Aufruhr im Paradies

Das Filmfestival in Cannes verwebt dieses Jahr Vergangenheit und Zukunft des Kinos. Nach den ersten drei Wettbewerbstagen ist der grosse Hit aber noch nicht auszumachen.

Haben sie eine Chance auf die Goldene Palme? Regisseur Ulrich Seidl (r.) mit seinen Schauspielern Inge Maux, Peter Kazungu und Margarethe Tiesl (v.l.). (Bild: Keystone)

Das Filmfestival in Cannes verwebt dieses Jahr Vergangenheit und Zukunft des Kinos. Nach den ersten drei Wettbewerbstagen ist der grosse Hit aber noch nicht auszumachen.

Zum 65. Jubiläum ist Cannes das wohl schönste Cover Girl des Kinos gerade recht: In einem wenig bekannten Foto strahlt Marilyn Monroe riesengroß vom Festival-Palais: Auf dem Rücksitz einer Limousine hat man ihr eine Geburtstagstorte in die Hand gedrückt, und wie anders könnte sie die einsame Kerze darauf auspusten als mit zum Kussmund geformten Lippen? Früh in ihrer Hollywoodkarriere aufgenommen, zeigt das Bild den unverbrauchten Star im Angesicht noch unbegrenzter Möglichkeiten. Das ist noch nicht die flackernde Kerze im Wind, deren tragisches Erlöschen sich am 5. August zum fünfzigsten Male jähren wird.

Und steigt man hinab zum Filmmarkt im Untergeschoss des Festivalgebäudes, begegnet man mit Romy Schneider gleich der nächsten tragischen Ikone. Raymond Danon, 82-jähriger Veteran unter Frankreichs großen Filmproduzenten, sucht noch Investoren für sein Projekt der bislang anspruchsvollsten Filmbiographie über den Star. Geschrieben von ihrem treusten Freund, dem Drehbuchautor Jean-Claude Carriere, geht es um ihre letzte Lebensphase und die Kraftanstrengung, nach dem Tod des Sohnes Danons eigene Produktion «Die Spaziergängerin von Sans-Souci» zu meistern.

Zukunft und Vergangenheit des Kinos, nirgends liegen sie so nah beisammen wie in Cannes. Am dritten Festivaltag haben sich bereits ein rundes Dutzend wichtiger Filme an der ihnen vorausgegangenen Erwartung messen lassen müssen – was für den ersten französischen Beitrag besonders enttäuschend ausfiel. Regisseur Jacques Audiard, für seinen Gangsterfilm «Un prophète» hier im Jahre 2009 mit dem Grand Prix geehrt, wagte sich mit «Rust & Bone» an ein schweres Melodram. Die Geschichte der emotionalen Öffnung eines Schlägertypen gegenüber einer Beinamputierten leidet auch künstlerisch an der Unvereinbarkeit zweier Gegensätze: Einerseits schwebte Audiard offenbar jener Realismus vor, den die belgischen Dardenne-Brüder zur Meisterschaft gebracht haben – ein aus genauer Beobachtung entwickeltes Kino menschlicher Anteilnahme. Doch obwohl sein Hauptdarsteller-Paar Marion Cotillard und Matthias Schoenaerts die nötige Ausstrahlung dafür mitbringt, ertränkt er ihr Spiel in expressiver Filmmusik.

Frankreichs führender Filmkomponist Alexandre Desplat vertonte allein im Jahr 2011 neun Filme und ist jetzt gleich vierfach hier vertreten. Die Qualität leidet darunter hörbar. Dass Audiards Inszenierung dabei auf übergroße Schauplätze setzt (die junge Frau verliert ihre Beine als Dompteuse von Killerwalen), macht ihren Einsatz nicht passender: Es ist der typische Fall von Überorchestrierung, der bei dieser Verfilmung von Kurzgeschichten des Amerikaners Craig Davidson zu einer unerwünschten Wirkung führt: Je mehr sich der junge Mann in der Geschichte seinen Gefühlen öffnet, desto stärker mehr geht man im Publikum auf emotionale Distanz.

Überorchestrierung

Überorchestrierung ist auch das Problem eines weiteren von Desplat vertonten Wettbewerbsbeitrags: Der Italiener Matteo Garrone wähnt sich auf Federico Fellinis Spuren, wenn er in «Reality» in eine medial überzeichnete Wirklichkeit führt: In einer gigantischen Big-Brother-Fernsehkulisse werden die aus dem Leben rekrutierten Darsteller zu Statisten ihrer selbst. Die Eröffnungsszene, in der ein Gaststar wie ein Heilsbringer per Helikopter eingeflogen wird, ist durchaus stark in ihrem fellinesken Pomp. Doch verfängt sich der Film bald selbst im Glanz des Falschen, das er anprangert. Und die Beobachtung, dass sich Realität und mediale Darstellung immer mehr angleichen, war schon nicht mehr neu, als sie der Kulturwissenschaftler Marshall MacLuhan vor fünf Jahrzehnten formulierte. Im Italien im Jahre Null nach Berlusconi ist die Warnung auch hoffentlich nicht mehr ganz so nötig. Hätte Garrone Recht mit seinem Kulturpessimismus, dann könnten wir bald auch die guten von den schlechten Filmen nicht mehr unterscheiden. Doch noch fällt hier das Urteil leicht.

Wie leichtfüßig bewegt sich dagegen der Thailänder Apichatpong Weerasethakul auf diesem unsteten Grund, dem Zwischenreich zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Nur eine gute Stunde dauert seine außer Konkurrenz gezeigte Miniatur «Hotel Mekong», eine dokumentarisch anmutende Impression aus einem in Würde verfallenen Gästehaus vor malerischer Flusslandschaft. Keine der Figuren sei erfunden, bemerkt der Abspann stolz, was gleichwohl nicht ausschließt, dass es sich bei ihnen doch um Geister handeln könnte. Wie bei Weerasethakuls Cannes-Gewinner «Uncle Boonmee» von 2010. Unterlegt mit einer einfachen Gitarrenimprovisation entfaltet der durchweg in Abendstimmungen gehaltene Film einen eigentümlichen Sog, der freilich nichts vernebelt, sondern ganz im Gegensatz den Blick für das Besondere schärft.

Deutlichkeiten

Der Österreicher Ulrich Seidl schärft den Blick dagegen gern für das Banale – dem er freilich eine überhöhende Intensität verleiht. Das «Paradies» seines gleichnamigen Spielfilms findet eine Gruppe von Frauen über fünfzig als Sextouristinnen in Kenia. Wie immer, wenn sich Seidl mit der Hartnäckigkeit einer Stubenfliege zum Kulturfolger des Kleinbürgertums macht, meint man früh zu wissen, wohin die Reise geht – und ist dann doch überrascht, wie tief es sich in diesen nur scheinbar vertrauten Zivilisations-Dschungel vordringen lässt. Denn mit käuflicher sexueller Befriedigung sind die Damen hier keineswegs zufrieden. Sie erwarten von ihren gut gebauten Dienstleistern ein komplexes Zeremoniell, in dem der Handel verschleiert wird durch Aufmerksamkeiten und ein verstecktes Bezahl-System.

Dennoch empfindet es die Protagonistin als schockierend, als sie die wahren Wege ihres «Spendenflusses» aufspürt: Da ist die vermeintlich notleidende Schwester ihres Gigolos doch tatsächlich seine Ehefrau. Man kennt Seidl gut genug, um bei diesem Thema explizite Szenen zu erwarten. Was es jedoch nicht gibt, ist ein Kokettieren mit der Anmutung von Pornographie. Gemeinsam mit dem großen amerikanischen Kameramann Ed Lachman («I’m not There») hat Seidl zu einer Ästhetik gefunden, die der Deutlichkeit des Gezeigten einen weiten und diskreten Umraum entgegensetzt. Penetration mag hier inhaltlich ein Thema sein, doch der penetrierte Blick, wie er dem sozialen Realismus im Kino so oft anhaftet, ist Seidl fern. «Paradies» ist einer seiner besten Filme und ein früher Höhepunkt im Wettbewerb.

Aber ob das wohl etwas sein könnte für Jury-Präsident Nanni Moretti? Der große Satiriker des italienischen Autorenfilms liebt das Kino doch meistens etwas distingierter… Wohin hat uns Marilyns Lächeln nur diesmal eingeladen?

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