Zwei Tage war Basel Hauptstadt des Friedens

Vor 100 Jahren traf sich in Basel die Spitze des internationalen Sozialismus, um den Frieden zu retten. Für einmal war die rote Fahne auch für Bürgerliche kein rotes Tuch.

Deutliches Zeichen gegen den Krieg: Rund 10'000 Menschen beteiligten sich am 24.11.1912 an der Freidensdemo zum Münster. (Bild: Bernhard Wolf-Grumbach >> Staatsarchiv Basel-Stadt, NEG 1525)

Vor 100 Jahren traf sich in Basel die Spitze des internationalen Sozialismus, um den Frieden zu retten. Für einmal war die rote Fahne auch für Bürgerliche kein rotes Tuch.

Im Spätsommer 1912 hingen dunkle Wolken über Europa. Italien und das Osmanische Reich befanden sich im Krieg um Tripolis und um die libysche Cyrenaika, auf dem Balkan verschärften sich die Spannungen zusehends. Anfang Oktober entluden sich diese in einem weiteren blutigen Krieg. Die ­europäischen Sozialisten hatten die Entwicklung mit wachsender Sorge beobachtet. Sie befürchteten nicht ohne Grund, dass aus dem militärischen Konflikt zwischen den Balkanbund-Staaten und dem Osmanischen Reich leicht ein Krieg zwischen den ­europäischen Grossmächten sowie Russland entflammen könnte.

Um die Regierungen und die Generalstäbe ihrer Länder vor einer derartigen Eskalation des Konflikts zu warnen, organisierten Sozialisten in Europa zahlreiche Massendemonstrationen. Zudem sollte mit einem internationalen sozialistischen Friedenskongress ein deutliches Zeichen gegen den Krieg gesetzt werden. Den Beschluss, einen solchen Anlass Ende des Jahres in Zürich oder Basel durchzuführen, fasste die Exekutive der Sozialistischen Internationale, das Internationale Sozialistische Bureau (ISB), am 28. Oktober 1912 in Brüssel. In der Folge entschied man sich für die Stadt am Rheinknie.

Basler Genossen im Stress

Die Organisation des Kongresses war für die Basler Genossen eine grosse Ehre, aber auch eine enorme Herausforderung. Mit der Burgvogtei an der Rebgasse, die später dem Volkshaus weichen musste, war rasch ein Lokal gefunden, in dem die internationalen Delegierten tagen konnten. Mehr Kopfzerbrechen bereitete den Genossen die Suche nach einem Ort, an dem die Internationale eine eindrückliche Massenveranstaltung durchführen konnte. Dieses Problem war gelöst, als ihnen am 13. November der Kirchenvorstand der Münstergemeinde die Erlaubnis gab, das Münster zu benutzen.

Allerlei organisatorischer Kleinkram hielt die Basler Sozialdemokraten weiter auf Trab: Unterkünfte für Delegierte mussten gefunden, Plakate gedruckt, Festabzeichen verkauft werden. Stressverschärfend kam hinzu, dass das ISB angesichts der sich zuspitzenden internationalen Lage beschloss, den Kongress nicht erst Ende Jahr, sondern schon am 24. November abzuhalten. Die Basler Regierung legte den Sozialisten keine Steine in den Weg, sondern war dem Kongress günstig gesinnt. Dies ist nicht allzu erstaunlich. Die Sozialdemokraten waren seit zehn Jahren im Regierungsrat vertreten. 1902 hatte Eugen Wullschleger erstmals einen Sitz in der Basler Regierung erobert, 1910 stellten die Basler Genossen mit Hermann Blocher ein weiteres Regierungsmitglied.

Die Eröffnung des Kongresses

Als sich am Sonntagmorgen des 24. November in der Burgvogtei über 500 Delegierte aus 23 Ländern zur ­Eröffnungssitzung versammelten, lag goldener Sonnenschein über der Stadt. Die Wolken am europäischen Himmel aber waren noch dunkler geworden. In seiner Begrüssungsrede betonte Eugen Wullschleger, die «zünftige Diplomatie» habe gegenüber dem Chauvinismus und der kapitalistischen Profitgier versagt. Der Balkankrieg sei nicht ungeschehen zu machen. Seine Ausdehnung zum allgemeinen Völkerkrieg aber, das schlimmste Verbrechen der Weltgeschichte, könne noch verhindert werden. Dies mit allen zulässigen Mitteln zu tun, sei der Wille der Arbeiterschaft. Dabei sei sie Banner­trägerin auch anderer Volkskreise, die nicht Kanonenfutter sein wollten.

Detaillierter ging der Belgier Edouard Anseele, der den erkrankten Präsidenten der Internationale Emile Vanderwelde vertrat, auf die aktuelle Lage ein. Ihm war bewusst, dass sich infolge der unterschiedlichen Situation der Arbeiterorganisationen in den verschiedenen Ländern keine gemeinsame Taktik festlegen liess. Er zeigte sich aber überzeugt davon, dass sich aus der bestehenden «Einheit der Gesinnung» die «Einheit der Aktion» entwickeln werde.

Diese «Einheit der Gesinnung» wurde am Sonntagnachmittag mit einem eindrücklichen Umzug vom Kleinbasel ins Grossbasel und einem feierlichen Akt im Münster demonstriert. «Der Zug», so der Bericht der «Basler Nachrichten», «dessen Durchmarsch 35 Minuten dauerte, wurde eröffnet durch eine Radfahrerabteilung und ein Musikkorps. Ihnen folgten die Mitglieder des internationalen sowie des schweizerischen Komites. (…) Das weibliche Element, wie auch das polnische und russische war stark vertreten. Auf einem bekränzten Wagen fuhr die Friedenskönigin mit der Friedensposaune, umgeben von Mädchen in hellen Gewändern. Von vier Männern wurde ein grosses rotes Buch getragen, auf dem die Devise stand ‹Die Waffen nieder›.»

Friedensdemo zum Münster

Als der Demonstrationszug, in dem rund 10 000 Menschen mitmarschierten, kurz vor 15 Uhr in die Rittergasse einbog, begannen die Glocken zu läuten. Rote Fahnen wogten ins Münster. Ihre Träger stellten sich im Chor auf. «Die zahllosen Banner boten einen prächtigen Anblick», hiess es tags darauf in den «Basler Nachrichten». Bald war das Münster mit Sozialisten aus aller Welt, Presseleuten sowie geistlichen und weltlichen Würdenträgern gefüllt. «Die ehrwürdigen Hallen haben wohl seit den Tagen des Basler Kirchenkonzils im fünfzehnten Jahrhundert keine so internationale Gesellschaft beherbergt», so die NZZ etwas gespreizt.

Zur Einstimmung spielte Münsterorganist Hamm «Dona nobis pacem» aus der Missa solemnis von Beethoven. Nach der Begrüssung durch Regierungsrat Blocher geisselten mehrere Redner den Krieg und beschworen den Frieden. Insbesondere sozialistische Schwergewichte wie der Schotte Keir Hardie, der Österreicher Victor Adler oder der Franzose Jean Jaurès, aber auch Herman Greulich, ein Veteran der Schweizer Arbeiterbewegung, rissen das Publikum immer wieder zu tosendem Applaus hin. Die NZZ kommentierte den Reigen der internationalen Redner lakonisch mit dem Satz: «Sie sprachen zum Teil mit Leidenschaft, aber doch mit einem gewissen Mass.» Längst nicht alle Teilnehmer des Demonstrationszugs fanden im Münster Platz. Zu ihnen sprachen draussen auf improvisierten Tribünen ebenfalls Redner in mehreren Sprachen.

Am Montagmorgen tagte der Kongress nochmals in der Burgvogtei. Hier verabschiedeten die Delegierten ein vier Seiten umfassendes Manifest, das in der bürgerlichen Presse rege Beachtung fand. Die «Basler Nachrichten» druckten es gar im Wortlaut ab. Das Manifest gab den jeweiligen Parteien die Marschrichtung vor. So wurden die Genossen in ­Österreich, Ungarn, Kroatien und Slavonien, Bosnien und der Herzegowina aufgefordert, «ihre wirkungsvolle Aktion gegen einen Angriff der Donau­monarchie auf Serbien mit aller Kraft fortzusetzen». Die «wichtigste Aufgabe», so das Manifest, «fällt aber der Arbeiterklasse Deutschlands, Frankreichs und Englands zu». Die ­Arbeiter dieser drei Länder müssten von ihren Regierungen verlangen, sich «jeder Einmengung in die Balkanwirren» zu enthalten und unbedingte Neutralität zu wahren.

«Interessante Streitschriften»

Was genau zu tun sei, sollten sich die drei Grossmächte auf dem Balkan einmischen oder sollte es gar zum Krieg zwischen ihnen kommen, darüber schwieg sich das Manifest aus. Dies war auch dem Berichterstatter der «Basler Nachrichten» nicht entgangen. Etwas süffisant stellte er fest: «So ­vehement diese Sätze sind, sie ­bilden kein Revolutionsmanifest. Sie fordern zu Protesten und Kundgebungen aller Art auf, aber sie verlangen vom Soldaten nicht die Gehorsamsverweigerung und von der nichtmilitärischen Arbeiterschaft nicht den ­Generalstreik bei Kriegsausbruch. Die Delegierten haben – aus guten Gründen! – die Verantwortung gescheut, das Opfer ihres Lebens von den Arbeitern zu verlangen. (…) Solange aber auf Seiten der kriegsführenden Staaten vom General bis zum einfachen Soldaten der Wille, das Leben einzusetzen, vorhanden ist, bei der roten Internationale nicht, sind deren Resolutionen keine ‹weltgeschichtlichen Dokumente›, sondern interessante Streitschriften.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16.11.12

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