1999 inszenierte Calixto Bieito Georges Bizets Oper «Carmen» erstmals in Spanien. Die neue Fassung, die am Sonntag in Basel Premiere hatte, ist ein Konzentrat seiner jahrelangen Theaterarbeit: eine runde, überzeugende Lesart – wenn auch keine überraschende.
Es gibt nicht wenige Opernliebhaber, für die die Inszenierungen von Calixto Bieito eine Anfechtung sind. Sei es, weil sie sich von den Gewaltorgien und Sexdarstellungen abgestossen fühlen, die der Katalane regelmässig auf die Bühne bringt, sei es, weil er wohlig Vertrautes in irritierend Fremdes zu verwandeln versteht – was eine durchaus schmerzhafte Erfahrung sein kann, der man mitunter lieber aus dem Weg geht.
Doch all das passiert in Bieitos Basler «Carmen» nicht – oder kaum. Die Lesart, die Bieito 1999 bei seiner ersten Operninszenierung ausgearbeitet hat, ist auch nach etlichen Neueinstudierungen an anderen Opernhäusern im Grundgerüst gleich geblieben. Man kann sie innerhalb seines Œuvres als durchaus gemässigt bezeichnen. Ein einziger Nackter ist im Halbdunkel zu sehen, Blut fliesst erst ganz zum Schluss – auch wenn es weitaus mehr Gelegenheiten gegeben hätte –, und auch die Sexdarstellungen bewegen sich im Rahmen des heute an deutschsprachigen Bühnen Üblichen.
Kostüme wie aus dem Rotlichtmilieu
Bieito bleibt sich selbst treu. So ist es ganz der Eros, das Ausleben der körperlichen Begierden, das ständige Spiel des Aufreizens und Entziehens, das die Kommunikation der Protagonisten bestimmt. Doch seine Zuspitzung auf diesen Aspekt, durch eindeutige Gesten und knappe Kostüme (Mercè Paloma), die dem Rotlichtmilieu entstammen könnten, überrascht nicht wirklich. Selbst als ein junges Mädchen zu Beginn des zweiten Akts im grell bunten Röckchen allein auf der leeren, staubigen Bühne (Alfons Flores) tanzt, sieht dies nicht nach Kinderprostitution aus, sondern eher wie die naive Imitation eines Popidols, wie es viele junge Fans heute in gespielter Laszivität praktizieren.
Es liegt am Stoff selbst, dass die Fokussierung auf das Körperliche nicht aufgesetzt wirkt. Carmen, die die Freiheit mehr liebt als jeden Mann, setzt ihre weiblichen Reize immer dann ein, wenn es sie weiterbringt – oder wenn es ihr einfach gerade Spass macht. Und das macht es ziemlich oft. Kein Mann, dem sie in ihren langen Arien nicht den Kopf verdreht, den sie nicht ansingt mit «Die Liebe ist ein Zigeunerkind, sie kennt keine Gesetze». Schon die Musik von Georges Bizet spricht diese Sprache überdeutlich, ist selbst hochgradig erotisch aufgeladen, und es ist lediglich eine Frage des inszenatorischen Geschmacks, wie explizit Carmen dies auch in ihren Handlungen zeigen soll. Bieito jedenfalls trägt dazu bei, den einst so obszönen Griff in den Schritt, der in der Popmusik schon seit Jahrzehnten zum festen Repertoire gehört, nun auch in der Oper salonfähig zu machen.
Eine konsequente Deutung
Und während andere Regisseure am Schluss einen Liebesmord inszenieren, ist José bei Bieito ein Macho, der seine Geliebte unter Kontrolle haben will. Ein typischer Spanier, wie die gelb-rote Flagge, die über der Bühne schwebt, unterstreicht. Bieito verwies im Interview mit der TagesWoche darauf, dass häusliche Gewalt dieser Art in Spanien ein Alltagsthema sei.
Hier zeigt sich auch eine der Stärken von Bieitos Inszenierung: Sie entscheidet sich früh für eine Deutung und zieht sie konsequent durch. Schon vor dem ersten Kuss schlägt José seine Carmen, macht klar, dass er in dieser Beziehung den Ton angeben will. Damit ist das Thema unmissverständlich gesetzt – und darin liegt zugleich eine der Schwächen der Interpretation: Wo bleiben die Zwischentöne? Gäbe es zumindest zwischen den Zeilen nicht mehr zu erzählen?
Eine kühle Brünette und ein eifersüchtiger Getriebener
Vielleicht liegt es auch an den Darstellern selbst, dass sich bei der Premiere keine zweite Ebene auftun will. Tanja Ariane Baumgartner ist sängerisch eine ausgezeichnete Carmen; ihr Rollendebüt meistert sie nach anfänglicher Zurückhaltung bravourös. Und ihr dunkler, satter Mezzosopran kann locken, verführen und in allerlei Farben schillern. Sie bleibt ganz die kühle Brünette, die man auch aus anderen Rollen kennt – und so ist ihre Carmen kein feuriges Temperamentsbündel, sondern eine faszinierend starke Frau, die ihren eigenen Weg geht und nicht von ihrem Grundsatz abweicht, nicht einmal im Anblick des Todes.
Don José hingegen wird von Anfang an als Getriebener gezeichnet: Erst von den Zwängen der Kompanie, dann von den Reizen Carmens, denen er eigentlich widerstehen will, da sich diese Liaison mit dem Soldatenleben nicht vereinbaren lässt, und schliesslich von seiner rasenden Eifersucht, die ihn zum berechnenden Mörder macht. Will Hartmann verkörpert diese Partie mit sicherem, hellem Tenor, spielt einen Mann mit kleinem Ego: verletzlich, jähzornig, brutal. Nur die Nachricht seiner im Sterben liegenden Mutter, die ihm seine heimliche Verehrerin Michaela (Svetlana Ignatovich mit schüchtern bittenden und euphorisch werbendem Sopran) überbringt, lenkt ihn von der alles bestimmenden Obsession, Carmen zu besitzen, kurzzeitig ab.
Viel Esprit, wenig Liebesschmalz
Da ist es irgendwie logisch, dass der auch stimmlich überschwängliche, sonnig strahlende Eung Kwang Lee als Escamillo von Carmen vorgezogen wird. Bei all dem tummelt sich in schönen Bildern lustiges Volk auf der Bühne, nicht immer im Takt, aber mit viel Esprit der Chor des Theater Basels, die Knaben- sowie die Mädchenkantorei Basel. Das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Gabriel Feltz besticht mit wunderbar stringenten Tempi und messerscharfen Artikulationen, bleibt aber stets der distanziert beobachtende Begleiter dieser Geschichte, lässt sich kaum einmal zu schmelzend-weichen Liebesklängen hinreissen. Vielleicht galten dem die wenigen Buhs nach der Premiere – die Bravi trugen allerdings den deutlichen Sieg davon.
Theater Basel, Grosse Bühne. 20. und 29.12., 2.1., jeweils 20 Uhr.Weitere Aufführungen bis 17.06.2012.