Bergferien für Musikhungrige

Das Menuhin Festival in Gstaad präsentiert nicht nur Klassik-Stars in 50 Konzerten. Das pädagogische Erbe des Geigenvaters Yehudi Menuhin wird auch in öffentlichen Meisterkursen für Nachwuchsmusikerinnen und -musiker, Jugendorchesterwochen und preisgekrönten Kinderkonzerten weiter geführt.

Bis auf den letzten Platz besetzt: Die Kirche Rougemont während des Konzerts mit Jordi Savall. (Bild: Raphael Faux)

Das Menuhin Festival in Gstaad präsentiert Klassik-Stars in 50 Konzerten. Das pädagogische Erbe des Geigenvaters Yehudi Menuhin wird auch in öffentlichen Meisterkursen für Nachwuchsmusikerinnen und -musiker, Jugendorchesterwochen und preisgekrönten Kinderkonzerten weiter geführt.

«Nein, nicht so! Der Ton braucht einen scharfen Akzent. Noch einmal!», fordert Ivan Monighetti auf Russisch. Er sitzt im rustikalen Dachzimmer des Kleinen Landhaus Saanen, auf einem futuristisch gestalteten Klappstuhl. Es ist heiss. Das warme Holz verströmt einen Duft wie in einer Sauna. Dennoch sind alle hochkonzentriert bei der Sache. Alle, das sind die Chinesin Fanglei Liu (21), die in Berlin Violine studiert, die Geigen-Schülerin Tatiana Kryachkova (13) aus Russland, ihre Landsfrau Anna Kolotylina (25), die in den USA Bratsche studiert, und Ivan Monighetti am Violoncello. Er ist nicht nur ein erfolgreicher Interpret, sondern auch ein begehrter Cello-Lehrer. Seit vielen Jahren hat der gebürtige Russe eine Professur an der Musik-Akademie Basel inne. Seine berühmteste Schülerin: Sol Gabetta.

Nun unterrichtet er in der ersten Ausgabe der Gstaad String Academy: Cellisten im Einzelunterricht, andere Streicher im Ensemble. Gerade steht Dmitri Schostakowitschs 8. Streichquartett auf dem Programm, und das Konzept der Academy sieht vor, dass die Schüler mit den Lehrern spielen. So sitzt Monighetti mit nackten Füssen hinter seinem Cello und demonstriert, wie scharf und leer die kleine Begleitfigur an dieser Stelle klingen muss. Detailarbeit mit grosser Wirkung.

Anschauungsunterricht

Zuhörer gibt es an diesem späten Sonntagnachmittag keine – obwohl alle Kurse der Academy öffentlich sind. Vielleicht hat es sich im mondänen Gstaad noch nicht herumgesprochen, dass man an diesem viel umworbenen Ort auch ganz andere, hochinteressante Musikerfahrungen sammeln kann. Denn nirgendwo als im Beobachten einer solchen Unterrichtssituation erlebt der Musikliebhaber dermassen prägnant, wie vielschichtig ein Werk ist, wie Interpretationen entstehen, mit welchen Mitteln ein bestimmter Klang erzeugt werden kann, warum es an dieser Stelle so und nicht anders tönen soll.

Doch auch für die Studierenden sind solche Kurse wichtig. «Für mich ist es grossartig, dass ich mich eine ganze Woche lang nur auf Bach und Mozart konzentrieren kann», sagt Diamarda Dramm (21) aus Boston. Sie besucht den Violinkurs bei Igor Ozim. Die gebürtige Holländerin trägt bequeme Kleidung, die Pilotensonnenbrille lässig ins Haar gesteckt. Soeben hat sie die grosse Fuge aus Johann Sebastian Bachs Solo-Sonate in a-Moll gespielt – pointiert, strukturiert, klangschön. Und dennoch bemängelt Ozims Assistentin Wonji Kim, dass hier der Bogenstrich kürzer, dort länger sein sollte, gibt Anregungen, wohin die Phrase gehen soll, welche Stimme wo die hauptsächliche ist.

Hohes Niveau

Wie alle Kursteilnehmerinnen ist die junge Holländerin nach dem Einsenden einer CD mit Klangbeispielen ausgewählt worden. Das Niveau ist hoch, die Kursteilnehmer international. Dank zweier Stiftungen sind Meisterkurs und Unterkunft in Gstaad für alle Studierenden kostenfrei. Dramm geniesst ihren Aufenthalt: «Es ist ein idealer Ort zum Musizieren. Die herrliche Natur, keine Stadt, die ablenkt…» Nach den Abschlusskonzerten, die regulärer Teil des Festivalprogramms sind, zieht sie weiter, zur Lucerne Academy, um zeitgenössische Orchesterwerke mit Pierre Boulez einzustudieren.

Wiederbelebte Tradition

Gstaad ist nicht das einzige Festival, das sich für den musikalischen Nachwuchs engagiert. Neben Luzern schreibt sich Verbier die Spitzenförderung explizit auf die Fahnen. Und obwohl die Musikpädagogik in Gstaad Tradition hat, brauchte es erst das Engagement des in Olsberg ansässigen Festivalintendanten Christoph Müller, um diese Tradition wieder zu beleben.

«Als Yehudi Menuhin 1957 das Festival gründete, hat er seine Lehrtätigkeit ganz selbstverständlich ausgeübt: Er hat Schüler ins Saanenland eingeladen, mit ihnen gearbeitet und konzertiert.» Menuhin gab 1996 im Alter von 80 Jahren die Festivalleitung ab, womit auch die pädagogische Ausrichtung des Festivals endete. «Wir wollen diese Tradition nun wieder beleben», sagt Müller.

Lokale Verankerung

Seit vier Jahren werden sehr erfolgreich Gesangskurse mit Silvana Bazzoni Bartoli veranstaltet – Mutter und einzige Lehrerin der berühmten Sopranistin Cecilia Bartoli –, dazu eine Amateur- und eine Jugendorchesterwoche mit Abschlusskonzerten im grossen Festivalzelt. Nun gibt es neben Streicher, Klavier- und Barockmusikkursen auch ein Schlagzeug-Tanz-Projekt. «Wir haben ganz unterschiedliche Zielgruppen. Das ‹drum&dance@Menuhinfestival›, für das Kursleiter Alex Wäber im vergangenen Jahr den Junge-Ohren-Preis gewonnen hat, richtet sich an die einheimischen Kinder», sagt Müller. Damit verankert er das Festival in der Region – denn wenn die Kinder der Schule in Saanen mitsamt ihren Familien das Festivalzelt zur Abschlussperformance besuchen, werden Hemmschwellen abgebaut und Vertrauen bei der Bevölkerung gewonnen.

Vertrauen gewinnen – trotz mittlerweile 56 Jahren Festivaltradition ist es immer noch und immer wieder nötig, Wurzeln in der Region zu schlagen. Müller versucht dies, indem er populäre Konzerte im Festivalzelt veranstaltet: Nikolai Rimski-Korsakows sinfonische Dichtung «Scheherazade» etwa mit dem Australian Youth Orchestra. Oder Smetanas «Moldau» – passend zum diesjährigen Festivalmotto «Wasser» – mit dem 2010 eigens gegründeten Gstaad Festival Orchestra. Die Musiker dieser Formation stammen zwar überwiegend aus dem Kammerorchester Basel, das ebenfalls von Christoph Müller gemanagt wird. Doch für die Identifikation der Sponsoren wie des Publikums mit dem Klangkörper spiele es eine Rolle, ob das Orchester auf der Bühne Gstaad im Namen trage oder nicht, so Müller.

Volle Kirchensäle

Die Kirchen in und um den Berner Oberländer Ferienort hingegen ziehen ein ganz anderes Publikum an. Hier erklingt Kammermusik, werden experimentelle Konzertformate getestet, Nachwuchskünstler vorgestellt, alte Musik zelebriert. Als am vergangenen Sonntag mit Jordi Savall ein Altmeister der Gambe zum Konzert lud, war die Kirche Rougemont zum Bersten gefüllt – zum Missvergnügen der Musiker. In der Pause erklärt Savall, warum: «Die Akustik war sehr schön, als die Kirche leer war. Nun sind aber so viele Leute darin, dass es keinen Platz mehr für die Musik gibt. Es ist viel zu warm und zu feucht, die Instrumente können so nicht klingen.»

Savall hätte lieber in einer grösseren Kirche gespielt, doch er ist viel zu bescheiden, um sich beim Konzert etwas anmerken zu lassen. Ohnehin sitzen viele Savall-Fans im Publikum, die sein Spiel von seinen zahlreichen Aufnahmen her kennen. So fällt es zwar auf, dass die eleganten französischen Barock-Suiten von Marin Marais hier sehr dumpf und dynamisch flach klingen, und es ist schade, dass man nur in den ersten Reihen dem Ensemble auf die Finger schauen kann, dennoch ist es ein Ereignis, den 72-jährigen Musiker noch einmal mit diesem Repertoire zu erleben.

Selbst einige Teilnehmer der Meisterkurse haben sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Auf dem Rückweg zwängen sie sich mit ihren grossen, bunten Instrumentenkoffern in den Zug nach Gstaad. Vielleicht dämmert den verwunderten Wanderern auf dem Nebenplatz so, was man in dieser Umgebung auch noch erleben kann. Zumindest während sieben reichhaltiger Festivalwochen im Sommer.

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