«Bruch oder Dvořák – das ist alles veraltetes Zeug!»

Spielt Patricia Kopatchinskaja (35) Geige, dann ist jeder Ton eine Überraschung, jeder Klang so intensiv, dass es die Zuhörer durchschüttelt. Manchen ist das zu anstrengend. Ein Gespräch über Publikum, Musik und übers Muttersein.

(Bild: Marco Borggreve)

Spielt Patricia Kopatchinskaja (35) Geige, dann ist jeder Ton eine Überraschung, jeder Klang so intensiv, dass es die Zuhörer durchschüttelt. Manchen ist das zu anstrengend. Ein Gespräch über Publikum, Musik und übers Muttersein.

Patricia Kopatchinskaja, wann waren Sie das letzte Mal so richtig glücklich?

Gerade jetzt. Ich kann eine ganze Woche zu Hause mit meiner Familie sein, das ist wunderbar. Und gerade habe ich ein Quartett gegründet, es heisst «quartet-lab». Es macht unglaublich viel Spass! Und ist unglaublich schwierig!

Weshalb schwierig?

Ich muss es lernen wie ein neues Instrument. Im Quartett spielt man nicht einfach Geige, sondern es ist ein vierfaches Zuhören, eine vierfache Verantwortung. Je eigenständiger und stärker die Persönlichkeiten sind, desto schwieriger ist es, das Gemeinsame zu finden. Aber es wäre ein armes Leben, nur als Solist aufzutreten – die beste Musik wurde für Quartett geschrieben!

Warum haben Sie erst jetzt damit begonnen?

Gute Frage. Ich wollte das schon immer machen, aber am Anfang meiner Karriere hat man mir abgeraten. Man könne nicht in den grossen Sälen mit Quartett debütieren, dann habe man keine Chance mehr als Solistin, hiess es.

Aber Sie haben den Traum nicht aufgegeben?

Nein. Ich habe lange nach den geeigneten Partnern gesucht. Ich wollte nicht einfach irgend jemanden, ich wollte die Besten! Leute, die interessant sind, die etwas zu sagen haben, die Visionen haben! Als ich Pekka Kuusisto hörte, wusste ich: Mit ihm will ich Quartett spielen!

An der Bratsche spielt Lilli Maijala, am Cello Pieter Wispelwey…

… ja, grossartige Musiker! Aber wir sind nicht verheiratet – es ist eher wie eine neue Liebschaft. Aufregend und inspirierend! Aber wir spielen äusserst selten zusammen, ein bis zwei Mal pro Jahr. Mehr können wir uns zeitlich nicht leisten – denn man muss so lang proben, bis man die Qualität erreicht hat, die man sich als Solist während seines ganzen Lebens erarbeitet hat! Es ist also nur ein Experiment.

Wie findet man geeignete Kammermusikpartner?

Es ist fast unmöglich. Vor allem, weil ich für die meisten radikal und kompromisslos wirke.

Sind Sie es denn?

Ich weiss nicht. Wenn mich jemand wirklich interessiert, dann höre ich ganz genau zu und verändere mein Innerstes, um zu einem Zusammenspiel zu finden. Aber es muss eine Liebe sein, eine gegenseitige. Man muss einander so respektieren, wie man ist, auch mit Dingen, die man nicht mag. Und man muss bereit sein, voneinander zu lernen.

Apropos Kammermmusik: Vor kurzem ist die rumänische Pianistin Mihaela Ursuleasa im Alter von 33 Jahren verstorben. Sie haben sehr oft mit ihr zusammengespielt. Wie sehr schmerzt Sie dieser Verlust?

Mihaela ist unersetzbar. Wir waren wie Schwestern. Mit ihr hatte ich magische Momente auf der Bühne, oft wusste ich ganz genau, wann ihre Finger die Tasten erreichen und was für ein Klang da heraus kommen wird. 

Ich denke sehr viel an den Tod im Moment. Mein Mann sagt, man muss alles am Tod messen. Ist es das wert, was ich da gerade mache? 

Und ich frage mich: Was hat Mihaela als Musikerin hinterlassen? Ich hätte gerne mehr Aufnahmen von ihr – aber es gibt sie nicht.

Noch vor wenigen Jahren haben Sie Aufnahmen abgelehnt, weil sie nur eine einzige der vielen Möglichkeiten, Musik zu interpretieren, zementieren.

Ja, aber heute denke ich anders. Ich möchte jetzt mehr aufnehmen, möchte festhalten, was ich glaube, zu sagen zu haben. Man muss immer damit rechnen, dass man plötzlich einfach weg ist.

Im Oktober erscheint Ihre neue CD mit Violinkonzerten von Béla Bartók, Péter Eötvös und György Ligeti. Sind das Herzensstücke?

Ja. Für mich ist es wie ein Erwachen mitten im ungarischen Kosmos. Alle Stücke sind untereinander verbunden, es gibt viele Ähnlichkeiten. Ligetis Violinkonzert ist für mich wie ein fantastisches Mosaik, es besteht aus unzähligen kleinen Teilchen. Wenn man die alle richtig zusammensetzt, dann wird es zu einem Ufo, beginnt plötzlich zu fliegen – ein wahnsinniges Gefühl! In Bartoks zweitem Violinkonzert spüre ich die warme schwarze Erde meiner Heimat unter den Füssen. Und Eötvös‘ Musik ist eine Erzählung aus tiefstem Herzen über zersplitterte Vergangenheiten und neue Hoffnungen.

Es ist ungewöhnlich, drei zeitgenössische Violinkonzerte gemeinsam auf eine CD zu bannen.

Ja, kaum eine CD-Firma kann sich das heute leisten. Ich bin sehr glücklich, dass das Label naïve das wagt.

Von wem kam der Impuls?

Von mir, ich wollte das unbedingt! Alle drei Konzerte, alle zusammen mit Peter Eötvös als Dirigent. Wir haben jahrelang gewartet, bis wir einen Termin bei ihm bekommen haben. Es ist eine unheimliche Ehre für mich, dass er das mit mir eingespielt hat!

Ein Projekt gegen den Mainstream?

Das ist die Musik, die Mainstream werden muss! Das ist das Kernrepertoire! Sie sagt so viel mehr über unsere Zeit aus als irgendein Konzert von Max Bruch oder Antonín Dvořák! Das ist alles veraltetes Zeug, egal wie frisch man es spielt.

Aber das ist beim Publikum beliebt.

Die meisten Leute wollen nicht nur immer dieselben Stücke hören, sondern auch auf die selbe Art und Weise gespielt. Ich verstehe das nicht. Das hat mit Kunst nichts zu tun. Das ist wie im Souvenirgeschäft eines Museums, man kauft sich eine Reproduktion von einem Bild in Form einer Postkarte.

Sie sind bekannt dafür, dass Sie Repertoirestücke gegen den Strich bürsten.

Lange war das ein Problem, manchmal wollten mir Orchestermusiker erklären, wie man es „richtig“ spielt. Und ich habe immer noch Angst, mit älteren Dirigenten spielen zu müssen.

Weshalb denn das?

Sie kommen aus einer Tradition, in der ich mich nicht wohl fühle. Sie wollen fertige Sachen auf der Bühne präsentieren, sie wissen schon, wie es geht. Ich weiss es noch nicht – und ich möchte es auch noch nicht wissen. Ich möchte Dinge ausprobieren, möchte fragen, ob es vielleicht auch anders geht. Ich glaube, die Kunst braucht das, um sich zu entwickeln, um beweglich zu sein, um im Moment wieder entstehen zu können.

Ist das mit jüngeren Dirigenten leichter zu realisieren?

Ja, es gibt viele wunderbare junge Dirigenten. Sie sind offener, gehen mit, wenn ich versuche, das Alte, Verstaubte zu sprengen. Es muss etwas Unvorhergesehenes passieren, etwas, das das Stück in den Sinnen des Publikums wieder erfrischt, was es wieder fühlen lässt, bis zum Verwundbaren. Jedes Stück muss wie eine Uraufführung klingen! – Aber eigentlich interessiert mich Zeitgenössisches viel mehr.

Warum?

Das ist das, was heute passiert. Die neue Musik sollte die Normalität sein. Ich weiss nicht, was das soll, wenn in einem Konzert absolut keine zeitgenössische Musik gespielt wird. Irgend etwas ist schief gelaufen, dass die heutige Zeit nur noch zurück schauen kann. Die Leute haben Angst, das wahrzunehmen, was wirklich heute geschieht.

Sie spielen demnächst in Basel, Karl Amadeus Hartmanns «Concerto funebre» für Violine und Streicher.

Ja, das ist eines der besten Stücke überhaupt. Hartmann komponierte es 1939. Es steckt die Trauer einer ganzen Nation in diesem Konzert, Trauer über all das Faschistoide. Hartmann integrierte Choräle, auch jüdische Melodien, er zitierte alles, was ihm wichtig war, und das in dieser gefährlichen Zeit! Die Geige singt und schreit!

Sie treten gemeinsam mit dem Kammerorchester Basel auf…

… ein tolles Orchester, mit viel Erfahrung, so dass wir ohne Dirigent spielen können.

Ein so komplexes Werk ohne Dirigent?

Das ist richtig so, dieses Konzert ist wie Kammermusik. Natürlich fordert es jeden Einzelnen bis zum Letzten heraus, technisch und auch interpretatorisch. Hartmann schrieb, jeder Ton muss durchgefühlt sein, jede Pause durchgeatmet. In jedem Ton ist Gewicht.

Sind Sie der Neuen Musik näher, weil Sie auch selbst komponieren?

Ja. Ich habe lange nicht geschrieben; nun gibt es aber einen Auftrag von der Camerata Bern. Das ist herausfordernd. Bei jedem Ton bin ich mir selbst der stärkste Kritiker, habe stets ein Ohr daneben, wie beim Üben. Aber ich merke, beim Komponieren muss ich sehr viel kritikloser sein, muss es in mir kochen lassen – und dann ausgiessen, ausgiessen, alles aufschreiben.

Wann finden Sie zwischen all den Konzerten Zeit zum Komponieren?

Das ist ein Problem. Ich empfinde mich als Träger von fremder Musik, von fremden Informationen und Gefühlen. Wenn man komponiert ist es die grösste Herausforderung, all diese fremden Harmonien, Rhythmen und Melodien rauszuwerfen, sich zu entleeren, um wieder zu seinem eigenen Kern zu kommen. Dazu braucht man Zeit.

Finden Sie die beim Reisen?

Nein, da geht es überhaupt nicht. Wenn ich ein Konzert spiele, kostet mich das sehr viel Energie. Ich habe keinen Autopiloten, den ich anstellen kann und der das Stück dann für mich durchspielt. Ich versuche bei jedem Konzert, von vorn anzufangen, das Stück aufs Neue zu sehen. Es ist immer eine frische Sache und stets mit Risiko verbunden. Wenn ich zwischen den Konzerten nicht zum Umschalten komme, dann lebe ich gleichzeitig in fünf verschiedenen Stücken! Meine Seele kommt nicht mehr dorthin, wo mein Körper ist, ich renne mir selbst hinterher…

Ist das viele Reisen Fluch oder Segen?

Es gehört zum Job. Reisen ist mühsam, aber manchmal kann ich mich dabei auch sehr gut konzentrieren. Ich versuche, auf den Reisen so viel wie möglich zu arbeiten, damit ich das nächste Projekt schon vorbereitet habe, wenn ich nach Hause komme. Zu Hause bin ich ganz Mutter. Und kann in Ruhe Kuchen backen (lacht).

Braucht es einen konstanten Ort, wenn man so viel unterwegs ist?

Ja, unbedingt. Jeden Tag woanders sein – das ist nicht menschlich. Das Gefühl von Heimatlosigkeit, das ich in letzter Zeit akut verspüre – besonders nach dem Tod von Mihaela –, das muss man immer wieder beheben. Man muss immer wieder versuchen, lieb zu sich zu sein und diese Einsamkeit zu überwinden. Ich versuche, in den Stücken dieses Zu-Hause-Gefühl zu finden. Aber man muss diesen Beruf auch wichtig genug finden, dass man all das opfert, was ein Mensch eigentlich hat: die Familie, die Sicherheit des Alltäglichen…

Haben Sie das Gefühl, dass Sie opfern?

Ja, natürlich ist es ein Opfer.

Wie oft können Sie mit Ihrer Tochter Alltag leben?

Nicht so oft, leider. Als sie klein war, haben wir sie immer mitgenommen. Nun geht sie in die Schule, da geht das nicht mehr. Der Papa kümmert sich jetzt um alles. Und ich habe ein schlechtes Gewissen.

Wem gegenüber?

(überlegt) Mir selbst. Weil ich so eine tolle Mutter hatte, die alles für ihre Kinder getan hat. Doch wenn die Kinder alt sind und dich nicht mehr brauchen, dann ist da plötzlich ein grosses Loch – und das wollte ich nicht. Ich mache das ganz anders als meine Mutter, und ich bin nicht sicher, ob es richtig ist.

Wie geht Ihre Tochter damit um, dass sie einander so selten sehen?

Sie ist es gewohnt. Ich finde es bewundernswert, wie diese Kinder die Situation aushalten. Kinder möchten gar nicht, dass die Eltern besonders sind, sie wollen normale Eltern haben. Aber einmal hatte meine Tochter eine geniale Idee: „Mami, spiel doch schlecht, dann werden sie dich nicht mehr einladen. Dann bleibst du zu Hause!“ Das fand ich wunderbar. Und das ist so eine Zwickmühle für mich. Einerseits habe ich doch mein ganzes Leben darauf hingearbeitet, um das jetzt machen zu können, um mit so tollen Orchestern zu spielen. Andererseits verpasse ich so viel in der Familie. Aber – so ist das Leben.

  • Am Mo, 24.09., 19:30 Uhr, Martinskirche Basel, spielt Patricia Kopatchinskaja mit dem Kammerorchester Basel.
  • Ende Oktober erscheint beim Label naïve ihre neue CD mit Violinkonzerten von Béla Bartók, Péter Eötvös und György Ligeti.
  • Am 30. Oktober läuft um 19:30 in der Dampfzentrale Bern die Vorpremiere des Films «Patricia Kopatchinskaja: Ich kenne Dich, ich habe Dich spielen gehört» (Regie: Béla Batthyany). Der Dokumentarfilm wird später auf SRF ausgestrahlt.

 

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