Blutrausch und Gebet

Brittens War Requiem ist verstörend und erhebend. Die Inszenierung von Calixto Bieto und das Ensemble hinterliessen an der Premiere vom 16. Mai im Theater Basel einen tiefen Eindruck in diesem Sinne.

(Bild: Hans Jörg Michel)

Brittens War Requiem ist verstörend und erhebend. Die Inszenierung von Calixto Bieto und das Ensemble hinterliessen an der Premiere vom 16. Mai im Theater Basel einen tiefen Eindruck in diesem Sinne.

Premieren sind anders. Die erste Aufführung einer Arbeit ist nicht einfach Oper oder Konzert. Sie ist Ereignis, das Haus hat auf den Abend hingearbeitet, Feierlichkeit liegt in den Gängen. Auch das Publikum ist anders. Leute aus der Szene sind da, Stammgäste, die das Operngeschehen verfolgen und nicht einfach so mal in die Oper gehen. Man kennt sich, Bussi hier, Winken da. Auch der Dresscode ist verschoben, die Kleiderwahl ist feiner und offener zugleich: Kulturglamour. Ein Grossteil der Schwulenszene über 50 ist anwesend. Jeder kennt Oper, jeder kennt jeden – Benjamin Britten, Jahrgang 1913 und seinerseits homosexuell, ist nach wie vor Kultfigur. Den Tenorpart in der Uraufführung des Requiems 1962 sang sein Lebensgefährte Peter Pears.

«Mein Thema ist der Krieg»

Von dieser flirrenden Zusammenkunft sind es nur wenige Minuten und Schritte in Brittens Musik. Doch wie weit ist der Schritt zu Thema und Anlass des Requiems. Krieg, gescheiterte Kultur, Zerstörung und die offene Frage der Nachkriegszeit, die Frage nach dem Weitermachen, sind der Gegenstand des Werks. In Wilfred Owens eigenen Worten, dessen Poesie Britten, zusammen mit einem lateinischen Messetext, im Requiem vertont und als Motto vorangestellt hat, heisst es:    

«Mein Thema ist der Krieg und das Leid des Krieges.
Die Poesie liegt im Leid …
Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist: warnen.»

Wie klar wird mit den ersten Takten der Musik, dass dies nicht unser Krieg ist! Niemand der Anwesenden war an ihm beteiligt. Und doch nimmt er keinen Abstand von uns, die Beklemmung ist ungebrochen. Die Inszenierung (Regie: Calixto Bieito, Bühne: Susanne Geschwender, Kostüme: Ingo Krüger) tut das einzig richtige und verzichtet auf jede Aktualisierung des Stoffs. Und sei es, um eine heutige Betroffenheit zu inszenieren. Sie ermöglicht dem Werk, seine verstörende Wirkung zu entfalten.

Die beiden männlichen Solisten (Tenor: Rolf Romei, Bariton: Thomas E. Bauer) nehmen mit den Worten aus Owens Poesie die Positionen des lyrischen Ichs ein, ohne damit einen Charakter und eine Rolle zu übernehmen. Sie sind austauschbare Figuren, die zugleich anonym und unmittelbar von Wahrnehmungen des Krieges sprechen. Sie stecken in blutverschmierten Kleidern und Bieito lässt sie die Ich-Figuren mit dem Vokabular der Betroffenheit spielen. Doch die Figuren bleiben fremd, unbekannt, abstrakt. Genauso betrifft uns Brittens Requiem unmittelbar, wie die Erzählung eines Ichs, das uns gegenübertritt, während es zugleich fremd ist und aus einer anderen Zeit spricht.

Abraham tötet seinen Sohn

Im Hintergrund der Bühne hängt eine Leinwand mit dem Bild einer Kirchenfensterfront, wie sie in der zerstörten Kathedrale von Coventry hätte stehen können. Zur Einweihung ihres Neubaus wurde das War Requiem uraufgeführt. Im Hauptraum steht ein grosses Baugerüst, von Teilen des Orchesters und von den Solisten bespielt. Kirchenbänke führen die Zuschauerreihen fort. Auf ihnen sitzt der Chor, selbst Zuschauer des zerstörten Ortes.

In der zentrale Szene des Stücks erzählen Owens Gedichte die Geschichte von Abraham, der seinen Sohn Isaac opfern soll: Gott prüft mit diesem Befehl die Stärke seines Glaubens. Alles geht wie bekannt, Isaac wundert sich angesichts der Vorkehrungen über das fehlende Opferlamm, Abraham fesselt ihn, hebt das Messer und der Engel erscheint und spricht: Töte nicht deinen Sohn, töte einen Widder. Doch Owens Abraham will nicht. Er findet Gefallen an Gottes Probe und tötet nicht nur Isaac sondern «die halbe Saat Europas, Mann für Mann». Der Vater des auserwählten Volkes Israel fällt ab von Gott. Gott hat sich getäuscht in ihm. Die biblische Kulturwiege hat bei Owen den Mörder schon zur Hand.

Hieraus spricht derselbe Kulturzweifel wie aus den frühen Tagebüchern des zwei Jahre vor Britten geborenen Max Frisch: «Zu den entscheidenden Erfahrungen, die unsere Generation, geborenen in diesem Jahrhundert, aber erzogen noch im Geiste des vorigen, besonders während des zweiten Weltkriegs hat machen können, gehört wohl die, dass Menschen, die voll sind von jener Kultur, Kenner, die sich mit Geist und Inbrunst unterhalten können über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner, ohne weiteres auch als Schlächter auftreten können; beides in gleicher Person.» In gleicher Person: Abraham als Vater der semitischen Religionen und Mörder der europäischen Kinder.

Wie nun weiter?

Nach dieser Szene fällt die Fensterfront in sich zusammen. Der Tod nimmt die Bühne auseinander. Zwischen Owens Lyrik hat Britten den lateinischen Text der Totenmesse eingefügt. «Herr gib uns ewigen Frieden», «Nimm uns in deinen Himmel auf» und so weiter. – Wer spricht hier? Führt uns Britten, selber Atheist, diesen Gebetstext vor, um ihn zu verlachen? Die Kirchenbänke werden inzwischen zu Haufen zusammengetragen, könnten in Brand gesetzt werden. Svetlana Ignatovich lacht wahnsinnig, nachdem sie kurz zuvor noch die gefallenen Söhne Europas beweint hat. Auch Rolf Romei, der eben noch die Rolle des Isaac spielte, hat Freude am Töten gefunden und führt einen lustvollen, besinnlichen Tanz mit Vaters Dolch auf.

Die perfekte Schwebe zwischen Gottesdienst und Blutrausch ist erreicht

Die perfekte Schwebe zwischen Gottesdienst, Klage, Blutrausch und ohnmächtigem Gelächter ist erreicht. Britten scheint selber nicht zu wissen, wohin es nach der Opferszene gehen soll. «Entziehen wir uns dem Rückmarsch dieser Welt in eitle Zitadellen ohne Mauer», singt Thomas E. Bauer. Was das Gerüst in der Bühnenmitte aufbauen will, wird zunehmend unklar. Es verweist auf den Wiederaufbau der Kathedrale, doch was soll hier entstehen? Die dritte Solistin Svetlana Ignatovich erklimmt es, stellt sich wie ein gekreuzigter Heiland an die Streben des Gerüsts und nimmt, mit ihrem wundervollen Sopran, die Eingangsverse der Messe wieder auf: «Herr, gieb ewigen Frieden». Die Bühne wird in immer helleres und schliesslich gleissendes Licht getaucht (Licht: Roland Edrich). Woher kommt es? Wir wissen es nicht. Aber wir nehmen es irgendwie an, nehmen es mit Britten an.

Am Schluss des Stücks raunt der Chor. Das gleissende Licht wird zu einer Lichtquelle hinter der Bühne. Ein aufgehendes Licht oder ein untergehendes? – Währenddessen bezieht ein Knabe aus dem Kinderchor am vorderen Bühnenrand Position, in Kriegsuniform. Frieden in Scherben, verwirrend, offen, grossartig.

Grosser Beifall für die gigantische Besetzung: Mädchenkantorei Basel, Knabenkantorei Basel, Extrachor des Theater Basel, Chor des Theater Basel, Sinfonieorchester Basel, musikalische Leitung: Gabriel Fetz und Giuliano Betta.

  • Nächste Aufführungen: 18., 22., 24., 26., 31. Mai.

 

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