Aktuell und ästhetisch: Ein antiker Stoff regt zum Nachdenken an

Die Uraufführung von Daria Stockers «Nirgends in Friede. Antigone» am Theater Basel zeigt die Aktualität antiker Stoffe – oder: Dass der Mensch ohne Krieg nicht sein kann.

So präsentiert sich die dreifache Antigone: mit blonden, braunen und schwarzen Haaren.

(Bild: Theater Basel)

Die Uraufführung von Daria Stockers «Nirgends in Friede. Antigone» am Theater Basel zeigt die Aktualität antiker Stoffe – oder: Dass der Mensch ohne Krieg nicht sein kann.

Immer, wenn es schlimm wird in der Welt, werden die Ahnen befragt. Im Theater heisst das: die Autoren der Antike. Schon da wurde gemeuchelt und gemetzelt, und schon da wurden die zentralen Fragen verhandelt: Was ist gut? Was böse? Welche Fesseln legt die Blutsverwandtschaft, welch explosive Kraft birgt sie? Und vor allem: Was ist Loyalität?

Die neue Intendanz des Theaters Basel um Andreas Beck scheint in der Planung ihrer ersten Spielzeit geahnt zu haben, dass unsere heutige Welt so schnell nicht zur Ruhe kommen wird. Gleich drei antike Stoffe sollen in den kommenden Monaten in aktuellen Bearbeitungen gezeigt werden. «Nirgends in Friede. Antigone» der Zürcher Autorin Daria Stocker (32) machte nun den Anfang; es folgen im Februar und März «Ödipus» von Antonio Latella und Frederico Bellini sowie die «Bacchen» von Roland Schimmelpfenning.

In der Neubearbeitung hat Antigone blonde, schwarze und braune Haare

Daria Stocker hat in ihrer Neubearbeitung der «Antigone» ihre eigenen Erlebnisse aus dem arabischen Frühling wie eine zweite Schablone in den Text eingearbeitet. Sie zeigt die kollektive Wutbildung, das vom Widerstand Besessensein, die Verzweiflung, die Ohnmacht.

«Ich bin nicht Antigone. Antigone steht noch dort, in der vordersten Reihe bei den Panzern. Es ist die, die mich festgehalten hat am Handgelenk und gesagt hat: Wenn alle rennen, bleiben wir. – Ich bin gerannt.»

Antigone ist blond. Und schwarzhaarig. Und braune Haare hat sie auch. Sie trägt ein Kleid, kurze und lange Hosen. Sie ist kämpferisch, besessen, besänftigend.

In Stockers Neubearbeitung ist die Hauptfigur gleich drei Mal vertreten. Die blonde Antigone hat zwei Schwestern aus dem Strassenkampf an ihre Seite gezogen. Widerstand verbindet. Im arabischen Frühling wie in Theben, wo Antigone gegen die Operation Eteokles kämpft.

Stocker legt den Schwerpunkt ihres Stückes vor die eigentliche Handlung der Sophokleischen Antigone. Bei ihr lebt Antigone in den Strassen Thebens, jener Stadt, in der es rumort ob der Kämpfe zwischen Antigones Zwillingsbrüdern Polineikes und Eteokles. Antigone schliesst sich der Protestbewegung an, sieht Kämpfende, Flüchtende, Tote. «Ich will nicht mehr entscheiden müssen, ob ich den kleinen Jungen rette oder die Frau mit Baby!», schreit sie.

Von den weissen Palastmauern zum riesigen Grenzzaun

Die Ebenen verschwimmen: Hier ist Theben mit seinen weissen Palastmauern, aber auch Mazedonien mit seinem riesigen Grenzzaun (Bühne: Viva Schudt), und Ägypten mit all seinen Aufständen, und Griechenland mit all seinen Bootsflüchtlingen.

Antigones Onkel Kreon soll es richten, ihn fleht Antigone an, Eteokles zurückzupfeiffen. Kreon verspricht, einen riesigen Hilfskonvoi zu senden, zwanzig Rettungswagen, achtzig Busse und Verpflegung zu den Flüchtlingen – eine Persiflage auf die hilflosen Reaktionen des Westens, winzige Tropfen auf einen glühend heissen Stein.

Eine Persiflage auf die hilflosen Reaktionen des Westens, winzige Tropfen auf einen glühend heissen Stein.

Doch die Brüder töten einander – und Kreon zeigt sein wahres Gesicht und verbietet die Beerdigung des angeblichen Verräters Polineikes, während er den Theben-treuen Eteokles feierlich begräbt. Antigone widersetzt sich. Polineikes rechtsmässiges Begräbnis ist ihr mehr wert als ihr eigenes Leben. Sie bestreut ihren Bruder mit Erde. Kreon richtet über sie – drei Mal. Jede einzelne Antigone bekommt ihr eigenes Schicksal. Die dritte reisst mit einer Handgranate auch den König mit in den Tod.

Die Inszenierung von Felicitas Brucker ist geradlinig und stringent, mit schnellem Rhythmus, immer wieder durchsetzt mit peitschender Musik. Und sie lebt von den hervorragenden Darstellern. Die drei Antigones (Lisa Stiegler, Nicola Kirsch, Cathrin Störmer) ergänzen sich glänzend; jede ein eigener Charakter, geeint im gemeinsamen Ziel, dem Kampf für das Gute und gegen das Schlechte. Steffen Höld beeindruckt als aalglatter wie komischer Kreon, Simon Zagermann als Haimon und Pia Händler stellen das Gegengewicht zur dreifach geeinten Antigone dar: Sie sind Feiglinge, die zurückgebliebenen, die festhalten wollen, was ist – und darüber verrückt werden.

«Es ist nicht Krieg, aber Frieden ist es auch nicht,» sagt Antigone. So ist das heute, und so soll Theater sein: aktuell, ästhetisch hochwertig, zum Nachdenken anregend. Intensiver Premierenapplaus.

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«Nirgends in Friede. Antigone», kleine Bühne, Theater Basel. Bis 20. Januar.

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