Berlin, das masslose

Hanns Zischler hat ein Buch über Berlins Baugeschichte geschrieben. Wirklich? Das Buch, aphoristisch und sprunghaft, lässt sich nicht festschreiben – und trifft genau damit das Bild der Stadt.

Hanns Zischler hat ein Buch über Berlins Baugeschichte geschrieben. Oder worüber eigentlich? Das Buch, aphoristisch und sprunghaft, lässt sich nicht festschreiben – und trifft genau dadurch das Bild der Stadt. Am 14. Mai liest er im Literaturhaus Basel.

Hanns Zischler hat ein Buch geschrieben, das gezielt zerstreut, worum es geht. Die Kapitel von «Berlin ist zu gross für Berlin» haben die Form der Anmerkung, setzen irgendwo ein und folgen ohne inhaltliche Überleitung aufeinander. Ihre einzige Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie von oder in Berlin handeln.

Auf die Erläuterung, wie es im äussersten Westen der Stadt zu dem Schutthügel namens Teufelsberg kam, folgt das Portrait von Oskar Huth: Der Wehrdienstverweigerer hat den zweiten Weltkrieg illegal in Berlin verbracht und ist in dieser Zeit vor allem spaziert – er hatte keine sichere Bleibe. Zischler kennt ihn noch aus den 70er Jahren, als Oskar Huth in der Szenekneipe «Zwiebelfisch» einen moderaten Alkoholismus pflegte. Etwas weiter folgt die Würdigung einer Berliner Künstlerin, kurz und knapp, benachbart durch den wohlbegründeten Vorschlag, wie man das Areal des stillgelegten Flughafens Tempelhof gestalten könnte.

Luft für den Text

Es besteht kein Anlass, im Buch querzulesen, das passiert von allein, wenn man den Text von vorn nach hinten liest. Zischler verzichtet auf den zusammenhängenden Aufbau, wodurch viel Luft in den ungefügten Zwischenräumen Platz hat. Umso leichtfüssiger kann Zischler seine akuraten Rechercheergebnisse zur Sprache bringen: Das Buch verbindet Sprunghaftigkeit mit Tiefgang.

Trotzdem hat es ein thematisches Zentrum: Die Baugeschichte Berlins. Über die gegenwärtige Bebauung ist aus historischem Blickwinkel verglichen mit anderen Städten wenig zu sagen. Wer bemerkenswerte Baudenkmäler besichtigen will, fährt woanders hin. Für Berlin ist bezeichnend, dass seit dem 19. Jahrhundert wiederholt ganze Viertel ausradiert wurden, um die Stadt neu zu erfinden. Dies geschah jeweils im Zeichen einer masslosen Ausdehnung, ohne aber irgendwo eine Verdichtung zu erzielen. Berlin, das ist die Riesenstadt, die nirgends grossstädtisch ist (ausser auf fatale Weise am Alexanderplatz). Die Ausdehnung geschah teils mit grossen Vorstellungen, führte jedoch meist in gesichtslose Kompromisse. Zischler zeichnet die historische Verkettung von Fehlplanungen nach und zeigt Ideen, die sogar vorhanden waren, deren Umsetzung aber versäumt wurde.

Ein Text so sprunghaft wie Berlin

Berlin erscheint in dieser kritischen Darstellung als das Abbild der deutschen Geschichte, die von Grössenwahn und Verfehlung durchzogen ist. Das ist ein ungewohnter Ton über die Stadt, die jeder zweite Künstler zur Heimat wählt oder seinen Roman dort spielen lässt. Zugleich spricht aus dem Text die Faszination für eine Stadt, die sich von gestalterischen Masterplänen nicht fassen lässt (obwohl sie das immer wieder so gern gehabt hätte). Die aphoristische Form des Buches mit seinen vielen Bildern (historischen Aufnahmen und solchen von Zischler selbst) und mit den verschiedenen Erzählformen ist das eigentliche Portrait der Stadt – frei nach dem kanadischen Geisteswissenschaftler Marshall McLuhan: «The medium is the message.» Der schreibende Zischler fühlt sich merklich wohl in seiner Ausdrucksform, so wie sich vermutlich auch der spazierende Zischler in Berlin wohlfühlt. Seit den 60er Jahren ist Berlin auch Zischlers Wahlheimat (er stammt ursprünglich aus einem fränkischen Kaff).

Zischlers Buch, das selbst ein Spaziergang ist, liest sich sehr gut. Zugleich bleibt man auch mal stecken oder verliert den Faden. Ganz ohne Trockenheit ist die Materie ja nicht. Um so interessanter dürfte am Dienstag, 14. Mai, ein Besuch im Literaturhaus Basel sein, das im Netzwerk mit den Literaturhäusern Berlin, Graz, Hamburg, Köln, Leipzig, München, Rostock, Salzburg, Stuttgart und Zürich einen Preis verleiht – dieses Jahr an Hanns Zischler. Zischler gehört neben seiner Schreibtätigkeit zu den gefragten deutschen Schauspielern (Filme mit Wenders, Godard, Spielberg) und hat als solcher reichlich Schalk im Nacken. Gut möglich, dass sein Auftritt eine equisite Mischung aus Flaneursprosa, feiner Reflexion und schauspielerischer Würze ergibt.

 

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