Algorithmen suchen den nächsten Musik-Star

Die Fehde zwischen Musik- und Online-Industrie ist legendär. Jetzt nähern sich die beiden an – dank einer Firma, die Daten ermittelt und Fan-Tendenzen erforscht.

Der Südkoreaner Psy hat zwar Milliarden Klicks auf Youtube, die Leute aber interessieren sich weitaus weniger für seinen Wikipedia-Eintrag als für jenen über Gotye … (Bild: Screenshot)

Die Fehde zwischen Musik- und Online-Industrie ist legendär. Jetzt nähern sich die beiden an – dank einer Firma, die Daten ermittelt und Fan-Tendenzen erforscht.

Ich liebe diesen Song», lobte Superstar Prince im Februar 2013 an den Grammy-Verleihungen, als er die Trophäe für die «beste Aufnahme des Jahres» überreichen durfte. Empfänger war der belgisch-australische Sänger und Songwriter Gotye, dem mit dem Ohrwurm «Somebody That I Used To Know» weltweit der Durchbruch gelungen war.

Begonnen hatte der bemerkenswerte Aufstieg des Liedes schon 2011, im Internet: Zunächst mit Klicks auf dem Streaming-Service SoundCloud, später auf YouTube und der Wikipedia-Seite des Künstlers. All diese Klicks wurden von einem Start-up-Unternehmen aus New York gesammelt und analysiert – und in Austin, Texas, an der Branchenmesse SXSW präsentiert. Hier treffen jedes Jahr im März zwei ungleiche Branchen aufeinander: die Internet- und die Musikindustrie. Alex White, 26 Jahre jung, möchte diese zwei verfeindeten Lager zusammenführen.

Musiknutzung wird gemessen

Next Big Sound heisst seine Firma, die während dreieinhalb Jahren den Aufstieg Gotyes und Tausender anderer Musiker verfolgt hat. Jeder unserer Klicks auf Musikvideos und auf Lieder in Streaming-Diensten ist in ihrer Datenbank zusammengefasst, genauso wie unsere Käufe von Liedern und Alben auf iTunes. «Ich glaube, wir sind endlich an einem Punkt, an dem die Musikindustrie den Wert all dieser Daten erkennt und nutzen will», erzählt White in Austin.

Next Big Sound will herausgefunden haben, wie unser Klick auf ein Musikvideo sich in Verkäufe übersetzt (stark), wie sich Wikipedia-Seitenaufrufe auf Albumverkäufe auswirken (sehr stark), und in welcher Late-Night-Show ein junger Künstler seine Musik präsentieren muss, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen (Conan O’Brien).

Die Zahl der Quellen ist gross und die Anzahl der Datenpunkte schier unfassbar: Radio-Airplays, YouTube-Views, Facebook-Likes, Twitter-Follower, Erwähnungen auf Twitter und in Blogs, Plays in Streaming-Diensten, Auftritte in Konzerthallen und TV-Shows – alles Daten, die Next Big Sound sammelt. So lassen sich Künstler miteinander vergleichen, kann der Effekt von TV-Auftritten und Pressemitteilungen gemessen werden. Und so werden auch die Menschen hinter den Klicks greifbar.

Algorithmen schlagen Alarm

Im Fall von Gotye begann die Reise am 5. Juli 2011. Die Radios hatten noch wenig Interesse an der Single, aber online verbreitete sich das Lied rasend schnell. «Die Wachstums­kurven auf Wikipedia und Sound­Cloud waren wunderschön», sagt ­Datenforscher Victor Hu von Next Big Sound. Kein anderes Lied habe sich zu dieser Zeit so rasch verbreitet.

Dann kam das Video. Superstar Lily Allen tweetete es an ihre über vier Millionen Follower, Filmstar Ashton Kutcher an seine 13 Millionen Follower. Die Klicks auf das Video gingen durch die Decke.

All diese Daten liefen bei Next Big Sound ein. Das seien fast schon eindeutige Anzeichen für einen künftigen Welthit ­gewesen, sagt Datenforscher Victor Hu. «Wir glauben, dass immer zuerst die Aufmerksamkeit und dann der Verkauf kommt», sagt Gründer White. Im Falle von Gotye kamen die Verkäufe – und wie. Die Single wurde 13 Millionen Mal verkauft, sie gehört zu einer der meistverkauften Digital-Singles der Geschichte. Das habe sich im Juli 2011 bereits in den Daten gezeigt, doch bis sich das US-Label Universal Re­public den Künstler sicherte, dauerte es weitere drei Monate.

Künftig sollen Algorithmen in solchen Fällen Alarm schlagen. «Wir schauen uns an, wie Gotye und andere Stars sich verbreitet haben, und suchen nach ähnlichen Mustern», erklärt Datenforscher Hu.

So weiss man zwar, dass der koreanische Popstar Psy mit seinem «Gangnam Style» im Jahr 2012 den grössten Hit stellte. An ihm als Künstler aber scheint das Interesse gering: Seine Wikipedia-Seite wurde weitaus weniger oft angeklickt als jene von Gotye. Datenforscher werten dies als Zeichen, dass Psy ein One-Hit-Wonder ist.

Auswertungen im Abonnement

Im nächsten Jahr soll eine E-Mail-Benachrichtigung von Next Big Sound in den Postfächern ihrer Abonnenten landen. «Da wollen wir hin», sagte Gründer Alex White in Austin – und präsentierte ein Tool, das er unter dem Titel «Finde den nächsten Gotye» vorstellte. «Diesem Tool kann man sagen: ‹Zeig mir Künstler, die das stärkste Wachstum an Wikipedia-Aufrufen hatten, die über eine Million YouTube-Views haben, aber weniger als 20 000 Fans auf Facebook›», sagt White.

Industrieexperte Jacob Fain von Sony ATV sagte nach der Präsentation in Austin, er habe das Tool bereits ausprobiert und sei dabei auf eine Band gestossen, die er schon länger im Auge gehabt habe. «Ich liebe es!», meinte Fain begeistert. Next Big Sound hat sich zum Darling der Industrie entwickelt, doch die Firma ist nicht alleine. Auch MusicMetric aus England bietet einen solchen Dienst.

Darling der Musikindustrie

Die gewaltige Datenmasse, die das Internet und die Digitalisierung mit sich bringen, schreit förmlich nach jemandem, der die Datenpunkte ordnet, damit sich daraus ein Sinn ziehen lässt. Artist-&-Repertoire-Abteilungen (A&R) sollen sie zu Hilfe kommen – jenen Abteilungen also, die für Plattenfirmen die nächsten Stars aufspüren.

«Kein Musiker bekommt heute einen Vertrag mit einem Label, ohne dass der A&R-Typ sich die Zahlen online angeschaut hat», sagt Brett Alperowitz von Universal Republic. «Wir wollen Künstler finden, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sei das in Verkaufszahlen, YouTube-Views oder in einem treuen Live-Publikum.»

Mit ihren Analysen wollen MusicMetric und Next Big Sound die Indu­strie revolutionieren – und den Zugriff auf die Daten demokratisieren. White verkauft diese auch kleinen Künstlern und unabhängigen Managern. Für 20 Dollar pro Künstler und Monat. «Wir wollen Datenhändler für jeden Musiker und Manager der Welt sein.»

Das Phänomen, dass jeder Klick aufgezeichnet und in einer Datenbank gespeichert werden kann, hat schon andere Bereiche revolutioniert – den Wahlkampf von US-Präsident Obama etwa. Nur ist für White & Co. nicht der von Umfragen und Statistiken besessene Wahlkämpfer der Kunde, sondern der vor seinem Bauchgefühl geleitete Vertreter der Kreativindustrie.

Das sei die grosse Herausforderung für Next Big Sound und MusicMetric, sagt Mark Mulligan, Berater von Plattenfirmen: «Musikprofis davon zu überzeugen, dass sie den Daten vertrauen können.» Gelingt dies, so kriegen wir einen nächsten grossen Hit wie «Somebody That I Used To Know» auch dank eines Algorithmus.

Gotye, Taylor Swift und Psy im Vergleich: Wikipedia-Aufrufe

(zum Öffnen der interaktiven Grafik auf das Bild klicken)

Gotye, Taylor Swift und Psy im Vergleich: YouTube-Plays

(zum Öffnen der interaktiven Grafik auf das Bild klicken)

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.03.13

Nächster Artikel