Der Autor als Gesamtwerk

Guido Bachmann (1940 bis 2003) begann seine Karriere als Schriftsteller mit einem Skandal. Sein wuchtiges Werk begeistert bis heute. Einblicke in einen bedeutenden Nachlass. 

Die Zigarette bleibt in der Hand: Der Lebemann Guido Bachmann beim Signieren eines seiner Bücher. (Bild: Kurt Wyss)

Guido Bachmann (1940 bis 2003) begann seine Karriere als Schriftsteller mit einem Skandal. Sein wuchtiges Werk begeistert bis heute. Einblicke in einen bedeutenden Nachlass. 

Wer hat Angst vor «Gilgamesch»? Mit dieser Frage wurde am 25. November 1966 zur Diskussion über den Erstlingsroman des jungen Schriftstellers Guido Bachmann eingeladen. Treffpunkt: «Junkere 37», der Altstadtkeller der Berner Nonkonformisten. Die «Gilgamesch»-Ausgabe, die der Burgdorfer Gymnasiast Martin Schwander an diesem Abend vom ­Autor signieren liess, wurde wenige Wochen später zum Corpus Delicti in einem Fall, der Aufsehen erregte.

Leibhaftiger Skandal

Der junge Literaturbegeisterte hatte Bachmann für eine Lesung im Burgdorfer Lesezirkel «Gruppe 67» engagiert und das Buch zur Vorbereitung auf den Anlass seinen Mitschülern ausgeliehen. Am darauffolgenden Montag wurde Schwander durch den Rektor vom Unterricht suspendiert, die Jugendanwaltschaft leitete eine Strafuntersuchung wegen «Verbreitung einer unzüchtigen Schrift» gegen ihn ein. Dass durch das Buch die Homosexualität unter Jugendlichen zum Thema wurde (ohne allzu explizit dargestellt zu sein), war für die Pädagogen zu viel.

Die Boulevardpresse griff den Fall auf, sprach von «Meinungsterror». Kaum eine Zeitung im Land, die nicht ausführlich über die «Kultur-Revolution in Güllen» berichtete. Der Burgdorfer Literaturskandal wurde denn auch als Fortsetzung der Attacke gegen die moderne «Kloakenliteratur» in der Provinz verstanden, zu der Professor Emil Staiger im Dezember 1966 in seiner Zürcher Preisrede angesetzt hatte.

Der Skandal löste einen Run auf «Gilgamesch» aus und machte den Debütanten mit einem Schlag berühmt. Gleichzeitig reduzierte die Unruhe um das Buch dieses zu Unrecht auf die Sparte der erotischen oder Schwulen-­­literatur und unterschlug dessen literarische Qualitäten. Haben doch die expressive Sprache und die mythologische Verdichtung bis heute nichts von ihrer Kraft verloren.

Leben als Werk

Was zeichnet Bachmanns Werke aus, was empfiehlt sie dem heutigen Leser? Zuallererst der Anspruch, durch und in der Literatur den eigenen Kosmos mit der «Geschichte des Universums», wie er in «Echnaton» schreibt, zu verschmelzen, sowie die Unbedingtheit, mit der er als Autor diesen Anspruch zu verwirklichen versuchte. Dafür fand Bachmann die Formel, dass er sein eigenes Gesamtwerk sei. Angeregt durch die grossen Romanexperimente der Moderne, etwa eines Hans Henny Jahnn, strebte Bachmann nach einer Totalität der Literatur, in der auch das eigene Leben aufzugehen hatte.

Leben lebenslänglich

Dieser Zugriff auf das «ganze Leben» erfolgt in seinem Hauptwerk, der Trilogie «Zeit und Ewigkeit» (1966–1982), wesentlich über drei literarische Verfahren: die «Heimholung» von Mythen in die eigene Zeit, die Auflösung eines linearen Zeitbegriffs zugunsten einer «assoziativen Verschnürung» verschiedener Bewusst­seins­ebenen sowie die Suche nach experimentellen sprachlichen Darstellungsformen. Wie stark sich Bachmann in seinem Schreiben an musikalischen Kompositionsprinzipien orientierte, wird an dem kunstvoll-verschlungenen Roman «Dionysos» (1990) besonders deutlich.

Nachdem er die Möglichkeiten der Fiktion ausgelotet zu haben glaubte, wandte er sich mit «lebenslänglich» (1997) und «bedingt entlassen» (2000) der Autobiografie im engeren Sinn zu. Die für sich behauptete Identität von Leben und Werk grundiert auch seinen anarchisch-kritischen Blick auf das Bestehende, denn: «Unbequem ist man erst, wenn man ist, was man schreibt.»

Guido Bachmann verdient nicht nur wegen des literarischen Rangs seiner Texte Beachtung; als Autor steht er für etwas, das sich gerade die heutige Zeit (wieder) wünscht: die Verschmelzung von künstlerischem Experiment und politischem Engagement. In Basel hat Bachmann 25 Jahre seines Lebens verbracht und sich mit seinen öffentlichen Auftritten und privaten Exzessen in das kulturelle Gedächtnis der Stadt eingeschrieben. Aber was bleibt, wenn eine gewichtige Stimme verstummt?

Dokumente des Lebens 

Als Vorkehrung gegen das Vergessen übergab Bachmann bereits 1993 (zwei Jahre nach der Gründung des Schweizerischen Literaturarchivs ein programmatischer Akt) seinen Nachlass der Universitätsbibliothek Basel als Schenkung. In den 105 Archivschachteln mit Werkmanuskripten, Briefen und Lebensdokumenten trifft man weniger auf einen Skandalautor als vielmehr auf Bachmann den Schreiber: Auffallend ist, wie ordentlich und auf deren Nachleben im Archiv bedacht er selbst die zahlreichen und oftmals sehr umfangreichen Vorstufen und Fassungen seiner Texte gekennzeichnet und abgelegt hat.

Leben im Schreiben

Diese Papierberge eröffnen Einblicke in die Entstehung der Texte. Bachmann schreibt immer von Hand in relativ kurzer Zeit eine erste Fassung des Texts nieder. Dann schreibt er den Text immer und immer wieder neu und nähert sich so dessen endgültiger Form gleichsam in mehreren Anläufen an. Von der «Parabel» etwa existieren 17 Fassungen, jede mehrere Hundert Seiten lang. Ziel dieses Verfahrens war es gemäss Bachmann, dass die Texte «wie aus einem Guss» wirkten und ihre musikalischen Qualitäten behielten.

Waren die autobiografischen Bücher Bekenntnisse, so bilden die nachgelassenen Lebensdokumente deren Beglaubigung – seinen Ausgangspunkt hatte Bachmanns Unbedingtheitsanspruch wirklich im eigenen Leben. Wenn er etwa in «lebenslänglich» behauptet, ein Zitat von Robert Walser in seinen Schweizer Pass geschrieben zu haben, liest sich dies wie ein Sinnbild dichterischer Freiheit. Doch tatsächlich steht in dem Ausweisdokument ein Satz aus dem Prosastück «Hölderlin»: «Der Traum, den du dir vom Leben machst, raubt dir das Leben.»
Nicht alle seine Schriften hat Bachmann der Nachwelt vermacht: Anfang 2003, in dem Jahr, in dem er an einem Alkoholexzess sterben sollte, verbrannte er, den eigenen Tod befürchtend, alle seine Tagebücher: 35 Bände, mehrere Tausend Seiten. Denn, wie er in einem Interview gestand, darin stand das, «was ich im dritten Band der Autobiografie verwurstet hätte». Offenbar drohte das Werk das Leben doch noch einzuholen. Glücklicherweise sind von diesem Akt der (Selbst-)Vernichtung Tausende von Manuskriptseiten verschont geblieben, in denen Bachmanns Werk kraftvoll weiterlebt.

 

  • Im Rahmen eines Seminars hat Lucas Marco Gisi mit Studierenden den Nachlass Bachmanns erforscht und eine kleine Ausstellung in der Universitätsbibliothek Basel vorbereitet, die am 15. 2., um 18 Uhr, eröffnet wird.
  • Im Anschluss daran (um 20 Uhr) findet im Literaturhaus Basel ein Guido-Bachmann-Abend statt: Es lesen, erzählen und diskutieren Peter Burri, Martin R. Dean und Hansjörg Schneider.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.02.12

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