Die Trip-Hop-Koryphäen aus Bristol tauchten den Marktplatz von Lörrach mit ihrer Bühnenshow in ein Datenmeer. Dabei sparten Massive Attack nicht mit politischen Anspielungen.
Es hagelt Flaggen und Parteilogos: Stroboskopartig blitzen sie im Hintergrund als Projektionen auf. Damit wird der proppenvolle Lörracher Marktplatz schon von Beginn an mit einer reissenden Datenflut eingedeckt. Nicht nur visuell wird das Publikum wachgerüttelt: Gleichzeitig hämmert die Band ein wuchtiges «United Snakes» hin.
Der tagtägliche Textschwall im Internet zieht sich als Konzept durch den Abend. Der Hagel an Informationen, manche davon heftig, andere halbgar oder vage, verdichtet sich beim Auftritt von Massive Attack am «Stimmen»-Festival. Bisweilen wirken die Effekte etwas überladen, oft aber treffen die Referenzen den Nerv der Zeit. Ob Bilder von Flüchtlingen, Namen von zerstörten Kulturdenkmälern wie aktuell in Syrien oder ein endloser Zahlensalat – alles zuckt andeutungsweise vorbei.
Trotz Krücken kommt der Engel
Die beiden Köpfe hinter Massive Attack, Robert «3D» Del Naja und Grant «Daddy G» Marshall, halten sich meist im Hintergrund der Bühne auf. Viel Raum bekommt dafür der Sänger Horace Andy, der beim zweiten Song «Hymn of the Big Wheel» schon vor den beiden Masterminds die Bühne betritt. Der Jamaikaner steht mit Krücken hinter dem Mikrophon.
Robert Del Naja, einer der beiden Köpfe hinter dem Trip-Hop-Projekt, gibt vor dem Hintergrund eines hastigen Zahlensalats den Sprechgesang zum Besten. (Bild: Juri Junkov)
Beinahe wäre die markante Stimme, die dem Sound aus Bristol seit den neunziger Jahren ihren Schliff verpasst, ausgeblieben: Anfang des Monats
musste Massive Attack gar ein Konzert absagen, da es um die Gesundheit von Horace Andy schlecht bestellt war. Nun ist er aber wieder auf den Beinen. Obschon er nicht gut zu Fuss ist, tut das seiner Bühnenpräsenz keinen Abbruch: Besonders das düstere und energisch vorgetragene «Angel» erntet begeisterten Applaus.
Ein Requiem für Grossbritannien und die EU
Die Trip-Hop-Mitbegründer konzentrieren sich ganz auf das Bild- und Klangkonzept, gesprochen wird kaum. Einen einzigen Kommentar kann sich Robert Del Naja dann aber doch nicht verkneifen: «Der nächste Song ist ein Requiem.» Gemeint ist damit «Eurochild». Das Stück vom Album «Protection» hat mittlerweile über zwei Jahrzehnte auf dem Buckel. Nach dem Brexit bekommt der Titel nun eine neue Konnotation, sodass die Band ihn wieder aus dem Archiv hervorholt. Dazu flackern auch hier passende Wörter und Sätze auf – diesmal in deutscher Sprache: «Einheit», «Solidarität», «Kein Visum für Ibiza».
Alle Floskeln aus der Politik, der Presse und den Social Media ziehen vorbei. Nach dem Gewitter an Worthülsen gibt’s dann zum Schluss des Songs doch noch ein optimistisches Statement zu Europas Krise: «Das stehen wir gemeinsam durch.»
Ein gut besuchter Lörracher Marktplatz: «Massive Attack» war ein Magnet an der diesjährigen «Stimmen»-Ausgabe. (Bild: Juri Junkov)
Auch das psychedelische «Inertia Creeps» mit dem Sprechgesang von Robert Del Naja wird von der Aktualität begleitet: Im Hintergrund jagt eine Schlagzeile die andere: Der Putschversuch gegen Erdogan, die Attentate von Nizza und Würzburg, gemischt mit Banalem wie Pokémon Go und Promi-Klatsch um die Frisur von Jennifer Lopez.
«Das stehen wir gemeinsam durch» als Motto des Abends
Während die Klassiker des Bristol-Sounds sehnlichst erwartet werden, gehen die wenigen neueren Stücke etwas unter – so etwa «Ritual Spirit» aus der EP dieses Jahres mit dem Falsett des Londoner Sängers Azekel. Jubelrufe vom Marktplatz sind hingegen wieder am Schluss zu hören. Als letzte Stimme kommt diejenige von Deborah Miller ins Spiel. Dabei werden wohl bei manchen Erinnerungen an die frühen 90er-Jahre wach: Bei «Safe from Harm» vom ersten und stilprägenden Album «Blue Lines» übernimmt Miller den Gesangspart der damaligen Sängerin Shara Nelson.
Auch in der einzigen Zugabe «Unfinished Sympathy» packt sie mit ihrer Stimme noch einmal das Publikum. Mit dem einen Satz, der es den Briten angetan hat, verlässt die Band die Bühne: «Das stehen wir gemeinsam durch» wird als Projektion noch eine Weile im Raum stehen gelassen.