Den Käfig gesprengt, um die Stille zu befreien

100 Jahre nach John Cages Geburt: Welches Erbe hinterlässt der prägende Klangkünstler des 20. Jahrhunderts? Die TagesWoche hat mit Musikprofessor Mike Svoboda, Komponist Werner Bärtschi und Elektronikkünstler Dada Global drei ganz unterschiedliche Cage-Experten um eine Einschätzung gebeten.

Fasziniert vom kreativen Potenzial des tech­nischen Fortschritts: John Cage (1912–1992), Komponist, Künstler, Vordenker, 1981 vor einer Bandmaschine. (Bild: Marion Kalter)

100 Jahre nach John Cages Geburt: Welches Erbe hinterlässt der prägende Klangkünstler des 20. Jahrhunderts? Drei Experten geben Antwort.

Vier Minuten und 33 Sekunden: Mehr brauchte John Cage (1912–1992) nicht, um die Musikwelt des 20. Jahrhunderts auf den Kopf zu stellen. «4’33”», das Stück strukturierter Stille, vom Schliessen und Öffnen eines Klavierdeckels eingerahmt, sorgte bei der Uraufführung im August 1952 für einen weltweiten Skandal: Wie konnte der Amerikaner es wagen, Nicht-Musik, die Abwesenheit von Tönen, als Komposition zu verkaufen? «Ein Scharlatan», urteilten empörte Kritiker. «Ein genialer Provokateur, ein Revolutionär», feierten ihn Bewunderer.

Dabei war es keineswegs Cages Ziel, als Enfant terrible in die Kunst- und Musikgeschichte einzugehen. Im Gegenteil: Das eigene Ego zu überwinden, die Achtsamkeit gegenüber der Welt in allen Facetten zurückzugewinnen und neue, herrschaftsfreie Räume zu erschliessen, das war die Motivation hinter seinen scheinbar «zufälligen» oder «maschinell-seriellen» Kompositionen und «Zahlenstücken». Zeitlebens war Cage als Komponist, Maler, Vordenker, Avantgardist, Anarchist und Zen-Buddhist damit beschäftigt, Grenzen zu überschreiten, neue Wege zu erkunden, kurz: den Käfig dessen, was «klassische» Musik, Kunst oder Philosophie umfassen, zu sprengen.

Unerreicht radikal

Auf Werk und Wirkung des «Mythos» John Cage zurückzublicken, entbehrt dagegen nicht einer gewissen Ironie. Denn Cage selbst verschwendete keine Zeit damit, zurückzuschauen, einzuordnen, zu archivieren. Dies erfuhr Mike Svoboda, heute Professor für zeitgenössische Musik in Basel, als junger Posaunist ganz unmittelbar, als er Cage kurz vor dessen Tod kennenlernte. «Ich wusste, dass er eine ganze Menge Werke für Posaune geschrieben hatte, und fragte ihn nach deren Namen. Da lachte er nur und antwortete: ‹Keine Ahnung! Ich habe in den letzten Jahren so viel komponiert, dass ich den Überblick verloren habe.›»

Mike Svoboda

Mike Svoboda (Bild: zvg)

Dieses unübersichtliche, wild wuchernde Gesamtwerk hält Svoboda heute für «kühn» und «unerreicht radikal». Mehr noch: Der Einfluss Cages sei gar nicht zu überschätzen. «Jeder ist von Cage beeinflusst – nur kann nicht jeder sagen wie.» Svobodas eigene einstige Ambivalenz ist selbst das beste Beispiel: «Auch ich hielt seine Arbeit früher für Quatsch, dachte, man könne diesen Typen nicht ernst nehmen», gibt der Professor und Komponist zu: «Es dauerte lange, bis ich realisiert habe, wie genial er ist.»

Der letzte Universalgelehrte

Jetzt, fast hundert Jahre nach seinem Geburtstag am 5. September 1912, hält er ihn «für einen der letzten Universalge­lehrten, einen richtigen ‹Renaissance Man›». Doch worin liegt Cages Zauber? «Er hat sich von den Kategorien richtig und falsch befreit, um das Wesentliche zu sehen. Er hat aufgehört, nach Antworten zu suchen, um präzise Fragen zu stellen. In seiner unglaublich starken, kompositorischen Handschrift schlug sich seine Weltanschauung nieder: Hinter dem Komponisten steckte stets der Philosoph Cage.»

Dies ist für Svoboda auch der Grund, warum Cages Stücke gegenwärtig nur noch selten aufgeführt werden: «Cage, das ist mehr eine Haltung oder Herangehensweise als eine klare Schule.» Ihn einfach nachzuahmen habe keinen Sinn – schliesslich sei es ja gerade sein Ziel gewesen, dass jeder Interpret sich selber einbringe und so zum Co-Autor werde. «Doch nur die wenigsten können mit dieser Freiheit etwas anfangen: Die meisten missachten oder missbrauchen sie. Darum gibt es leider kaum einen Komponisten mit mehr schlechten Aufführungen als Cage.»

Ein unbequemer Charmeur

Einer der wenigen renommierten Schweizer Cageianer ist dagegen der Pianist und Komponist Werner Bärt­schi. Als 14-Jähriger hörte der heutige Leiter des Musikkollegiums Zürcher Oberland zufällig am Radio ein Klavierkonzert von Cage. «Meine Eltern schüttelten bloss den Kopf – ich aber war fasziniert. Er hat alles gesprengt, was ich je kannte», erinnert er sich. Nur vier Jahre später, 1968, elektrisierte Bärtschi bereits selbst mit einem Rezital von «Water Music» seine Hörer: «Es war eine aufregende Zeit. Heute kann man sich kaum mehr vorstellen, wie sehr Cage damals polarisierte, wie heftig man über ihn stritt.»

Werner Bärtschi

Werner Bärtschi (Bild: zvg)

In Cages letzten Lebensjahren pflegten die Künstlerfreunde dann auch einen privaten Austausch: Während der Uraufführung zum Kompositionsauftrag «14» und einer grossen Werkschau im Zürcher Opernhaus wohnte Cage jeweils bei Bärtschi zu Hause, kochte und trank Wein mit ihm. «Er war unbequem, stellte gerne Fragen und zettelte Diskussionen an. Gleichzeitig war er sehr charmant und trotz des Rummels bescheiden: eine grosse Persönlichkeit!» Trotzdem bedauert Bärtschi, dass stets die «Person Cage» im Rampenlicht steht: «Es wäre höchste Zeit, sein Werk ins Zentrum zu stellen.» Warum aber wurde der stille Revolutionär zur Ikone, während sich Stille über sein Werk legt? «Für mich bedeutet Cageianer sein nicht, gleich zu denken oder dieselbe Musik zu machen», betont Bärtschi. «Im Gegenteil: Cage liess anderen Stimmen viel Platz. Man muss ihn nur kreativ nutzen. Ich wünschte mir, mehr junge Musiker täten dies.»

Cage 2.0: Dada Global

Hört man sich unter Musik- und Kunststudenten um, winken tatsächlich viele beim Thema Cage ab: Für die einen bereits überholt, scheint er für die anderen noch immer zu exotisch. Anders dagegen im postmodern pulsierenden Grenzbereich zwischen Kunst, Musik und Philosophie: Hier zeigt zum Beispiel David Daniel (29) alias Dada Global auf, wie eine zeitgenössische Auseinandersetzung mit Cage aussehen kann. Dada, studierter Pianist und Violoncellist, seit über einem Jahrzehnt aber auch in der elektronischen Musikszene als DJ, Musiker und Leiter von Zürcher Clubs aktiv, lässt in seinen Klanginstallationen und -performances nämlich den Geist Cages im Gewand der Generation 2.0 aufleben.

David Daniel

David Daniel (Bild: Vanessa Billeter)

So fliessen etwa selbst präparierte Instrumente in seine Musikstücke ein, so initiiert er zurzeit als Artistic Director bei der Plattform «SoundDevelopment City» klangliche Interventionen im urbanen Raum Europas oder programmierte er während der Art Basel einen Computer, um zufällige Worte aus dem Begleitkatalog auszuwählen und sie mithilfe von Sprachsynthese durch Lautsprecher wiederzugeben. «Für mich bedeutet Cage die Betonung von Stille, Imponderabilia in der Musik, Ernsthaftigkeit und Schalk zugleich: Poesie», so Daniels Fazit: «Cage ist tot, doch in diffundierter Weise in uns übergegangen.»

Will heissen: Wer John Cage zum 100. Geburtstag ein Geschenk machen möchte, der blickt nicht nostalgisch zu ihm zurück, sondern nutzt vielmehr die Freiheit seines gesprengten Käfigs, um sich genau wie einst Cage selbst fortzubewegen: nämlich volle Kraft voraus in die Zukunft.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 31.08.12

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