Camus, Daoud und ich

Georg Kreis hat sich in den Ferien einer «Strandlektüre» gewidmet. Im Namen des schon länger verstorbenen Autors Albert Camus stellt er fest, dass die frühe Geburt allein keine Verurteilung durch die Nachgeborenen rechtfertigt.

Auch wenn er dem «Araber» keinen Namen gab: Camus kannte die soziale Lage der Einheimischen von Oran sehr wohl. (Bild: Keystone)

Darf ich für einmal – wenigstens in den ersten Zeilen – über mich schreiben? Ich erlaube es mir und teile mit, worin unter anderem meine Ferienlektüre bestanden hat.

Ich tue dies allerdings nicht gerne, weil ich damit offenbare, dass ich selbst die Ferien professionell verwerte und im «Urlaub» das, was man Berufswelt nennt, nicht aus dem Kopf kriege, also nicht den gepriesenen Zustand des Offline hinbekomme. Ich habe weiterhin Bücher gelesen – was für manche eine typische Ferienbeschäftigung ist –, darunter auch eines, das der Ausgangspunkt für diesen Beitrag ist.

Das Buch «Meursault, contre-enquête» ist eine alternative Darstellung zu Albert Camus’ «L’Étranger». Das vom algerischen Publizisten Kamel Daoud verfasste Buch ist bereits vor vier Jahren auf Französisch erschienen und inzwischen in rund dreissig Sprachen übersetzt – ein Erfolgsbuch. Auf Deutsch trägt es den Titel «Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung».

Daoud ist nicht der Erste, der sich Camus’ bekannten Roman vorknöpft. Aus heutiger Sicht bietet sich das 1942 publizierte Buch des 1957 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten grossen französischen Literaten für eine Kritik leicht an. Camus stellt einen weissen Kolonisten ins Zentrum seiner Erzählung, der am Strand von Algier beinahe beiläufig zum Mörder eines Einheimischen wird.

Geblendet von der im Sonnenlicht blitzenden Messerklinge seines Gegenübers, drückt dieser Meursault, möglicherweise in einem Notwehrreflex, den Abzug seines Revolvers und erschiesst «einen Araber», der keinen Namen hat.

Das anonyme Opfer erhält ein Geschichte

Der Kolonist Meursault, der sich schlecht erinnern kann, wie es zu den fatalen Schüssen gekommen ist, wird am Schluss der Geschichte zum Tode verurteilt und guillotiniert. Das interessiert den Gegenautor Daoud nicht, für ihn ist das ein unter den Kolonisten durchexerzierter Vorgang. Erwähnt sei dieses Ende trotzdem, damit man sieht, dass in Camus’ Geschichte der Tod des «Arabers» immerhin nicht ungesühnt bleibt (wie zahlreiche andere in der Kolonialgeschichte vorgekommene Vergehen).

Daoud macht Camus den Vorwurf, für den Ermordeten keine Gedanken aufgebracht, ja ihm nicht einmal einen Namen gegeben zu haben. Während der Täter und zahlreiche andere Mitspieler einen Namen erhalten, bleibt das Opfer namenlos, 25 Mal ist von ihm lediglich als vom «Araber» die Rede.

Dieser habe dem Autor bloss als Objekt gedient, das umgebracht werden kann und ohne Individualität wieder zu Staub wird. Daouds Fazit: «Alles geschieht ohne uns, es gibt keine Spur von unserer Trauer und dem, was aus uns geworden ist.»

Daoud gibt dem Araber einen Namen und eine Schwester, die nicht, wie Camus es beschrieben hat, ein leichtes Mädchen gewesen sei.

Daoud holt darum zur Gegengeschichte aus, gibt dem anonymen Araber einen Namen, Moussa Ould El-Assase, gibt ihm auch eine Mutter, die vom Tod ihres Sohnes erschüttert und über die ungeklärten Umstände des unverständlichen Unglücks verzweifelt ist. Die Figur der arabischen Mutter ist übrigens eine Variation zu Meursaults Mutter, die in Camus’ Geschichte stirbt, ohne dass der Mörder deswegen eine Regung der Trauer zeigt.

Daoud gibt dem Ermordeten einen Bruder mit dem Namen Haroun und lässt diesen über die Familie des Opfers Auskunft geben. Auskunft über den erfundenen Moussa, der als Lastenträger im Armenquartier Orans sein Leben fristet, über die Mutter des Opfers, über den Vater, der die Familie vor langer Zeit verlassen habe, vielleicht um in Frankreich, wie viele andere, als Wanderarbeiter tätig zu sein. Und über seine Schwester, die nicht, wie Camus es beschrieben hat, ein leichtes Mädchen gewesen sei.

Daoud macht den Kolonisten Meursault, anders als in Camus’ Beschreibung, zu einem vorsätzlichen Täter, der sein Opfer regelrecht gesucht habe, aber nicht um ihm zu begegnen, sondern um ihm nie begegnen zu müssen.

Das ist in der Konsequenz auch ein Vorwurf an den Algerien-Franzosen Camus als Schöpfer der Figur Meursault und letztlich ein Vorwurf an Generationen von Kolonisatoren: die Nichtbeachtung des «Arabers» als klassisches Verhaltensmuster gegenüber dem Kolonisierten.

«Grundsätzlich ein Menschenfreund»

Der Vorwurf ist in seiner allgemeinen Variante keineswegs unberechtigt. Im europäischen Norden gibt es ein verbreitetes Desinteresse gegenüber dem afrikanischen Süden. Ist der Vorwurf aber auch Camus gegenüber angebracht? Was würde Camus seinem Kritiker Daoud entgegnen? Ihm, der 1960 mit 46 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, ist ein Gespräch nicht mehr möglich.

Also antworte ich an seiner Stelle, was, wie ich weiss, etwas vermessen ist.

Camus könnte gesagt haben: Monsieur Daoud, geschätzter Kollege, Sie haben mit Ihrer Gegenschrift sicher auf einen wesentlichen Punkt hingewiesen. Ich muss zugeben, in meiner Erzählung erscheine ich als ein Kind meiner Zeit. Ich bin offenbar nicht nur zu früh gestorben, sondern auch zu früh zur Welt gekommen, um eine den heutigen Anforderungen entsprechende Sicht einzunehmen. Ja, der Araber war lediglich ein Teil meines Arrangements, wie die Sonne und das Meer.

Es ging mir – und damit hat sich die Literaturkritik später eingehend auseinandergesetzt – um die Beschreibung des eigentlich ebenfalls bedeutungslosen Meursault, der nicht wusste, was anzufangen mit seinem Leben, und auch nicht wusste, warum er zur Verantwortung gezogen wurde. Er war anderen und sich selber fremd. Nicht einverstanden bin ich damit, dass Meursault, wie Sie sagen, für mich ein «héros» gewesen sei, ein Held. Er war vielmehr ein Antiheld, aber er lag meinem Milieu näher.

Meursault hätte wohl auch dann abgedrückt, wenn ihm ein bedrohlicher Europäer gegenübergestanden hätte.

Die gleiche Grundproblematik, um die es mir ging, könnte man vielleicht auch an einem Araber aufzeigen. Später zur Welt gekommen (wie Sie), hätte ich vielleicht die neuere, den heutigen Einstellungen angemessenere Optik eingenommen und dem «Araber» ein Gesicht und eine Individualität gegeben. Aber man könnte sagen, dass Meursault in meiner Geschichte auch dann abgedrückt hätte, wenn ihm ein bedrohlicher Europäer gegenübergestanden hätte. Aber eben, der Araber passte besser in diese Gegenposition.

Vielleicht darf ich darauf hinweisen, dass ich mich eingehend – es dürfte dies mein wichtigster Text sein – mit dem tragischen und doch glücklichen Sisyphos auseinandergesetzt habe («Der Mythos des Sisyphos»). Das war kein Grieche, kein Franzose und kein Algerier, das war einfach ein oder einfach der Mensch.

Zu meinem 100. Geburtstag, das war 2013, da hat man mir immerhin attestiert, dass ich grundsätzlich ein Menschenfreund gewesen sei. Und man hat zutreffend angenommen, dass ich heute die ablehnende Haltung gegenüber afrikanischen Flüchtlingen entschieden kritisieren würde.

Es leuchtet mir nicht ein, dass die europäische Nordküste des Mittelmeers ausschliesslich christlichen Europäern gehören soll. So wie mir zu meiner Zeit nicht eingeleuchtet hat, dass die afrikanische Südküste des Mittelmeers einzig von muslimischen Arabern bewohnt werden darf.

Zwischen allen Fronten

Camus hätte Daoud auch in Erinnerung rufen können, dass ihm die soziale Lage der Einheimischen («indigènes») bestens vertraut war; dass er als Mitglied der Kommunistischen Partei (KP) in diesem Milieu mit antikolonialistischer Propaganda KP-Anhänger zu gewinnen versuchte; dass er von der Partei ausgeschlossen wurde, weil er den französischen Kolonialismus weiter kritisierte, obwohl die offizielle Parteilinie Moskaus dies nicht mehr duldete, weil Frankreichs Verteidigungskraft gegen Deutschland gestärkt werden sollte.

Weiter hätte er in Erinnerung rufen können, dass er als Reporter in seinen Gerichtsberichten für das linke Blatt «Alger républicain» aufgezeigt habe, dass Araber und Berber in der von Algerienfranzosen beherrschten Justiz die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekamen. Umso erstaunlicher ist allerdings, dass dies nicht zu einer plastischeren Schilderung des «Arabers» geführt hat.

Man kann in der konkreten Kritik unrecht haben, obwohl man in der allgemeinen Kritik sehr wohl recht hat.

Im sich verschärfenden Befreiungskrieg stand Camus zwischen den Fronten. Sein Plädoyer für eine Gleichstellung von Kolonisten und Kolonisierten ging vielen Franzosen zu weit, und sein Eintreten für ein weiterhin zu Frankreich gehörendes Algerien war für viele Einheimische inakzeptabel.

Der Camus-Kritiker Daoud schliesst seine Gegenerzählung, was doch erstaunt und erfreuen kann, mit versöhnlichen Worten. Er würdigt den «Fremden» als Meisterwerk und als Spiegelbild seiner Seele. Der Kritiker räumt ein, dass er im Grund die gleiche Haltung dem Leben gegenüber habe wie der Kritisierte. Vielleicht hat er auch gemerkt, dass man in der konkreten Kritik unrecht haben kann, obwohl man in der allgemeinen Kritik sehr wohl recht hat.

Zurück zum Anfang mit dem Einstieg über meine Ferienlektüre: Das waren leicht persönlicher gehaltene Zeilen als sonst. Doch auch andere, objektivierend daherkommende Texte haben – hoffentlich – stets eine persönliche Note.

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