Der Lehrerberuf ist heute komplexer als je zuvor. Doch der Unterricht war nie besser. Vom Fluch und Segen, heute vor einer Klasse zu stehen.
Wenn am Montag im Baselbiet die Schule beginnt, kann die Welt zusammenbrechen. Dann gilt in der Primarschule zum ersten Mal der neue Lehrplan 21. Keine Bildungsreform in den letzten Jahrzehnten hat derartige Befürchtungen ausgelöst, unter Lehrern, vor allem aber unter Politikern aus dem rechten Lager.
Eine wirtschaftspolitische Katastrophe werde die Folge sein, prophezeit die SVP, Ideologen werde Tür und Tor zum Unterricht geöffnet. Monica Gschwind, neu gewählte Bildungsdirektorin des Basler Landkantons, befürchtete vor ihrer Wahl, die Schüler würden zu Versuchskaninchen degradiert und dass die Qualität des Unterrichts einbreche.
Archetypus des strengen Paukers
Thomas Boss fährt sich mit der Hand über den Kopf, als er auf die tosende Debatte angesprochen wird. «Die Diskussion ist entgleist und wird der Realität nicht mehr gerecht», sagt er. Vor fast 40 Jahren gab er seine ersten Unterrichtsstunden am Löffelmattschulhaus in Münchenstein, heute arbeitet er noch immer dort. Bis zu seiner Pensionierung dauert es noch zwei Jahre.
Boss hat die Transformationen des Unterrichtens und Lehrerseins längst vollzogen. Vor 30 Jahren, als in den Klassenzimmern noch überwiegend dem Archetypus des strengen Paukers nachgeeifert wurde, begann er mit Werkstattarbeit, mit Gruppenunterricht und individualisiertem Lernen – Vorläuferkonzepte des Lehrplans 21. «Ich war an einem Punkt angelangt, an dem das bisherige Modell nicht mehr funktionierte», erklärt er. «Ich hatte Kinder in meinen Klassen, die richtig arbeiten wollten, andere konnten kaum Deutsch. Ich konnte nicht mehr allen Schülern dasselbe vorsetzen.»
Boss beschaffte sich die neuen Unterrichtsmethoden auf eigenem Weg. Er besuchte die Freie Volksschule in Stans NW, die ihre Ansätze aus der Reformpädagogik deutscher Experimentierschulen holte und bereits 1985 lernschwache Kinder in den Regelunterricht integrierte.
Er veränderte seinen Unterricht radikal. Die Freiheit dazu hatte er, auch wenn die Kollegen irritiert reagierten. «Ich begann freie Elemente einzubauen. Jedes Kind konnte, wenn es mit dem Stoff durch war, mit mir einen Vertrag abschliessen. Ein Mädchen, das gerne reitet, konnte sich verpflichten, ein Büchlein über Pferde anzufertigen und das der Klasse zu präsentieren. Was die Kinder machten, war völlig egal, wichtig war, dass sie am Ende das Gefühl hatten, etwas erreicht zu haben.» Dieses Unterrichten hat er bis heute beibehalten und weiter ausgebaut.
Boss sagt, der Erfolg dieser Methoden sei offensichtlich. «Ich konnte den Starken besser gerecht werden und den Schwächsten auch.» Die starken Schüler wurden in ihrem Ehrgeiz nicht gebremst, die Schwächsten nicht überfordert. Alle hatten Erfolgserlebnisse. «Auch für mich war das viel erfüllender», sagt Boss.
Erfolgreiche Schulkarriere hängt vom Lehrer ab
Dieses Unterrichten bedingte, dass er auf jeden einzelnen Schüler einging – viel intensiver, als es die damaligen pädagogischen Standards vorsahen. Diese Herangehensweise ist heute ein zentraler Gedanke im neuen Lehrplan. Entstanden ist sie aus den Erfahrungen in der Praxis und nicht, wie Reformgegner gern monieren, aus bildungstheoretischen Überlegungen.
Die Wissenschaft gibt Boss und den Reformern recht. 2013 legte der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie eine gewaltige Studie vor, die auf 50’000 Einzelstudien basiert und 250 Millionen Schüler umfasst. Hattie untersuchte, welche Faktoren den Lernerfolg beeinflussen. Sein Befund war eindeutig: Eine erfolgreiche Schulkarriere hängt vor allem vom Lehrer ab. Zentral für den Lernerfolg ist gemäss Hattie ein intaktes Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Des Lehrers Fachkompetenz hingegen zählt zu den vernachlässigbaren Faktoren.
«Unseren Leuten», sagt Boss, der mittlerweile Schulleiter in Münchenstein ist, «hat diese Studie gutgetan. Sie hat sie darin bestärkt, auf empathische Art Schule zu geben.» Für den Lehrplan 21, der die Schüler nicht mehr nach dem Stoff misst, den sie gebüffelt haben, sondern nach den Kompetenzen, die sie erwerben konnten, ist das eine gute Voraussetzung. Boss sagt: «Meine Leute sind sehr gut vorbereitet auf das, was jetzt kommt.»
Grossbaustelle Harmos: Eine neue Sekundarschule entsteht
Während im Baselbiet der Widerstand gegen den umstrittenen Lehrplan 21 zu einem Politikum geworden ist, verläuft die Diskussion im Stadtkanton anders: «Hier hat ein Grossteil der Lehrkräfte beschlossen, ihre Energie woanders zu investieren», sagt Gaby Hintermann, selber Lehrerin und Präsidentin der Kantonalen Schulkonferenz. In der Stadt sind zahlreiche Lehrkräfte der Volksschule momentan mit den vielen Personalverschiebungen im Zuge der Schulharmonisierung beschäftigt. So beginnt kommende Woche nun das erste Jahr der neuen Sekundarschule.
Der Basler Sonderfall Orientierungsschule läuft damit aus, das Schulsystem wird umgekrempelt. Nach Angaben des Erziehungsdepartements werden im kommenden Schuljahr über 200 Lehrer einen neuen Job antreten und von der OS auf die Sekundarstufe und in die Primarschule wechseln.
Mars und Venus
Ruhig ist es noch an den Gymnasien. Von dort aus werden laut ED zumindest im bevorstehenden Schuljahr noch keine Wechsel an die Sek anstehen. Dass Leute mit ganz unterschiedlichem Ausbildungs- und Arbeitshintergrund nun in einem Topf landen, schafft Konfliktpotenzial: Gymi- und OS-Lehrer seien ein bisschen «wie Mars und Venus», stellt Gaby Hintermann fest. «Es wird hier zu einem Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und Fachsprachen kommen.»
Laut Gaby Hintermann hat diese Grossbaustelle viel Energie absorbiert: Manche OS-Lehrkräfte hätten in den letzten zwei Jahren an zahlreichen Übergangsstandorten verbracht und der ganze parallele Aufbau der neuen Sek habe viel Kraft gekostet. Trotz Harmos ist ihr die Lust am Unterrichten nicht vergangen: «Die Vorfreude auf die neue Schule und die Jugendlichen ist gross.»
Lehrermangel ist zu relativieren
Viele Befürchtungen im Zusammenhang mit Harmos haben sich nicht bewahrheitet, doch gewisse Unsicherheiten sind geblieben. So ist etwa der «Lehrermangel», welcher immer wieder durch die Medien geistert, mit diesem Strukturumbau differenzierter zu betrachten. Während etwa in den Gymnasien die Stellen ohnehin spärlicher gesät sind, dürfte es bei der Volksschule zu Verschiebungen kommen. Laut Gaby Hintermann ist man mit der Schulharmonisierung zunächst von einem Mangel auf der neuen Sekundarstufe I ausgegangen.
Da aber viele ehemalige OS-Lehrkräfte dorthin wechselten, dürfte das Vakuum wohl eher bei der Primarschule auftauchen. Abgesehen davon könne somit momentan nicht von einem Lehrermangel die Rede sein. Im Gegenteil: In den letzten Jahren kam es wegen dem Schulumbau zu einem Anstellungsstopp.
Manche Abgänger der Pädagogischen Hochschule mussten sich mit befristeten Stellen zufrieden geben. Gaby Hintermann findet das schade: «Viele engagierte Junglehrpersonen mussten sich aufgrund der unsicheren Stellensituation schon bald wieder verabschieden.»
Die Sparmassnahmen beim Basler Staatspersonal und anstehende Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen sorgten für zusätzliche Verunsicherung bei den Lehrkräften. Die Erhöhung des Pensionsalters, die Streichung von Dienstaltersgeschenken sowie die noch offene Anpassung der Altersentlastung kommen intern schlecht an. «Das Gefühl der Undankbarkeit machte sich breit – ausgerechnet jetzt, wo die Lehrkräfte besonders stark belastet sind und Extraefforts leisten», sagt Gaby Hintermann.
Nicht nur Harmos und Sparmassnahmen, sondern auch neue Ansprüche der Eltern haben in den Augen von Gaby Hintermann für neue Herausforderungen gesorgt – so etwa die Schulhauswünsche für die neue Sekundarstufe. Das Erziehungsdepartement führt bewusst keine «Rankings» der verschiedenen Standorte durch, doch der Ruf einzelner Stadtteile ist nicht zu unterschätzen – etwa wenn Eltern vom Bruderholz ihre Sprösslinge partout nicht ins Kleinbasel schicken wollen.«Der richtige Standort wird als das einzig Heilbringende angeschaut», sagt sie.
Wirklich durchmischte Klassen anstelle einer Quartierschule seien daher noch immer ein Ding der Unmöglichkeit. «Die Schule muss hier ausbaden, was die Stadtentwicklung nicht hinkriegt», findet Gaby Hintermann.
Volkskrankheit Evaluitis
Die Lehrkräfte müssen sich auch mit mehr Bürokratie herumschlagen. Ob das Einbinden von Kindern mit Behinderungen in Regelklassen, Elterngespräche, Evaluationen und Weiterbildungen. «Die Schule ist komplizierter geworden für alle Beteiligten», stellt Hintermann fest. Da alles rekursfähig sein soll, muss auch alles dokumentiert werden – so etwa die Entscheidung, ob nun eine Schülerin ins Gymnasium kommt oder nicht. «Die Gesellschaft verlangt heute einfach mehr von der Schule.»
Barbara Leu, Psychotherapeutin und Lehrpersonenberaterin im Aargau, kann das bestätigen. Die Bürokratisierung des Berufs macht so manchen Ratsuchenden Sorgen. «Ich kann nicht mehr in meinem Kerngeschäft arbeiten» – Aussagen wie diese bekommt Barbara Leu oft zu hören. Dem hält sie entgegen, dass der Beruf sich geändert hat. Lehrpersonen haben heute Pflichten, die weit über das Unterrichten hinausreichen.
Die Tendenz, alles evaluieren zu müssen, sei nicht nur in der Schule ein Thema: «Daran krankt die Gesellschaft generell – für alles gibts Bewertungsbogen», meint Leu. Auch die grossen Erwartungen vonseiten der Eltern, insbesondere beim Übertritt der Kinder in eine höhere Schulstufe, machen den Lehrkräften zu schaffen.
Jeder dritte Schweizer Schüler nimmt Nachhilfeunterricht. «Das ist gaga», kritisiert Schulleiter Thomas Boss.
Den Druck der Eltern empfindet auch der Münchensteiner Schulleiter Boss als zunehmend belastend für sich und seine Lehrer. «Immer mehr Eltern wollen, dass ihre Kinder eine Matur machen, und diesen Anspruch geben sie an ihre Kinder weiter.»
Bereits nimmt jeder dritte Schüler in der Schweiz Nachhilfeunterricht oder besucht am Samstag ein Institut, um Stoff zu pauken. «Das ist gaga», kritisiert Boss, «so kann es nicht weitergehen, die Kinder leiden darunter.» Schafft das eigene Kind die Hürden trotzdem nicht, werden die Lehrer angegangen: «Wir haben vermehrt Eltern, die Druck machen, sobald ihr Sohn oder ihre Tochter eine schlechte Note heimbringt. Heute musst du als Lehrer alle deine Bewertungen detailliert begründen.»
Ökonomisierung und Messbarkeitswahn in der Bildung
Sind aber all die Probleme in der Schule neu und bringen die genannten Reformen auch wirklich, was sie versprechen? Werner Graf, Psychologe FSP, ehemaliger Schulleiter und freier Mitarbeiter beim Institut für Konfliktmanagement (IKM), ist hier skeptisch. Er sieht die ganze mediale Aufregung um die Schulen als übertrieben an. «Alte Sachen werden als neue Probleme dargestellt», meint er.
Vor allem glaube jeder Laie, ein Fachmann zu sein. Da jeder eigene Schulerfahrungen hat, möchte hier auch jeder seine Meinung kundtun. Dabei ist Werner Graf überzeugt, dass Schweizer Schulen im internationalen Vergleich sehr gut dastehen. «Der Reformschub suggeriert, dass Schulen schlecht seien, was das Selbstbild der Lehrpersonen negativ beeinflusst», sagt Graf.
Dieses Schlechtreden der Schule führt er unter anderem auf den «Pisa-Schock» von 2001 in Deutschland zurück. Das OECD-Leistungsranking hatte damals eine Bildungsoffensive ausgelöst. «Dabei wird kaum hinterfragt, wie und was überhaupt bei Pisa gemessen wird», sagt Werner Graf. Dies schimmere auch bei der Idee der Kompetenzorientierung durch. «Ich bin kritisch gegenüber der angeblichen Messbarkeit und Ökonomisierung des Bildungswesens», sagt Graf. Dabei werde mit Instrumenten aus der Wirtschaft vorgegangen, die für die Bildung nicht geeignet seien.
Ein bitteres Fazit des Schulleiters
Trotz seiner Kritik am bildungspolitischen Vorpreschen möchte Werner Graf jedoch keineswegs in den Chor der Lehrplan-21-Gegner einstimmen. Er befürwortet eine Harmonisierung im Mosaik der unzähligen kantonalen Schulsysteme, die Umsetzung müsse jedoch sorgfältiger vor sich gehen.
Harmos, Evaluierungszwang, Elternterror – das Lehrerdasein war auch schon einmal einfacher. «Es ist heute so schwierig wie nie zuvor, Lehrer zu sein», sagt Thomas Boss. Und es wird immer anspruchsvoller, weil die Fliehkräfte in den Klassen stärker werden. «Wir haben vermehrt Kinder, wo man sich schon fragt, was da zu Hause los ist.» Boss zählt auf: Kinder, die ihre Freizeit auf der Strasse verbringen, weil der Vater Schicht arbeitet und die Mutter putzt. Die mit Striemen am Bauch in den Turnunterricht kommen, nachdem der Vater im Suff zugelangt hat. Flüchtlingskinder, die auf dem Pausenhof zuschlagen, wenn es zum Streit kommt, weil sie mit allgegenwärtiger Gewalt aufgewachsen sind. Die Gefährdungsmeldungen seiner Schulleitung an die Kinderschutzbehörde Kesb hätten stark zugenommen, zieht Boss ein bitteres Fazit.
Unvergleichlich schön sei der Beruf aber geblieben: «Wenn dich eines dieser Kinder mit all ihren Schwierigkeiten am Morgen anlächelt, entschädigt das für vieles. Das ist ein wundervolles Gefühl.»