Benjamin von Stuckrad-Barre schreibt sich zurück ins Leben

Benjamin von Stuckrad-Barre galt als Wunderkind der Popliteratur, doch dann begann er sich mit Kokain und Bulimie selbst zu zerstören. Nun kommt mit «Panikherz» sein fulminantes Bekenntnisbuch.

Benjamin von Stuckrad-Barre liest. Und raucht – nur noch.

(Bild: Daniel Reinhardt)

Benjamin von Stuckrad-Barre galt als Wunderkind der Popliteratur, doch dann begann er sich mit Kokain und Bulimie selbst zu zerstören. Nun kommt mit «Panikherz» sein fulminantes Bekenntnisbuch. Darin rettet sich der Autor selbst vor den Lines und Kloschüsseln des deutschen Kulturbetriebs.

Es gibt diesen Satz des amerikanischen Schriftstellers F. Scott Fitzgerald: «There are no second acts in American lives.» Benjamin von Stuckrad-Barre, das gealterte Jungtalent der 90er-Jahre-Popliteratur, will das für sich nicht gelten lassen: Auf 564 Seiten schreibt sich in «Panikherz» einer beinah um Kopf und Kragen und damit dagegen an, dass der erste Akt seines Lebens sein letzter sein wird. 

Dabei hat es der erste Akt von Stuckrad-Barres Leben in sich: Aufgewachsen in der norddeutschen Provinz in einer Pfarrersfamilie, schlawinert er sich nach dem Abitur zu einem Job als Musikjournalist in Hamburg, arbeitet bald schon fürs deutsche Fernsehen und schreibt schliesslich Gags für Harald Schmidt.

Gummibärchen für den Bulimiker

1998 veröffentlicht Stuckrad-Barre seinen ersten Roman «Soloalbum» – und wird schlagartig berühmt. Er liest vor tausenden Menschen, junge Frauen schicken ihm Nacktfotos. Er sieht sich alle seine Auftritte in Fernsehtalkshows an und findet sich zu dick – er, der immer schmächtig war. «Fotovorbereitend ass ich fast gar nichts mehr», heisst es im Buch.

Kurz darauf entdeckt er das Kotzen: «Hundertprozent Lesesaalauslastung, ein Prozent Fett – das ist das Glück.» Die Details seiner Krankheit beschreibt Stuckrad-Barre grausam genau: die eingerissenen Mundwinkel, die angenehme Kühle des Toilettenwassers und schliesslich die Einnahme von roten Gummibärchen am Anfang und am Ende jeder Fressorgie. «Dann wusste man später, wann man aufhören konnte, wenn die nämlich wieder da waren.»

Kotzen und koksen

Schliesslich entdeckt er Kokain als ideales Nahrungsergänzungsmittel zu seiner Bulimie: Kotzen, koksen – das war seine Vollbeschäftigung über die nächsten Jahre. In den Beschreibungen davon entwickelt Stuckrad-Barre einen erstaunlichen Sog. Zum Kotzen kommt nun der Suchtalltag, selten wurde beides so schmerzhaft genau beschrieben – die Bulimie noch dazu von einem Mann.

Doch das lässt ihn keineswegs an seinem Männlichkeitsbild zweifeln. Auch wenn im ganzen Buch neben seiner Mutter und Agentin keine Frau eine Rolle spielt, ist es Stuckrad-Barre anzurechnen, dass er ganz ohne machoide Kumpelhaftigkeit auskommt. Anders als zum Beispiel der ebenfalls genauigkeitsfanatische Karl Ove Knausgård.

2. Akt: Auftritt Udo

Auf der Höhe seines Erfolgs galt Stuckrad-Barre mit Christian Kracht und später auch Judith Hermann als Wunderkind der deutschen Popliteratur. Er galt als unheimlich talentiert und ebenso selbstbesessen. Keiner konnte das zeitgeistige Mediengetöse, die spätpubertäre Orientierungslosigkeit von Mitzwanzigern und popkulturelle Referenzen süffiger und bestechender zu Texten verwursten als er.

Doch im Gegensatz zu Kracht und Hermann konnte sich Stuckrad-Barre nie von der Etikette «Popliteratur» befreien. Auch mit dem autobiografischen «Panikherz» gelingt ihm das (noch) nicht. Doch er musste Stuckrad-Barre loswerden, um selbst dahinter zu verschwinden zu können, wie er sagt.

Diese Selbstrettung beginnt im Roman mit dem leibhaftigen Auftritt seines grössten Idols: Udo Lindenberg. Heute noch kennt er alle Texte des Sängers auswendig, und nun hilft ihm «Udo», der selber nur noch wie eine schlechte Parodie seiner selbst wirkt, runter von seiner «Kokain-Diät».

Es ist der erzählerische Schwachpunkt dieses antreibenden Entwicklungsromans. Die Lindenberg-Vergötterung geht über Seiten hinweg und unterschlägt die Gegenseitigkeit ihres Verhältnisses: Schliesslich hätte ihm «Stuckimann», so Lindenberg, selbst aus einer 25-jährigen Schaffenskrise geholfen.

Doch am Ende ist Stuckrad-Barre angekommen am Pool des «Chateau Marmont», des Star-Hotels Hollywoods. Er ist nüchtern (bis auf Schlaftabletten und Anti-Depressiva) und hat sich mit «Panikherz» das erschrieben, was F. Scott Fitzgerald amerikanischen Biografien nicht zugestand – einen zweiten Akt, der nun beginnen kann.

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«Panikherz» von Benjamin von Stuckrad-Barre, 564 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, 30 Franken.

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