«Als Gefühl ist Angst immer richtig»

Elisabeth Wandeler-Deck erhält den Basler Lyrikpreis. Die Autorin sucht immer auch das Fremde und Beunruhigende in der Sprache. Eine Begegnung.

Elisabeth Wandeler-Deck, Lyrikerin mit bewegtem Lebenslauf. (Bild: Urs Graf)

Elisabeth Wandeler-Deck erhält den Basler Lyrikpreis. Die Autorin sucht immer auch das Fremde und Beunruhigende in der Sprache. Eine Begegnung.

Den Kopf gegen die Zugfensterscheibe gelehnt sehe ich zu, wie der Schnee sich flockenweise im Schotter zwischen den Gleisen festbeisst, diesmal wird er wohl bleiben für ein paar Tage. Vor mir liegt das Gedicht «Langsamer Anfang 1» von Elisabeth Wandeler-Deck, der Lyrikerin, zu der ich unterwegs bin: «(…) verrinnt zer­sickert bremsöl schotterwärts schmiert / und keine prise längst schnee verweht o nein / (…)», heisst es da.

Ein bisschen geht es mir beim ­Lesen ihrer Gedichte wie beim Fahren im Zug: Etwas zieht vorbei, blitzt auf, erinnert an Bekanntes, an Orte, Gerüche­, Klänge, aber sicher kann man sich nicht sein, denn schon bei der zweiten Lektüre, der zweiten ­Bewegung durch den Text, zeigt manches sich wieder von einer anderen Seite, fällt etwas auf, das vorher verborgen blieb.

Mehrkantige Sprachkörper stehen da in der Blattlandschaft, die sich nicht in einer einfachen Nacherzählung fassen lassen. Das Einzige, was vielleicht nacherzählt werden kann, ist dieses In-Gang-Setzen einer Bewegung, das jedem der Gedichte innewohnt.

Und je länger die Zugfahrt nach Zürich dauert, desto gespannter bin ich auf die Begegnung mit der studierten Architektin, Soziologin, Gestaltanalytikerin und Psychologin, vor allem aber: Schriftstellerin. In ihrem beeindruckenden Lebenslauf hat sie nebst der Geburt zweier Töchter, der Gründung einer eigenen Praxis und eines Büros für Geschlechterfragen in Zürich die Zeit gefunden, nicht weniger als neun Gedichtbände vorzulegen. Von den Romanen, Theatertexten, ­Performances, textbezogenen Musikimprovisationen, Lehraufträgen und künstlerischen Zusammenarbeiten aller Art einmal ganz zu schweigen.

Und dann steht sie vor mir: eine ruhige, wenn auch höchst aufgeweckte Frau. «So verrückt, wie er klingt, ist er gar nicht, mein Lebenslauf», sagt die 73-Jährige und lacht, «das war eben die Zeit, damals.»

Architektonisches Interesse

Bei einem Mineralwasser im Café Schiller erzählt sie von diesem «Damals», der Umbruchzeit Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre. Keine einfache Zeit für eine junge Frau und Architektin. Die Geschlechterdebatte war erst zaghaft entfacht, hinzu kamen die Öl­krise und eine allgemein schwierige Auftragslage. So war es vor allem den gesellschaftlichen Strukturen geschuldet, dass sie sich für ein Nach­diplom in Soziologie entschied, mit Nebenfach Klinische Psychologie. Über die soziologischen und linguistischen Untersuchungen im Rahmen ihres Studiums fand sie denn auch den Zugang zur Sprache als Gestaltungselement.

Es ist eine sehr besonnene Frau, die mir gegenübersitzt, mit aufmerksamen Augen, die immer dann zu leuchten beginnen, wenn sie spricht von dem, was sich mit Sprache ­machen lässt. Etwa, als sie auf die vielfältigen Interessen zu sprechen kommt, die als Antrieb hinter ihrem Schreiben stehen. Das urbanistische, architektonische Interesse spielt hinein in ihren Wunsch, etwas zu schaffen, indem man sich bewegen, ver­irren, vielleicht sogar verlieren kann. Ob in der Architektur oder der Literatur, es gehe doch immer darum, mit dem, was man tue, die Welt zu verändern, sagt sie ganz ohne Pathos. Mit jedem Wort, das gesprochen werde, verändere sich schliesslich etwas.

Rhythmus, Betonung und Tempo werden zu Miterzählern.

Die Soziologin in ihr interessiert sich für die wandernden Sprachbausteine, für das, was passiert, wenn ein Satz- oder Wortteil von Kontext zu Kontext getragen wird. Derselbe Satz von einem Chef oder einer Angestellten­ sei eben schon nicht mehr dasselbe­, sagt sie.

Als Musikerin, die für ihre Improvisationskonzepte immer wieder aus ihren Texten schöpft, interessieren sie wiederum Parameter wie Tonhöhe, Dissonanzen und Überlagerungen.
Als ich sie bitte, ihr Gedicht «mehrfach überstürzter Anfang» vorzulesen, zögert sie nicht und beginnt sogleich: «ür ürz rü / rü ürh ürz / über stürz / stürz er oh er / gurrüberstürz / schon unken ist / türk aus den tauben / kehlen türkentausend / hin hinüber geh da geht / er ja gestürzt bei nah da da / (…)»

Während des Vortrags wird Wandeler-Decks Gedicht zu einem eindrücklichen Klangkörper. Der Inhalt wird übers Gehör noch einmal neu vermittelt, indem Rhythmus, Be­tonung und Tempo zu Miterzählern werden. Das müsse eigentlich lauter sein, sagt Wandeler-Deck verschmitzt, normalerweise stehe sie auf, um so ein Gedicht zu lesen.

Das Vertraute wird verfremdet

Durch die Art des Vorlesens wird noch einmal deutlicher, dass es in ihren Gedichten nicht primär um das Verstehen auf der Bedeutungsebene der Worte geht. Vielmehr scheint es darum zu gehen, Begriffe wie «Verstehen» hinter sich zu lassen und einen anderen Zugang zu versuchen.

Die Angst, die Abneigung gar, die manche Leser gegenüber abstrakter ­Lyrik empfinden, erklärt sich Wandeler-­Deck durch die Beunruhigung, die entsteht, wenn am Begriff des Ver­stehens gerüttelt wird, wenn das Nach­erzählen, also das Übersetzen in die ­eigene Sprache scheitert und dadurch eine plötzliche Fremdheit in der vertrauten Sprache entsteht. «Als Gefühl ist Angst immer richtig», sagt sie. Sie sei nicht daran interessiert, nach­erzählbare und also «beruhigende» Inhalte zu liefern. Dass in Krisenzeiten darauf zuweilen empfindlich reagiert werde, sei damals nicht anders gewesen als heute.
In Elisabeth Wandeler-Decks Arbeiten jedenfalls wartet, wie so oft im Leben, hinter der Beunruhigung ein Abenteuer.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.01.13

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