Keine Geste, kaum ein Wimpernschlag zuviel: Bettina Oberli präsentiert mit Leo Tolstois «Anna Karenina» einen hyperästhetischen und präzise gezeichneten Bilderbogen über die grosse Liebessehnsucht im Korsett der gesellschaftlichen Konventionen.
Diener gibt es einige in Leo Tolstois über tausend Seiten schweren Romanepos «Anna Karenina». Doch so einen wohl kaum. Kutti MC ist irgendwie aus der slampoetischen Schweiz von heute ins Russland des 19. Jahrhunderts gelangt. Und dort ist er, ganz und gar geprägt von einer urbernischen Bedächtigkeit, im Dauereinsatz: aufräumen und wischen, die Abendgarderobe bereitstellen und wieder wischen, servieren und erneut wischen. Und das stets mit einem ungerührten Gesichtsausdruck, der einen Buster Keaton zum Grimassenschneider degradiert. Wie eingefroren bleiben die Gesichtszüge auch dann, wenn er immer wieder an die Rampe tritt und als melancholischer Narr lakonisch die Szenerie kommentiert: «Wiso die gliche Fähler immer wider!»
Ja diese Fehler! Sie sind angesiedelt in der besseren Gesellschaft des Russlands im 19. Jahrhundert. Dasjenige, das in Leo Tolstois wuchtigen Romanen so ausschweifend beschrieben wird. In «Anna Karenina» zum Beispiel, der Geschichte der Titelfigur, der begehrenswerten Frau eines sterbenslangweiligen höheren Ministerialbeamten, die sich in eine leidenschaftliche Affäre mit dem leichtlebigen Offizier Graf Wronski stürzt und schliesslich an den gesellschaftlichen Konventionen und den eigenen überhöhten Ansprüchen an die grosse Liebe zerbricht.
Ein akribisch zusammengebautes Konzentrat
Die erfolgreiche Filmemacherin Bettina Oberli («Die Herbstzeitlosen») hat sich für ihr Debüt als Theaterregisseurin im Schauspielhaus des Theater Basel der Bühnenbearbeitung von Armin Petras bedient, die im Berliner Maxim Gorki Theater seit Jahren erfolgreicher Fixpunkt im Repertoire ist.
Petras hat das Personal auf sieben Hauptfiguren (den erwähnten Diener nicht mitgezählt) eingedampft: Auf Anna Karenina natürlich, ihren Ehemann Karenin, ihren Bruder, den Fürsten Stefan Oblonski, dessen Frau Dasha, deren Schwester Kitty, den Gutsbesitzer Lewin und Annas Liebhaber Graf Wronski. Inhaltlich verbleiben somit, vereinfacht gesagt, drei Liebestragödien: die zwischen Anna und Wronski, die zwischen Stefan und Dasha sowie die zwischen Kitty und Lewin.
Aber natürlich steht Anna Karenina im Zentrum des Abends. Zoe Hutmacher verleiht dieser Figur der Weltliteratur ein faszinierendes Anlitz. Stolz, selbstbeherrscht und unnahbar wirkt sie zu Beginn des Abends – eine herausragende Bühnenpräsenz. Das lange, lachsfarbene Kleid (Kostüme: Anne-Catherine Kunz) betont ihre schlanke und überragende Erscheinung in diesem Konglomerat der russischen Gesellschaft. Sie behält ihre Seelengrösse auch dann noch, wenn sie im Verlauf der Handlung immer mehr in die Abgründe der Verzweiflung schlittert.
Ihr Ehemann Karemin (Dirk Glodde) hat nicht den Hauch der Würde, die sie ausstrahlt. Ihre Schwägerin (Cathrin Störmer) ist so etwas wie der Gegenpol zu Anna: eine Frau, die durch den Gram über den sie betrügenden Ehemann (Florian Müller-Morungen) zur auch äusserlich sicht- und spürbar gebrochenen Figur verkommen ist.
Ein Gegenpol zu Anna Karenina ist auch Kitty (Judith Strössenreuter), ein Mädchen, das ihre Emotionen von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt nicht in Schach halten kann. Ein Bild des Jammers gibt der Gutsbesitzer Lewin ab, der den ganzen Abend hindurch eigentlich nichts anderes tut, als sich selber zu zerfleischen. Und auch der Offizier und Lebemann Graf Wronski (Silvester von Hösslin) wirkt neben der schönen und vornehmen Anna beinahe klein und unbedeutend.
Labor der gesellschaftlichen Konventionen
Bettina Oberli präsentiert diese Gesellschaft in einem grossen und offenen Raum, der von einem riesigen Gardinen-Prospekt umrahmt wird (Bühne: Alain Rappaport). Es ist eine Art Labor der gesellschaftlichen Konventionen, in dem sich ein eingeengter Tanz «auf der Eisbahn des Lebens» abspielt, aus dem es kein richtiges Entkommen gibt. Die ganze Gesellschaft ist, im Hintergrund auf metallenen Gartenstühlen sitzend, stets anwesend. Und wenn sich vorne an der Rampe intime Szenen abspielen, bekommen dies die andern aus den Augenwinkeln mit.
Erst im zweiten Teil des Abends können Anna Karenina und Wronski alleine sein. Aber eine angenehme Intimität ist das nicht. Der Boden, der zur abgrenzenden Wand hochfährt, beengt den Raum, der so zur beengenden klinischen Zelle wird.
Bettina Oberli verzichtet in ihrer Inszenierung auf jeglichen (filmischen) Realismus. Sie kombiniert Bühne, Lichteinsatz, Kostüme und Figuren zu einem hyperästhetisch und ausgesprochen präzise gezeichneten künstlichen Ganzen. Das Menschliche, die Emotionen, Konflikte und Wallungen ergeben sich mehr oder weniger alleine aus dem Text, der übrigens bei weitem nicht nur aus Dialogen, sondern auch aus gesprochenen Gedanken und Szenenbeschreibungen besteht.
Beeindruckende Ensembleleistung
Dieser strenge Formalismus birgt natürlich die Gefahr, dass das Ganze kalt und trocken wirkt, was es zuweilen auch tut. Dass dies unter dem Strich aber nicht wirklich stört, liegt an der beeindruckenden Leistung des Ensembles. Dieses zeigt eine wahrhaft reife Leistung. Allen voran mit Zoe Hutmacher als Titelfigur schaffen es die Schauspielerinnen und Schauspieler, trotz des engen Korsetts, in das sie die Regie schnürt, zu berühren.
«Anna Karenina»
Schauspiel nach Leo Tolstoi
Regie: Bettina Oberli, Bühne: Alain Rappaport, Kostüme: Anne-Catherine Kunz, Dramaturgie: Bettina Ehrlich, Martin Wigger
Mit: Zoe Hutmacher, Dirk Glodde, Florian Müller-Morungen, Cathrin Störmer, Judith Strößenreuter, Martin Butzke, Silvester von Hösslin, Kutti MC
Theater Basel, Schauspielhaus
Die nächsten Vorstellungen: 13., 15., 18., 19., 22., 26. April und im Mai