Matthyas Jenny (66) wird 2011 mit dem Basler Kulturpreis geehrt. Der Verleger, Buchhändler und Veranstalter ist ein Rebell geblieben.
Die Kühlschranktür steht weit offen und doch brennt kein Licht darin. Erst im Frühling wird Matthyas Jenny das Gerät wieder einschalten. Bis dahin kühlt er den Inhalt – Milch – mit der Raumtemperatur. «Ich brauche wenig», sagt er.
Bücher schon. Viele Bücher. Sie türmen sich überall. In der Küche. Im Flur. Im Schlafzimmer. In der Buchhandlung sowieso.Seit dem Tod seiner Frau, seit 2007, lebt er hier allein, an der Bachlettenstrasse 7. Raucht Zigaretten. Trinkt Kaffee. Bedient Kunden. Begrüsst Literaten. Schreibt Tagebücher. Und liest.
Wasser und Brot
Mit der Aussenwelt tritt er via Facebook in Kontakt. Unterhält mit seinen Anekdoten aus dem Alltag eines Buchhändlers. Bei ihm flimmert der Computer, nicht der Fernseher. Die Nachrichten würden sich doch eh wiederholen, sagt er lakonisch.
Und Ausgang? Wann war er zuletzt im Kino? «Oh, das ist lange her, acht Jahre, vermutlich. Mir fehlt dafür die Zeit», sagt er. Und meint damit: Interessiert schlicht nicht, denn: «Was gibt es Besseres als ein gutes Buch, das sich in einen Film verwandelt?»Zum Beispiel eine gute Flasche Wein? «Nein.» Unser Mitbringsel: ein Flop. «Ich trinke keinen Alkohol», sagt Matthyas Jenny, «seit dreissig Jahren nicht mehr. Es gab eine Zeit, als er mich fast umgebracht hat. Ich musste einen Schlussstrich ziehen.»
Heute ernähre er sich von Wasser und Brot, sagt er, zeigt zur Ablage, wo eine angeschnittene Scheibe liegt, und lacht trocken. Tatsächlich wirkt er ein bisschen wie ein Gefangener. Gefangen in seinen eigenen vier Wänden.Keine Lust, mal wegzufahren? Er schüttelt den Kopf.
Früher reiste er viel, reiste er weit: 1963, er war gerade 18 geworden, brach er seine Ausbildung in einem Reisebüro ab und brach auf, nach Marokko. Seine Wanderjahre führten ihn durch Portugal, Spanien, Afghanistan, Thailand oder Malaysia. Es waren abenteuerliche Reisen, mal ritt er einige Tage auf dem Rücken eines Pferdes, mal lebte er einige Wochen in einer Hütte und erlag dabei manchen Verlockungen. Und, ja, er inhalierte auch.
War Matthyas Jenny ein Hippie? «Nein, ich fühlte mich der Beat-Generation näher.» Jack Kerouacs Buch «On The Road» hatte er gelesen, ehe er selber loszog, um zu sehen, worüber andere schrieben. Um Selbstfindung oder Meditation ging es ihm nicht, «diese Aspekte fand ich lächerlich an der Hippie-Bewegung», sagt er. Mit der Rockmusik konnte er sich besser anfreunden. Als er in Kabul ankam, hatte er die erste Platte von Pink Floyd im Rucksack, zuhause in Basel verkehrte er mit lokalen Musikern und bewegte sich in Künstlervillen wie der Spektromagie oder der Arena. «Es ging ums Kreieren, ums Machen.» Mit Gelegenheitsjobs hielt er sich über Wasser, mit Gedichten und Geschichten bei Laune.
Hausmann und Nachtmaschine
1971 kam Caspar zur Welt, 1974 Zoë. Wunschkinder eines Künstlerpaars. Im Frühling 1975 brach die Beziehung auseinander, übernahm Matthyas Jenny das Sorgerecht. Er lebte mit ihnen in einem Deux-Chevaux-Kastenwagen, blieb in Bewegung, in der Türkei, Griechenland. Lebte auch im Tessiner Dorf Carona, in einem Haus von Meret Oppenheim, zusammen mit dem Künstler David Weiss. Dort lernte er auch Hansjörg Schneider kennen.
1977 kehrte er nach Basel zurück. Kümmerte sich tagsüber um seine Kinder, kochte, wusch, putzte – und warf nachts, wenn sie schliefen, seine «Nachtmaschine» an. In seinem Verlag brachte er Schriften heraus, Texte und Zeichnungen, von Freunden wie Anton Bruhin, auch von Fremden, die er bewunderte, etwa John Giorno. In der Wohnung an der Kleinbasler Oetlingerstrasse setzte und druckte er, publizierte das, was er gut fand. Ein Self-make-Man, ein Enthusiast, ein Idealist.
Und vor allem: ein Initiant. 1977 zückte er erstmals eine Anthologie hervor, wählte ein Gedicht aus, etwa von Rainer Brambach, und besprach ein Tonband: «Hier ist das Jenny’sche Poesietelefon, Sie hören ein Gedicht von …», hiess es fortan allabendlich, vier Jahre lang. Einfach so, weil es ihm wichtig und richtig schien. Und weil ihm 200 Anrufe pro Tag bestätigten, dass er nicht als einziger dieser Ansicht war.
Bald brachte er sie auch auf die Strasse, die Lyrik, rief in der Freien Strasse den «Tag der Poesie» aus, überzeugt davon, dass Literatur zu den Menschen gebracht werden müsse. Das schwebte ihm auch vor, als er Mitte der 90er-Jahre das Konzept für ein Basler Literaturhaus erstellte, ein Literaturfestival initiierte, ein Lyrikfestival und schliesslich eine Basler Buchmesse.Der Gedanke dahinter war stets derselbe: Öffentlichkeit schaffen. Für all das wird er jetzt ausgezeichnet. Mit dem Basler Kulturpreis 2011.
Als ihm das im Sommer telefonisch mitgeteilt wurde, «da dachte ich zunächst, jemand sei falsch verbunden. Schliesslich liegt das alles ja lange zurück.» Kurz habe er sich gefragt, ob er den Preis ablehnen solle. «Dann aber, ja, dann sah ich die Möglichkeit, bei dieser Gelegenheit Ideen zu platzieren, dafür zu werben, dass man in die Literaturszene wieder Schwung hineinbringt.» Und den braucht sie seiner Ansicht nach, die Literaturstadt Basel. «Vereine und Institutionen hauchen einer Stadt noch kein Leben ein, sie verwalten nur. Literatur muss aktiv und sichtbar sein», sagt er. Dass Nietzsche auch in Basel gewohnt hat, ja, sogar in der Bachlettenstrasse, das sei ja ganz schön. «Aber jetzt? Ist Basel deshalb Literaturstadt? Nein!»
Warum möchte er denn selber nicht wieder rausgehen? «Ich bräuchte eine Aufgabe.» Welche das sein könnte, das weiss er nicht. Überhaupt ist er ein wenig ratlos. «Ich habe mich immer um etwas gekümmert. Früher waren es die Kinder, dann die Literatur. Für mich selber habe ich mich nie wahnsinnig interessiert. Ich sollte mich um etwas kümmern.» Wiederholt er und zündet sich eine Zigarette an. Eine von vielen.
Literatur und Öffentlichkeit
Wäre seine Frau, Ursula Wernle, nicht krank geworden vor fünf Jahren, hätte er womöglich die Basler Buchmesse übernommen, hätte auf jeden Fall weitergemacht, wäre raus zu den Leuten gegangen, denn «Literatur ist eine Mitteilungsform, wie Musik auch».
Jetzt beschränkt er sich auf Veranstaltungen im Keller seines Wohnhauses. Dass das für eine Stadt wie Basel nicht reicht, weiss er selber. «Eine Lesung mit 25 Leuten, sei es bei mir oder im Literaturhaus, bedeutet noch lange nicht Öffentlichkeit. Ich wünsche mir, dass eine neue Generation kommt, in die Beizen stürmt und vorliest. Wie einst die Slam-Poeten in Amerika.»
Nochmals selber mit grosser Kelle anrühren, das kann er sich nicht vorstellen. Er, der sich nie unterkriegen liess, obschon er immer wieder Missgunst zu spüren bekam. «Hafebeggi 3» nennt er den Basler Kulturbetrieb, weil einige feine Leute ganz schön grob austeilen würden. «Manche Intellektuelle ertrugen es nicht, dass ich, ein Nicht-Akademiker, Festivals anriss.» Namen mag er keine nennen. Viel zu überheblich seien einige Basler Literaten, sagt er nur, und: «Meine Sympathien beschränken sich auf Hansjörg Schneider, Dieter Forte und Guy Krneta», sagt er bestimmt.
Die Animositäten manch anderer hat er in seinen Tagebüchern festgehalten. Sie sind in ein Romanmanuskript geflossen, das in seiner Schublade liegt. «Ich habe gegen vieles gekämpft, gegen Verleumdungen, gegen Rufmord. Niemand konnte mich unterkriegen», sagt er, «aber der Tod löscht aus.» Er zündet sich eine neue Zigarette an, greift unter die Brille und sagt: «Mit meiner Frau bin auch ich selber ein bisschen gestorben.»
Wille und Energie
Der Kulturpreis, kommt der für ihn nicht zu spät? Matthyas Jenny verneint. Wer könnte seine Nachfolge antreten, hier in Basel? «Keine Ahnung», sagt er. «Jemand, der jünger ist, 40 vielleicht, und fit. Es ist eine Frage vom Willen und von der Energie.»
Ob er die Energie für den Kühlschrank in der Bachlettenstrasse wieder anzapfen wird, ist nicht sicher. Am 28. Mai 2012 sind es fünf Jahre, seit er die Bachletten Buchhandlung übernommen hat. «Das reicht dann auch», sagt er, «man muss loslassen können.» Etwas für immer zu institutionaliseren, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Auch der Buchladen an der Bachlettenstrasse ist ein Projekt auf Zeit. Wenn er diesen dichtmacht, soll alles verschwinden. Auch sein Name – und jener seiner verstorbenen Frau, der noch immer auf der Türklingel steht.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04/11/11
Verleihung Kulturpreis: Rathaus Basel, 14. November, 18.15 Uhr.