Es ist eine Razzia mit Ansage: Am letzten Samstag im Monat Mai wird Supercop Judge Dredd das Basler Bildrausch-Festival stürmen. Eine neue Droge schlägt die Zuschauer in ihren Bann, sie verlangsamt die Wahrnehmung und lässt den Alltag regenbogenfarben leuchten. Slo-Mo heisst der Stoff, aus dem die Fieberträume in«Dredd» (2012) sind, und gezeigt werden diese im heiss gehandelten stereoskopischen Verfahren, vulgo:3-D.
Doch was hat technologisch gedoptes Blockbusterkino mit Bildrausch zu tun, das sich auch ohne den Einsatz von Raumillusion seit vier Jahren erfolgreich mit den Nischen, Ecken und scharfen Kanten des internationalen Filmschaffens beschäftigt?
Die Antwort lautet «Wahrnehmungslabor 3-D», ein interdisziplinäres Rahmenprogramm, das den Blick der Festivalgänger mit einem «Kaleidoskop aus Leitfragen und Aspekten» für räumliche Bilder schärfen soll. Daran beteiligt sind neben dem Stadtkino auch das Institut für Medienwissenschaften und das Kunsthistorische Seminar der Universität Basel sowie der Nationale Forschungsschwerpunkt Bildkritik, Eikones.
Zwischen Gimmick und Paradigma
Man habe sich regelrecht gegenseitig «angesteckt» mit der Begeisterung für diese vielperspektivische Kooperation, erklärt dazu Filmwissenschaftler Matthias Wittmann vom Institut für Medienwissenschaften. Und auch wenn renommierte Filmemacher wie Martin Scorsese («Hugo») oder Werner Herzog («Cave of Forgotten Dreams») das 3-D-Verfahren mittlerweile durch ihre Arbeit geadelt hätten, habe man bei der Auswahl bewusst auf eine Hierarchisierung verzichtet.
«Wir haben versucht, alle Filmformen miteinander in Austausch zu bringen», erklärt Wittmann. Gezeigt werden nebst den genannten Titeln deshalb auch der siebenfache Oscargewinner «Gravity» mit einer Einführung von Wittmann, «Kathedralen der Kultur», der letzte Film des kürzlich verstorbenen Österreichers Michael Glawogger, sowie ein Kurzfilmprogramm.
«Wir wollen uns den Bildern annähern wie bei Werner Herzog die Höhlenmenschen ihren Malereien», betont Wittmann die Niederschwelligkeit der Diskussionen, die verständlich, aber auf hohem Niveau geführt werden sollen. Dabei geht es unter anderem um die Frage, wie sich die Raumillusion als «verdrängter Begleiter» der Filmgeschichte trotz etlicher gescheiterter Anlaufversuche bis heute halten konnte und den «Raum-Realismus» durch seine künstlerische Künstlichkeit bereichert.
Besonders grosse Erwartungen an 3-D als «Grundform des Kinos» hegt der geladene Experte und Filmwissenschaftler Jan Distelmeyer, jüngerer Bruder von Blumfeld-Sänger Jochen. Distelmeyer sieht 3-D nicht als beliebigen Gimmick, sondern als neues Paradigma.
«Natürlich gibt es ostentative 3-D-Szenen», schreibt Distelmeyer in einem Statement auf der Bildrausch-Homepage, «die mehr als andere die Leistungsfähigkeit der Technologie ausstellen sollen.» Doch stecke 3-D im Jahr fünf nach James Camerons wegweisendem «Avatar» eben auch einen neuen «Bedingungsrahmen für Film und (Bewegt-)Bilder» im Allgemeinen ab, dessen Nutzen überdies vom Militär, der Medizin oder der Datenvisualisierung genutzt werde.
Kritische Stimmen dürften sich von Distelmeyers Hinweis kaum besänftigen lassen, haftet dem 3-D-Verfahren doch seit den 1950er-Jahren das Stigma an, als ein «dem Film aufgepfropfter Spezialeffekt» im Dienst des Konsums zu stehen, wie die Veranstalter des «Wahrnehmungslabors» schreiben. Einst als Wunderwaffe gegen die Konkurrenz des Fernsehens ins Feld geführt, übernahm die Stereoskopie in den vergangenen Jahren wieder die Funktion eines Eisbrechers, nun allerdings auf dem Gebiet der Digitalisierung.
Die blauen Vollstrecker
«Ästhetik lässt sich nie von Ökonomie trennen», sagt dazu der Basler Film-Dozent und -Produzent Hansmartin Siegrist. Und ausgerechnet die sanften Ausserirdischen in Camerons SciFi-Epos hätten die Digitalisierung der Kinos und der Distributionswege mit 3-D als «Zückerchen» rücksichtslos vollstreckt und damit Tausenden von kleinen Lichtspieltheatern weltweit den Garaus gemacht.
«Avatar war dafür der richtige Film zur richtigen Zeit», erklärt Siegrist das neu etablierte Geschäftsmodell der Filmindustrie, die statt Filmrollen nur noch DCPs, «digital cinema packages», verschickt und die Kinobetreiber mit der Aussicht auf massive Einsparungen an Personal und Versandkosten ködere. Dem Versprechen der Industrie, mit der Digitalisierung einheitliche Standards zu schaffen, traut Siegrist nicht. «Jede Aussicht auf Konvergenz ist eine Schummelei, weil ja gerade an den Unstimmigkeiten Geld verdient wird. Und wer das Investitionskapital für die ständige Umrüstung nicht aufbringen kann, ist gelackmeiert.»
Neue Wahrnehmungsstandards
Selbstverständlich eröffne grundsätzlich jede zusätzliche Filmtechnologie Raum für immer neue Experimente, die zum Teil ästhetisch glücken: Siegrists Liste seiner favorisierten 3-D-Filme deckt sich grösstenteils mit der Auswahl des «Wahrnehmungslabors». Im besten Fall, wie etwa bei «Hugo», thematisiere 3-D seine eigenen historischen Grundlagen und schaffe ein «immersives Raumgefühl», bei dem die Bilder nicht nur aus der Leinwand treten, sondern die Zuschauer auch in diese eintauchen lassen – wie bei Herzogs «Höhle», Ang Lees «Life of Pi» oder «Gravity».
Der Grossteil von 3-D als kurzatmiges «product enhancement» gehe aber in der üblichen Serialität Hollywoods auf. 3-D wird dem faden Filmeinerlei der Sequels sozusagen als Geschmacksverstärker beigegeben, um dem Publikum dieselbe Geschichte immer wieder verkaufen zu können. Dass der Umsatz mit 3-D schon seit Jahren rückläufig ist, erstaunt Siegrist deshalb nicht.
Die Technologie werde sich auf niedrigem Niveau zwar halten können, prophezeit der Filmwissenschaftler. Aber was das «souveräne Gestalten zeitlicher und räumlicher Beschränkungen» anbelange, bedeute 3-D einen ästhetischen Rückschritt: «3-D macht den von Einstellung zu Einstellung zwischen Grösse und Nähe gleitenden Masstab klassischer Filmraumkonstruktion wieder zunichte. Hitchcock nannte das einen Puppenstuben-Einblick.»
Auch Matthias Wittmann stellt fest, dass jede Technologie zunächst zwischen Fort- und Rückschritt pendle, weil mit den neuen Möglichkeiten alte verschwänden: So wurde etwa einige Mühe aufgewendet, um die chronisch dunklen 3-D-Filme aufzuhellen und ihnen ihre störende Bewegungsunschärfe zu nehmen. Doch längerfristig ist Wittmann überzeugt, dass 3-D dank eines «komplexen Verbunds von verschiedenen Medien, Auswertungen und Verwendungsformen» neue Wahrnehmungsstandards setzen werde.
Und was sagen wir Höhlenmenschen dazu, die wir im Kino ein Mammut sehen wollen, oder wie Judge Dredd den Tag rettet? Vielleicht dass alles, worüber es sich zu streiten lohnt, mehr als eine Seite hat. Und freuen uns auf tiefe Gedanken und vielschichtige Diskussionen.
Im Rausch der Bilder
Das Basler «Bildrausch»-Festival geht in die vierte Runde – und das «Wahrnehmungslabor 3-D» ist nur einer der Projektions- und Diskussionsschwerpunkte. In den Kinos um den Theaterplatz spielt auch ein internationaler Wettbewerb, für den das Bildrausch-Programmteam Preziosen gesammelt hat, die bislang noch nie in einem Basler Kino zu sehen waren.
Hervorzuheben ist etwa «Das grosse Museum» , ein Institutionenporträt des österreichischen Dokumentarfilmers Johannes Holzhausen, der hinter die Kulissen des Kunsthistorischen Museums Wien (und dessen Umbau) blickt. Für Basel interessant, das vor einer vergleichbaren Herausforderung steht.
Ebenso verhält es sich mit «At Berkeley»: In 3,5 Stunden Länge gibt Regisseur Frederick Wiseman Einblicke in die berühmte kalifornische Universitätsstadt, beleuchtet das Innenleben der Uni wie auch ihre Vernetzung, Abhängigkeiten, Abläufe und Effekte. Gleichentags, am 1. Juni, stellt sich der Basler Unirektor im Literaturhaus auf dem Podium den Fragen, die sich auch hierzulande stellen: Fragen zur Unabhängigkeit und zur Käuflichkeit von Lehrstühlen. (mac)