78 minderjährige Asylsuchende wohnen derzeit im Kanton Baselland. Zwei von ihnen leben in Reinach bei Familie Nichele. Ein Einblick in eine aussergewöhnliche Familie und ihren Kampf gegen Vorurteile.
Die Antwort kommt sofort: «Nein, wir machen nichts Besonderes.» Noëmi (53) und Thomas (55) Nichele sitzen in ihrem Esszimmer, zwischen ihnen sitzt Sara. Kerzen und ein Laptop stehen auf dem grossen Holztisch, das Haus macht einen warmen und sehr aufgeräumten Eindruck.
Sara ist 16 Jahre alt und lebt seit drei Monaten bei Familie Nichele. Nach «einem Jahr auf Adrenalin», wie es Noëmi Nichele ausdrückt, macht sie einen ruhigen, zufriedenen Eindruck. Sara spricht kaum Deutsch, kein Englisch. Sie kommt aus Eritrea. Sie war auf der Flucht. Alleine.
Nicheles geben Sara (16) ein neues Zuhause. (Bild: Benjamin Schmid)
«Ein unschönes Wort»
«Nein, wir machen nichts Besonderes. Was können wir denn dafür, dass wir auf der glücklicheren Seite auf die Welt gekommen sind?», fragt Noëmi Nichele, ohne eine Antwort zu erwarten. Sie arbeitet im Teilzeit-Pensum als Kindergärtnerin und nimmt mit ihrem Mann bereits seit über acht Jahren Pflegekinder bei sich auf. Sie sind eine qualifizierte Fachpflegefamilie.
Thomas Nichele arbeitet im eigenen Gartenbau-Unternehmen. Nun haben sie sich entschieden, UMA aufzunehmen, unbegleitete minderjährige Asylsuchende, «ein unschönes Wort», findet Noëmi. Es ist der offizielle Fachausdruck für diese Kinder.
Damit gehört die Reinacher Familie zu einer der aktuell elf Familien im Baselbiet, die jungen Flüchtlingen eine neue Heimat bieten. Gestern Donnerstag holte Thomas Nichele ein zweites Kind ab, zugeteilt von der Koordinationsstelle für Asylbewerber in Liestal. Lava, 15, aus Syrien. Mehr wussten die Nicheles im Vorfeld nicht. Lavas Zimmer aber, das ist bereit.
Das ganz normale Bett eines Teenagers. (Bild: Benjamin Schmid)
Der einzige Unterschied zur Aufnahme von Schweizer Pflegekindern sei die Sprache. Oft bleiben zumindest am Anfang nur Hände und Füsse, um sich verständigen zu können. Die Lösung für alle anderen Probleme sei stets: «Öffne dein Herz», sagt Thomas Nichele. Und: «Mit Worten deckt man Dinge oft nur zu.»
Während er zumindest einen gewissen Respekt vor der neuen Aufgabe hat und sich die Frage stellt, ob ihre Betreuung genüge, kennt seine Frau keine Ängste: «Von offenen Fragen lassen wir uns nicht leiten, unser Antrieb ist die Menschlichkeit. Und wir könnten noch viel mehr tun.»
So überzeugt das Reinacher Ehepaar von seinem Engagement ist, so schwer fällt es den beiden, die Reaktionen von aussen zurückzuweisen. «Nein, wir sind keine Gutmenschen», wehrt sich Thomas Nichele vehement, «auch ich habe meine Ecken und Kanten.»
Keine passende Schublade
Ist es die finanzielle Entschädigung, die der Kanton an Fachpflegefamilien ausrichtet? Ist es ein besonders christlicher Hintergrund? Gibt es sonst einen speziellen Auslöser? Die Nicheles verneinen. «Wir wollen nicht auf einen bestimmten Grund reduziert werden», sagt Noëmi Nichele, «auch wir wären doch froh, wenn unsere Kinder von einer Familie aufgenommen würden, müssten sie aus ihrer Heimat flüchten.»
Die Grossfamilie Nichele aus Reinach mit Sara (rechts unten). Es fehlt: Lava (15).
Traum vom Kinderheim
Noëmi und Thomas Nichele haben selber fünf Kinder, das jüngste haben sie als Dreijährige aus Haiti adoptiert, heute ist das Mädchen elf Jahre alt. Am Samstag zügelt Lona, das zweitjüngste Kind, in eine eigene Wohnung in Basel, die restlichen drei Kinder sind zwischen 21 und 31 Jahre alt und längst ausgeflogen.
Platz ist also vorhanden, trotzdem wollen Nicheles ausbauen. «Ich träume von einem eigenen Kinderheim», sagt Noëmi Nichele. Ihr Mann erkennt seine eigene Vision zum Teil in einem aktuellen Lied von Konstantin Wecker («Ich habe einen Traum»). Aber er betont auch hier: «Ich will nicht auf dieses Lied reduziert werden. Es spricht einfach viel an, was mir entspricht.»
Viel weiss das Paar noch nicht über Saras Vergangenheit. Ein Jahr war sie auf der Flucht, zwischenzeitlich sass sie im Gefängnis. Was sie unterwegs erlebt hat, woher sie genau kommt, wieso sie geflüchtet ist, wer zu ihrer Familie gehört – all das bleibt im Dunkeln. «Wir tasten uns heran», sagt Thomas Nichele, «seit gestern weiss ich, dass sie zwei Tage auf einem überfüllten Boot unterwegs war.»
Sara hat es ihm mit den Händen erklärt, als sie gemeinsam Bilder von Flüchtlingsbooten angeschaut haben. Wird es ihr zu viel, blockt Sara ab. Wie beim Besuch eines Open-Air-Kinos, als sie noch vor Filmbeginn genug hatte und nach Hause wollte. Nicheles wissen bis heute nicht genau wieso. «Es hat ihr offenbar einfach nicht gefallen.»
Sowieso benötige Sara kein Unterhaltungsprogramm. «Das Wichtigste, was sie braucht, sind Ruhe, Zuneigung und Zeit», sind die beiden überzeugt. Zeit, um das Ganze zu verarbeiten. Zeit, um anzukommen. Zeit, sich zu erholen. Zeit, die die Nicheles Sara unbedingt geben wollen.
Als Asylsuchende wartet sie nun auf den Bescheid des Bundes, ob sie in der Schweiz Asyl erhält oder nicht. Diese Wochen der Ungewissheit nutzt sie dazu, Deutsch zu lernen. Anfänglich in den obligatorischen Kursen des Kantons, nun steht ein Aufnahmegespräch an für eine Integrations- und Berufswahl-Klasse im Basler Zentrum für Brückenangebote.
Sara besucht bereits einen Deutschkurs. (Bild: Benjamin Schmid)
Und was, wenn der Asyl-Entscheid negativ ausfällt? «Das wäre unglaublich hart», sagt Thomas Nichele. Gleichzeitig räumt er ein, dass er sich mit dieser Möglichkeit nicht gross beschäftige. «Es mag blauäugig sein, aber unsere Aufgabe ist es in erster Linie, Sara ankommen zu lassen.» Fällt der Entscheid positiv aus, «ist Sara so lange bei uns willkommen, wie sie will».