Auf Fährtensuche im Schaulager

Rote Fäden überall: Wer sich im Schaulager dem Werk des Künstlers Paul Chan stellt, der muss über die Gedankenstränge schlagen können.

(Bild: Dirk Wetzel)

Keine Erholungsfahrt: Wer sich Paul Chans Werk stellt, den erwarten Tore zur Hölle und Wege zum Glück. Das Schaulager zeigt in einer umfassenden Ausstellung, dass sich die Reise lohnt.

Der Ausstellungskatalog beginnt mit einer Frage: Was tut dieser Kerl? Was will er? Die Rede ist vom Amerikaner Paul Chan, dem künstlerischen Tausendsassa, dessen Werke nun für sechs Monate im Schaulager zu sehen sind. Was Chan tut, ist schnell beantwortet: Er tut alles. Ob mit Video oder Kohlestift, mit einer Protestgruppe im Irak oder als Theaterregisseur in New Orleans, ob als Dozent oder Verleger – der 1972 in Hongkong geborene und in Nebraska aufgewachsene Künstler ist so vielseitig, dass eine Ausstellung über ihn kein einfaches Unterfangen darstellt.

Davon hat sich das Schaulager aber nicht abschrecken lassen. Ganz im Gegenteil: Auf den zwei Stockwerken erstreckt sich eine Schau, die sich so gründlich mit dem Werk des Amerikaners beschäftigt, dass sie sich wie eine Biographie lesen lässt – man beginnt im Erdgeschoss bei Chans Anfängen und lässt sich bis nach unten ins Heute treiben.

Künstler auf der Flucht

Die Arbeiten im Erdgeschoss lassen den Blick frei auf einen Künstler, der sich mit dem Ausserweltlichen beschäftigte, mit dem Bedürfnis, der irdischen Welt und ihren Regeln zu entkommen. «Im Rückblick erkenne ich darin eine Art Fluchtbedürfnis. Es ging darum, mir selbst eine Welt zu schaffen, die ausserhalb der Unseren liegt, eine Welt, in die ich entkommen konnte», meint Chan.

Diese Welt beginnt mit der Hölle: «Happiness (Finally) After 35’000 Years of Civilization (after Henry Darger and Charles Fourier)» (2000–2003) ist eine breitformatige Videoanimation, die eine farbenfrohe Welt zeigt, in der lustige Figuren herumturnen und sich den Bauch vollschlagen. Doch bald kippt die Situation: Der Gaumenschmaus wird zur Orgie, Essen wird gegen Waffen getauscht, Gewalt hält Einzug. Die Animation ist voller Referenzen – Diane Arbus, Hans Bellmer, der amerikanische Künstler Henry Darger und der französische Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier sollen darin erkennbar sein. Referenzen, die man nur dank des ausgezeichneten Ausstellungshefts begreift.

Die «Aussenwelt», die sich Chan in jenen frühen Jahren als Fluchtort schuf, ist dunkel.

Das Ausstellungsheft – eine Art roter Faden, der durch die Ausstellung führt, geht mit vertiefenden Verweisen auf das Werk Chans ein, die üblicherweise nur in einer Führung zur Sprache kommen. So wird darin erklärt, dass die vielen Vögel, die in Chans frühen Kohlezeichnungen und der Videoanimation «My birds… trash… the future» eine biblische Anspielung auf die unheilversprechenden Vögel sind, oder der Baumstrunk in der Videoanimation auf Samuel Becketts Theaterstück «Warten auf Godot» verweist. 

Beckett hat einen besonderen Stellenwert im Leben des Künstlers: Als er 15 war, erwachte Chans Liebe zur Kunst dank eines Beckett-Stücks, das er in einem Kleintheater seiner Heimatstadt sah. Rund 20 Jahre später inszenierte er «Warten auf Godot» im vom Wirbelsturm Katrina verwüsteten New Orleans. Er arbeitete mit Bewohnern des ärmsten Viertels der Stadt und schuf aus herumliegenden Abfällen Kulissen. Versatzstücke davon sind in der Ausstellung zu sehen, ein Einkaufswagen, an dem farbige Plastiksäcke festgemacht sind oder ein Baum, der – halb Rohr, halb Ast – vor der Kohlezeichnung des Titelblatts von George W. Bushs Biographie «Decision Points» steht.

Es geht auch anders

Die «Aussenwelt», die sich Chan in jenen frühen Jahren als Fluchtort schuf, ist dunkel und durchzogen von starken politischen Botschaften. Aber Chan kann auch ruhiger: Im Werkzyklus «The 7 Lights» projiziert er grossformatige Fenster aus Licht auf Boden und Wände, die ganz ohne Referenzen oder Ausstellungsheft auskommen.


Ausschnitt aus dem «The 7 Lights»-Zyklus (Stedelijk Museum Amsterdam)

Es ist eine auf den Kopf gestellte Welt, die der Zuschauer auf der anderen Seite der Lichtfenster zu Gesicht bekommt: Gegenstände, die sonst von der Schwerkraft am Boden gehalten werden, gleiten langsam nach oben. Fahrräder, Versatzteile, Brillen, Züge, alle treiben sie lautlos und in einer meditativen Atmosphäre aufwärts, in einer friedlichen Dekonstruktion der Welt. Nicht so die Menschen: Schattenmänner und -frauen werden in die entgegengesetzte Richtung nach unten geschleudert, als wären sie dazu verdammt, auf der Erde zu bleiben.

Dazu verdammt, auf dieser Erde zu bleiben sei auch er, meint Chan – «on this sorry excuse for a world».

Dazu verdammt, auf dieser Erde zu bleiben sei auch er, meint Chan – «on this sorry excuse for a world». Und das hätte er in den letzten vier Jahren akzeptiert. Er sei älter geworden und müsse die Welt nicht mehr neu erfinden. Aber sie erklären, das will er immer noch.

Und das tut er am Liebsten in Form von Verbindungen, oder noch treffender: Synapsen. Sobald man nämlich das Untergeschoss erreicht, findet man sich in Kabelgeflechten wieder, die Türen und Schuhe, Boxen und Bilder miteinander verbinden und sogar bis hoch aufs Dach des Gebäudes ihren Weg bahnen. «Arguments» nennt der Künstler die Kabelformationen, und es scheint, als wäre man im Hirn des Künstlers angekommen, da, wo sich Ideen und Auseinandersetzungen materialisieren und Gedankenstränge sichtbar gemacht werden. 

Wurzeln schlagen, Batman erkennen

Paul Chan ist ein Fährtenleger, liest man im roten Faden und merkt schnell: Die Fährten hier sind zahlreich und führen, wie die Kabel, auch schon mal ins Nirgendwo. Wie in der Rhizom-Theorie von Guattari und Déleuze wird der Betrachter mit einem teils verflochtenen, teils verknoteten System konfrontiert, das überall Wurzeln schlagen kann und sich stets in verschiedene Richtungen entwickelt. Oder gegen eine Wand läuft. In Chans Fall gegen eine Wand, die er mit 1005 Büchern jeglicher Art vollgepflastert hat: «Volumes» sind in Bilder verwandelte Bücher, die ihrer Inhalte entledigt und mit dem Umschlag nach oben an der Wand im Untergeschoss befestigt wurden.

Eine solche Umfunktionierung geschieht auch in «Oh why so serious». Hier hat Chan eine Computertastatur in eine Stadt verwandelt, dessen Gebäude sich bei näherem Hinsehen als Grabsteine entpuppen. Der Titel lässt einen unweigerlich an die Szene im Film «The Dark Knight» erinnern, wo der Bösewicht Joker Batman erzählt, wie ihn sein Vater gefragt habe «why so serious?» und ihm anschliessend ein Lächeln in die Mundwinkel schnitt. Die düstere Welt macht auch vor dem Untergeschoss nicht halt, aber hier verweist sie auf «this sorry excuse for a world», sie versucht nicht, ihr zu entkommen.

Um wieder auf die anfangs gestellte Frage zu kommen: Was der Kerl alles tut, ist klar. Was er will, ist vielleicht genau das: Sich der Welt stellen. Ein roter Faden dazu macht Sinn, ist aber nicht immer von Nutzen. Manchmal reicht auch das blosse Sichtbarmachen des Gedankengewirrs, um es zu verstehen. Und obwohl man sich zwischen den Welten verirrt und verliert, werden die richtigen Fragen gestellt. Das ist es, was Kunst ausmacht und was Paul Chan im Schaulager gekonnt und gerissen aufzeigt.

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«Paul Chan – Selected Works», Schaulager, Münchenstein. 12. April bis 19. Oktober 2014. Vernissage 11. April, 17.30 Uhr.

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