Mit einer wandlungsfähigen Ausstellungspolitik hat es das Museum Tinguely besser als andere monografische Häuser geschafft, sich von der Aura eines Künstler-Mausoleums zu befreien. So kann nun eine Tinguely-Schau im Tinguely-Museum plötzlich zum Ereignis werden.
Das gab es seit der Sammlungsausstellung zur Eröffnung des Tinguely-Museums 1996 nicht mehr: Bereits der Blick durch die grosse Fensterfront offenbart Tinguely pur. Knapp anderthalb Wochen vor Ausstellungseröffnung stehen viele der charakteristischen Maschinenskulpturen, zum Teil noch verpackt, auf Holzpaletten. Und dort, wo bis vor Kurzem noch der aussergewöhnliche Kunstkosmos des russischen Avantgardisten Vladimir Tatlin zu erleben war, wuseln Restauratoren und Techniker herum, um die mächtigen, zugleich aber auch diffizilen Werke in Stellung zu bringen und in Funktionszustand zu versetzen.
«Tinguely@Tinguely» heisst die Sonderausstellung, die hier eingerichtet wird. Was vordergründig nach einer Selbstverständlichkeit klingt in einem Museum, das den Namen des Künstlers trägt und ihm entsprechend gewidmet ist, stellt sich als aussergewöhnliches Ereignis heraus. Es ist das erste Mal, dass der vor drei Jahren angetretene Direktor Roland Wetzel ausschliesslich Tinguely zeigt. Bei seinen bisherigen Sonderausstellungen spielte der 1991 verstorbene Eisenplastiker allenfalls als Mitbeteiligter einer Ausstellung oder als deren inhaltlicher Ansatz eine Rolle.
Wer Tinguely pur erleben wollte, musste auf die Galerie, in die «Krypta» im Untergeschoss oder in die Oberlichträume im zweiten Obergeschoss ausweichen, die im architektonischen Konzept ursprünglich als Platz für Sonderausstellungen vorgesehen waren. Auch wenn mancher bedauern mag, dass das Museum Tinguely oftmals zu wenig Tinguely zeige, schaffte es das Haus durch seine wandlungsfähige und kluge Ausstellungspolitik, international als Kunstmuseum ernst genommen zu werden.
Dominanz des Hauskünstlers
Mehr Mühe, die Dominanz des «Hauskünstlers» zu brechen, bekundet das im Jahr 2005 eröffnete Zentrum Paul Klee in Bern. Auch wenn der neue Direktor Peter Fischer noch so sehr betont, dass das Zentrum ein «Mehrspartenhaus» sei, wird es in weiten Besucherkreisen noch immer als Solo-Schauburg empfunden. «Bei vielen Menschen herrscht noch immer der Eindruck vor, das Museum nach einem einzigen Besuch bereits gesehen zu haben», sagt Fischer. «Das Museumsleitbild lässt aber durchaus Spielräume offen – Spielräume, die auch genutzt werden.»
So kam die Themenausstellung «L’Europe des Esprits» diesen Sommer ganz ohne Paul Klee aus, und in den kommenden Jahren werden laut Fischer nebst Klee auch andere Künstler monografisch gezeigt werden. Meistens bleibt Paul Klee aber das beherrschende Element. So auch in der eben abgelaufenen Gegenüberstellung mit Sigmar Polke, die aber nur wenig Polke zeigte. «Der Bund» bezeichnete die Schau als «Neuaufguss der letzten Sammlungspräsentation», und die «Berner Zeitung» monierte: «Für eine ausgeglichene Gegenüberstellung sind 14 Polke-Werke schlicht zu wenig.»
Dass sich die enge Bindung an den Übervater Klee auf Dauer als Handicap erweist, zeigt sich auch in den Zahlen: Mit 114’000 Besucherinnen und Besuchern (inklusive Kindermuseum) blieb das Klee-Zentrum im vergangenen Jahr zehn Prozent unter den budgetierten Erwartungen und gar 20 Prozent unter dem Vorjahresergebnis.
Das ist eine schlechte Entwicklung für ein Museum, das gegen 50 Prozent der Einnahmen selber erwirtschaften muss. Entsprechend klafft in der Museumskasse derzeit ein Loch von 1,3 Millionen Franken. Die Hoffnungen für die Zukunft liegen nun in einer engeren Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Bern – also ausgerechnet mit jenem Haus, das man einst um das für die Ausstrahlung so wichtige Klee-Depositum gebracht hatte.
Schieflage
Auch andere monografische Schweizer Museen leiden an Publikumsmangel. Während das Kirchner-Museum in Davos und das Segantini-Museum in St. Moritz auf Touristen als Besucher zählen können, hat das Museum Franz Gertsch in Burgdorf mit Problemen zu kämpfen. Das 2002 eröffnete Museum geriet 2009 in finanzielle Schieflage, nachdem der Museumsstifter und Mäzen Willy Michel seine Betriebsbeiträge auf eine Million Franken pro Jahr gekürzt hatte. Als Folge davon strich man die Stelle der künstlerischen Leitung, und die in den Anfangsjahren vielbeachtete und ambitionierte Ausstellungsreihe im Bereich der zeitgenössischen Kunst wurde auf Sparflamme gesetzt.
Bei den Besucherzahlen wirkt sich die verstärkte Konzentration auf das Werk von Franz Gertsch negativ aus: Zählte das Haus zu Beginn noch zwischen 20’000 und 30’000 Besucherinnen und Besucher, sind es gegenwärtig noch rund 11’000 pro Jahr.
Mit diesem Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit hat das Museum Tinguely nicht zu kämpfen. Mit durchschnittlich 120’000 Besucherinnen und Besuchern pro Jahr kommt man zwar bei Weitem nicht mehr an die stolze Zahl von 250’000 im ersten vollen Betriebsjahr 1997 heran. Für ein Haus, das sich inhaltlich abseits des Mainstreams der Klassischen Moderne bewegt, kann sich der Besucherzuspruch aber nach wie vor sehen lassen.
Liberale Trägerschaft
«Als reine Sammlungspräsentation funktioniert kaum ein Museum», sagt der ehemalige Direktor Guido Magnaguagno. Der charismatische Museumsleiter hatte das Haus ab 2001 unter anderem mit Ausstellungen zu Tinguelys grossen Vorbildern Marcel Duchamp, Kurt Schwitters und Max Ernst nachhaltig aus der drohenden Sackgasse eines Künstler-Mausoleums herausgeführt. Sein grosses Glück war, mit Roche eine sehr liberale Trägerschaft zu haben, «die bereit war, viel Geld für diese Ausstellungen zur Verfügung zu stellen».
Auch wenn firmenintern ab und zu die Frage aufgeworfen wurde, ob es nicht auch mal wieder ein bisschen mehr Tinguely sein könnte, mischt sich die Trägerschaft bis heute nicht in das Ausstellungsprogramm ein, wie auch Wetzel bestätigt. «Ich bin inhaltlich frei, das zu machen, was ich möchte.» Zumindest solange der Spagat von den ambitionierten Sonderausstellungen zum Familien- und Kindermuseum noch zu bewerkstelligen ist – was laut Wetzel bis heute funktioniert: «Ein Viertel der Besucherinnen und Besucher sind Kinder, das ist doppelt so viel wie in vergleichbaren Museen.»
Weg vom «Staatskünstler»
Die jetzt anberaumte grosse Tinguely-Schau wird nun gerade wegen ihrer Einmaligkeit bestimmt für neue Höhenflüge in der Besucherstatistik sorgen. Äusserer Anlass ist die Herausgabe des neuen Sammlungskatalogs. Den Ausstellungsmachern geht es aber auch darum, 21 Jahre nach seinem Tod einen neuen Blick auf das Gesamtwerk zu ermöglichen und Tinguely als grossen Erneuerer und Erfinder der kinetischen Kunst im 20. Jahrhundert neu zu positionieren. «Tinguelys Werk leidet in seiner Wertschätzung darunter, dass der Künstler sich vor allem in den zehn letzten Jahren seines Lebens als Nationalkünstler und Gesellschaftsliebling vereinnahmen liess», sagt Wetzel.
Beim Frühwerk, von seinen kinetischen Reliefs aus den 1950er-Jahren über die Zeichenmaschinen bis zu den Selbstzerstörungsaktionen in den frühen 1960ern, dürfte die Rolle Tinguelys als Ausnahmepersönlichkeit und Pionier der kinetischen Kunst im 20. Jahrhundert unschwer zu belegen sein. Das Spätwerk indes, dazu gehören die typischen Tinguely-Maschinen, stösst heute in Fachkreisen noch auf mehr Misstrauen. «Tinguely hatte seine grosse Zeit bis Mitte der 1960er-Jahre, nach 1965 geht es leider bergab – mit einer wichtigen Ausnahme: dem ‹Mengele-Totentanz› von 1986.»
Dies sagt mit Guido Magnaguagno ausgerechnet der Mann, der bislang die längste Amtszeit als Direktor des Tinguely-Museums hinter sich hat. Dem breiten Publikum werden diese Bedenken egal sein. Sie werden in «ihr» Museum strömen, um endlich mal wieder «ihren Jeannot» feiern zu können.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02.11.12