifft», sagt Noëmi. Das sei nötig gewesen, weil manche Unternehmen den Aufwand scheuen, jemanden mit einem F-Ausweis anzustellen.
Als Thomas mit Lava zusammen auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz die Coiffeursalons abklapperte, winkten viele sofort ab. Lava trug damals noch ein Kopftuch. Heute hat sie es abgelegt. «Es war ihr Entscheid, wir haben sie nicht dazu gedrängt», sagt Noëmi.
Die Kopftuch-Geschichte zeugt für sie von der persönlichen Entwicklung, die Lava in den letzten zweieinhalb Jahren durchgemacht hat. «Am Anfang war sie sehr zurückhaltend, fast eingeschüchtert, was nach einer solchen Flucht ja auch nicht erstaunt. Heute ist Lava eine selbstbewusste junge Frau, die ganz genau weiss, was sie will.»
«Sara und Lava erzählen beide von sich aus wenig. Wir können Gesprächsangebote bieten, mehr nicht»
Als wir die Nicheles im Herbst 2015 trafen, lebte Sara bereits seit ein paar Monaten bei ihnen und Lavas Ankunft stand kurz bevor. Damals wussten Noëmi und Thomas noch kaum etwas über die Vergangenheit der beiden Mädchen, auch nicht über die Umstände ihrer Flucht. Wurden diese Geschichten je erzählt? Waren sie Gesprächsthema am Familientisch?
«Sara und Lava erzählen beide von sich aus wenig. Wir wollen sie auch nicht drängen. Wir können Gesprächsangebote bieten, mehr nicht», sagt Thomas. Er habe das Gefühl, die beiden jungen Frauen würden ihre Vergangenheit dadurch bewältigen, dass sie hier ganz in den Alltag eintauchen.
Und doch erreichen manchmal Nachrichten aus Saras und Lavas altem Leben die vergleichsweise heile Welt in Reinach. «Saras Bruder wird in Israel in einem Flüchtlingscamp festgehalten. Wir haben über einen Anwalt und die Botschaft alles versucht, um ihn freizukriegen. Boten an, ihn bei uns aufzunehmen. Es hat alles nichts genützt», sagt Thomas.
Die beiden jungen Frauen haben Verwandte in der Schweiz, das war damals auch der Grund, weshalb sie hierher gekommen sind. Im Kontakt mit diesen pflegen Sara und Lava, neben allen Anstrengungen sich zu integrieren, auch die Kultur aus ihrer Heimat.
Herausfordernd: Schweizer Freunde finden
Für Sara sei auch der Glaube ein wichtiger Anker in der Fremde, erzählt Thomas. «Sie besucht regelmässig Veranstaltungen der eritreischen Kirche in Kleinhüningen, Feste, Hochzeiten und Essen.» Er sieht solche Aktivitäten durchaus auch kritisch. Immerhin könne es die Integration erschweren, wenn sich Asylsuchende zu einseitig in Gruppen von Landsleuten bewegen. «Sara und Lava haben bis heute kaum Schweizer Freunde gefunden», sagt er. Er war sich auch nicht immer sicher, ob sie dies wirklich wollen.
Noëmi und Thomas Nichele haben selbst fünf Kinder, die sich ebenfalls mit grossem Engagement für Sara und Lava eingesetzt haben. «Zum Beispiel mit Mathenachhilfe oder dadurch, dass sie ihre eigenen Zimmer für die beiden Mädchen freigegeben haben», erzählt Noëmi. Dank dem regen Kontakt mit den Kindern der Nicheles und deren Freunden sind Sara und Lava zu einem Schweizer Freundes- und Bekanntenkreis gekommen.
Letzte Frage: Würdet ihr es wieder tun?
«Auf jeden Fall. Die letzten zweieinhalb Jahre waren mit allen Hochs und Tiefs eine wahnsinnig bereichernde Erfahrung. Unsere Familie ist gewachsen, wir haben zwei neue Töchter hinzugewonnen. Gibt es etwas Schöneres?», sagt Noëmi. «Es war wirklich schön zu sehen, wie auch unser Umfeld die beiden Mädchen aufgenommen hat», sagt Thomas.
Doch nicht alle haben positiv reagiert auf das Engagement der Nicheles. Vor allem Thomas wurde von manchen als «naiver Gutmensch» belächelt. «So naiv war ich wohl doch nicht», sagt er heute lachend.