Steff la Cheffe, Fabian Chiquet, Ihre Protagonistin «Alice» trifft im surrealen Wunderland auf absurde Figuren. Aber auch auf abstruse Verhaltensweisen und Rollenklischees, die man durchaus kennt – oft aus eigener Erfahrung. Gut kann man darüber auch mal lachen. Doch gerade als Teil des Tätergeschlechtes stellt sich die Frage: Darf Mann das?
Steff la Cheffe: Vergewaltigung, Beschneidungen oder Missbrauch sind natürlich überhaupt nicht lustig. 120 Minuten Theater voller Tragik und Gewalt wären jedoch für uns Macher wie das Publikum eine Folter – ohne Folgen. Ich will im Gender-Diskurs aber weiterkommen. Ich hoffe auf eine Gesellschaft gleichberechtigter Menschen mit Chancengleichheit und denselben Wahlmöglichkeiten. Deshalb strebe ich bei vielen Themen, wo Frauen diskriminiert werden, nach Versöhnung nicht Vergeltung. Humor ist dafür die beste Medizin.
Fabian Chiquet: Wir wollten von Beginn weg kein tragisches Stück, auch wenn es um viele traurige Themen geht. Sexismus ist nicht schwarz-weiss, sondern komplex wie die Menschen selbst. Die Debatte um die Rechte und die Stellung der Frauen braucht unbedingt Witz, Drive und Freude. Die Diskussion darf nicht moralisierend, theoretisch und dogmatisierend geführt werden.
Warum nicht?
Chiquet: Jeder Mensch ist anders aufgewachsen und sozialisiert worden, was die Rollenbilder betrifft. Wenn ich jemanden einfach verurteile und als Scheisse abkanzle, macht die Person zu: Es findet keine Diskussion statt.
La Cheffe: Körperliche Gewalt musste ich selbst nicht erfahren, strukturelle und verbale hingegen schon. Diesen perfiden Sexismus wollten wir anprangern und bewusst machen.
Diesen perfiden Sexismus, den Steff La Cheffe meint, spürt Alice (Gina Gurtner) vom Auftakt an, als sie eingepfercht in einen Fahrstuhl mit fünf anderen Protagonistinnen und dem einen Mann in die Tiefen des Wunderlands hinuntersaust. Im klaustrophobischen Ambiente wirken schon banale Typen-Fragen wie «Hund oder Katze?» bedrängend. Bei «Karriere oder Kind?» ist die Intimsphäre definitiv penetriert. Übergriffe müssen nicht sexueller Natur sein.
Unten angelangt ist Alice zwar dem Lift entkommen, doch trifft sie fortan auf einen Reigen wunderlicher Gestalten. Da wird Alice etwa vom personifizierten Zyklus mit Pelzkappe oder einer Martullo-Blocher-Parodie mit überlangen Armen und schwangerem Kugelbauch abgewatscht. Die groteske Szene gipfelt in der Schlussaussage: «Schwangerschaft, du reaktionärer Patriarch.»
Bis auf Alice wechseln die anderen Akteure ihren Charakter fast in jeder Szene. Parallelen zu Figuren des Kinderbuch-Klassikers des englischen Schriftstellers Lewis Carroll findet man in der Inszenierung des jungen Trios kaum. Skurrilen Humor umso mehr: Nicht nur der Auftakt erinnert an den Einstieg in Monty Pythons «The Meaning of Life».
Surreales Spiel, realer Nonsens
Insgesamt ist das Stück eine herrlich dämliche Szenen-Sammlung des Unsinns. Doch beruht das surreale Spiel auf dem realen Nonsens, dem Frauen noch heute ausgesetzt sind.
Der Lift mitten im Bühnen-Halbrund ist Nabel des Spektakels, mal Spiegel, dann Schutzraum, Schaukasten oder gar Pranger für Alice. Aber egal, wo sich Alice aufhält: Alle wollen was von ihr. Doch keine der Frauenfiguren rückt ihr so nahe, wie eine lächerliche Vaterfigur seiner Tochter. Selbst wenn seine in den Schritt gezogene Hose einen Hoden-Camel-Toe bildet, zieht mit ihm die Angst in die Arena.
«Angst» ist auch das Codewort für seinen Auftritt. Weiter geht es im Spiel mit einer «Vater unser»-Variante. Die Ode an den Übervater, der alles kann, pitcht hysterisch hoch und gipfelt in: «Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert!»
«Selbst ist die Frau!» läutet das nächste Thema ein. Solch prägnante Schlagsätze stehen meist als Start- und Schlusspunkt einer Szene. Sie umfassen die in Spoken-Word-Manier inszenierten Sprechteile der einzelnen Szenen – wie Refrains, die einen Song starten oder beenden.
Steff la Cheff, wie entstanden die Texte?
La Cheffe: Als Rohmaterial dienten Interviews, die Fabian mit 35 Frauen von «Terre des Femmes» führte. Wir schrieben zwar zu dritt, doch am Ende lag die Textverantwortung bei mir. Fabian übernahm die Regie und Musik, Annalena die Choreografie. Wir funktionieren als Team mit drei Kernkompetenzen.
Die beiden anderen haben schon Erfahrung im Theater. Was war für Sie der grösste Unterschied, für diese Bühne zu schreiben?
La Cheffe: Ich liebte die Möglichkeit, für das Theater mehrere Rollen zu kreieren. Als Rapperin ist es meist nur eine, die erst noch Autobiografisches verarbeitet.
Sie wurden als Rapperin oft zu Ihrer Rolle als Frau in der Macho-Welt Hip-Hop befragt, was Sie, wenn man alte Interviews liest, offensichtlich nervt. Nun machen Sie feministisches Theater. Sind Sie ein Role Model wider Willen, das die Aufgabe annimmt, weil es sonst keine macht?
La Cheffe: Nein, als mich Fabian vor etwa zwei Jahren mit der Idee für das Stück anrief, war das wie ein Befreiungsschlag. Das Theater bietet die Möglichkeit, dieses komplexe Thema anzugehen. Schon nur die Länge eines Rapsongs ist zu kurz für all die Gender-Stereotypen. Dazu wurde im Team mit verschiedenen Ideen, Charakteren und auch Textformen experimentiert und ich muss mich nicht als Einzelkämpferin hinstellen.
Empfinden Sie sich als Rapperin auf die Genderfrage reduziert?
La Cheffe: Das Thema war in den 15 Jahren, in denen ich Musik mache, nie mein zentrales Thema, sondern ein Song unter tausend.
Und nun liegt der Fokuss nicht auf Ihnen, sondern der Gesellschaft?
La Cheffe: Interessierte mich die Rolle der Frau mit 20 Jahren vor allem intellektuell, berührt mich die Frage nun auch emotional und rein biologisch – wenn dich sogar der Typ von der Krankenkasse auf Kinder anspricht, weil das mit 30 eine prämienrelevante Frage ist. Aber eigentlich ist strukturelle Gewalt auch kein Frauenthema, sondern geht die ganze Gesellschaft an. Wir sind ja keine Minderheit.
Chiquet: Es liegt an uns Männern, aktiv zu werden. Ich bewege mich in einem eher progressiv denkenden Umfeld und bin umgeben von aufgeschlossenen Freunden. Doch kaum kommen Kinder ins Spiel, folgen viele dem klassischen Rollenbild: Die Frau bleibt daheim, der Mann geht Kohle verdienen. Das hat viel mit Bequemlichkeit zu tun.
Alice entlässt die Besucher mit einem Wirrwarr im Kopf.
«Alice» ist denn auch ein Stück aus der Sicht von Erwachsenen, die dem Prädikat jung definitiv entwachsen. Es trifft jedoch Generationen und Geschlechter übergreifend wunde Punkte. Die befragten Frauen von «Terre des Femmes» amüsierten sich bei der Generalprobe zum Teil einfach an anderen Stellen als der Journalist. Am Ende entlässt Alice die Besucher mit einem Wirrwarr im Kopf. Ein Grund ist das Tempo. Das Stück wechselt rasant zwischen textlich fordernden Spoken-Word-Passagen und dem Skandieren von Parolen.
Aufmerksamkeit fordern auch die surrealen Choreografien wie der Ruckel-Tanz der Porzellan-Puppe, die Verrenkungen des Putz-Wahns und der abschliessende Pas de deux zweier Fische («Meaning of Life» lässt wieder grüssen). Dazu ballern Musik, Licht und Videoprojektion auf das Publikum.
Schauspiel, Tanz, Musik, Licht, Videoprojektionen, Text: Haben Sie keine Angst, die Aussage des Stückes könnte in dem Multimedia-Spektakel verlorengehen?
Chiquet: Die Story ist ja klein – Alice schläft ein, hat ihren Traum und wacht auf. Die Fülle an Perfomance und Aussagen darf das Publikum ruhig mit einem Knoten im Kopf entlassen. Den zu entwirren wird spannend. Wir bieten ja keine moralisierende Story, wo man auf die Lösung hinführt. Die können wir gar nicht bieten, Gedankenanstösse dagegen schon.
In der momentan geführten Gender-Debatte geht es viel um Moral und Anstand. Wegen den Übergriffen werden Lust und Freude am Flirten dogmatisch reglementiert.
Chiquet: Genau das darf nicht passieren. Ich wehre mich gegen den viel beschworenen Kampf der Geschlechter. Nicht jeder Mann ist ein Täter.
La Cheffe: Bei mir hat sich auch schon ein Freund stellvertretend für die Verbrechen von Männern an Frauen entschuldigt. Weil er als eigentlich unschuldiger Mann plötzlich als Sinnbild für Gewalt und Angst dastand und sich entsprechend scheisse fühlte. Was soll ich da antworten?
In ihrer Macho-Rolle mit überdimensionierten Muskel-Torso und Box-Faust würde Steff La Cheffe wohl rufen: «Du kannst meinen Schlitz lullen!» «Alice» führt nicht nur die klassischen Klischees vor. Der Spiess wird im Stück auch umgedreht und die Frauen haben die Oberhand.
Doch auch das Matriarchat ist bei «Alice» kein Wunderland. Beim Sinnieren über Macht und deren Missbrauch durch Dikatoren kommt die Frage: Sind Frauen die besseren Psychopathen oder hatten sie historisch einfach nicht genug Gelegenheit, sich die Finger zu verbrennen?
Mit dem lustvollen Verhöhnen eigener Knörze und Schwächen sowie dem Streben nach Versöhnung: Ist das Stück nicht eine Einladung an Männer, die sich nicht selbst als Täter fühlen, sich bequem in der Opferrolle zu suhlen?
Chiquet: Im offenen Rassismus vergangener Jahrhunderte war es als Weisser nicht möglich, passiv in der Gesellschaft zu leben, ohne selber rassistisch zu sein. Man lebte ja das System der Ungleichheit mit. Genauso ist es mit dem Sexismus. Diese Ohnmacht verpflichtet, aufmerksam und aktiv zu sein, Courage zu zeigen in Momenten, die nicht cool sind. So interveniert man bei doofen Witzen oft nicht, weil man ja nicht humorlos sein will. Hoffentlich können wir in 50 Jahren über Dinge lachen, die heute noch surreale Realität sind.
La Cheffe: Wie etwa diese holländische TV-Sendung, wo eine Jury wie bei einer Viehschau entscheidet, ob eine Frau schwanger oder fett ist!
Das ist nicht nur Fiktion im Stück?
La Cheffe: Nein, das ist auch Realität.
«Alice» spielt am 5., 7. und 8. Dezember im Roxy Theater, Birsfelden.