Der grosse Hype in der Schweizer Literaturbloggerszene ist noch keiner

Anstatt zur Buchmesse ein paar Alibi-Rezensionen aufs Tapet zu zerren, werfen wir lieber einen Blick auf die literaturkritische Szene der Schweiz. Also ins Internet, dort findet Literaturkritik im 21. Jahrhundert doch statt, oder nicht? Sagen wir so: Die Szene kommt langsam in Fahrt.

(Bild: Nils Fisch)

Anstatt zum Literaturfestival ein paar Alibi-Rezensionen aufs Tapet zu zerren, werfen wir lieber einen Blick auf die literaturkritische Szene der Schweiz. Also ins Internet, dort findet Literaturkritik im 21. Jahrhundert doch statt, oder nicht? Nun, zumindest die Bemühungen sind da.

In Basel wird am 13. November der neunte Schweizer Buchpreis verliehen. Für die einen ein willkommener Anlass, die feuilletonistischen Krallen zu wetzen. Ein willkommener Anlass aber auch, sich nach dem literaturkritischen Treiben ausserhalb der Redaktionsstuben umzuschauen. Gibt es in der Schweiz so etwas wie eine Buchbloggerszene? Wie innovativ kümmert sich die literaturinteressierte Netzgemeinde hierzulande um die Schaffung neuer Rezensionsformate im Internet?

Oder auch: Wackeln die Throne der grossen Kritiker? Wird neu der Kanon von unten geschrieben?

Der deutsche Buchpreis lässt das obligate Vorgeplänkel seit 2015 von einer Handvoll offizieller Buchpreisblogger bestreiten. Autorinnenportraits, Interviews und Rezensionen werden seither niederschwellig, netzkompatibel und unterhaltsam ins Netz hinausgezwitschert. Absender: Eine in literaturkritischen Kreisen als blasphemisch verschrieene Buchstabenkombination. Das ICH.

Apropos Blasphemie: Seit dem Tod der streitbaren Kritikergrösse Marcel Reich-Ranicki bleibt im deutschsprachigen Raum der Thron des «Literaturpapstes» verwaist.

Nicht, dass keine Ambitionen im Raum stünden. Im neu lancierten literarischen Quartett schlüpft Maxim Biller in die Rolle des beisswütigen Stilrichters, und auch der SRF-Literaturclub hat ja bekanntlich seine Frau fürs Grobe.

Aber so richtig funktioniert das schon lange nicht mehr mit der Daumen-hoch-Daumen-runter-Methode. Und das hat eine ganze Menge mit dem Internet zu tun. 

Manuela Hofstätter: die Erste

Manuela Hofstätter ist eine Pionierin der helvetischen Online-Kritik. Ihr Blog Lesefieber.ch ist seit 2005 online und erreicht heute Besucherzahlen im 1000er-Bereich – pro Tag. Auf Twitter kratzt ihr Account an der 10’000er-Marke. «Social Media ist enorm wichtig», lässt Hofstätter am Telefon verlauten, «dort findet der Austausch statt, dort werden Lesetipps und Textideen herumgereicht.» Wie viele andere Blogs führt auch Lesefieber eine Blogroll, eine Linkliste mit Hinweisen auf andere Blogs. Man kennt sich, unterstützt sich, empfiehlt sich. Eine literaturkritische Online-Allianz gegen verstaubte Feuilletonisten?

Immer in Kontakt mit der Community. Die Bloggerin fährt Zug.

Hofstätter verneint: «Ich sehe uns Bloggerinnen viel eher als Ergänzung zum etablierten Kritikerbetrieb.»

Aber als gelernte Buchhändlerin trägt Hofstätter noch heute die Klage vieler Kunden im Ohr, die Buchpreis-Literatur sei ihnen zu abgehoben und elitär. Dass darum auch die Kritiken in den grossen Zeitungen «ohne Fremdwörterbuch oft nicht zu verstehen» sind, ist für Hofstätter die logische Antwort auf die Machart genau der Handvoll Bücher, die jeweils im Spätherbst zur Auswahl für den Buchpreis stehen. Auf Lesefieber.ch werden darum auch sonst wenig beachtete Raritäten besprochen.

Der Blog macht allerdings auch keinen Bogen um die Nominierten des Schweizer Buchpreises, von Kracht bis Steinbeck stehen sie alle fein säuberlich da. Denn: Hofstätter wurde in diesem Jahr vom Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband (SBVV) zur offiziellen Buchbloggerin für den Schweizer Buchpreis nominiert. Ein Engagement ohne Auflagen, versichert Hofstätter – und dennoch ein cleverer Schachzug des SBVV, der damit natürlich von Hofstätters Zugang zu einer wohlwollenden Fanbase profitiert.

Followerzahlen und Click-Ratings sind die Währung der Bloggerszene, je stilsicherer der Blog, desto grösser die Anzahl Fans. Die Verlage honorieren das Engagement dieser Laienkritik mit gratis Rezensionsexemplaren – manchmal auch mit doppelbödigen Angeboten. «Ich bekomme regelmässig Anfragen von Verlagen, ob sie auf meinem Blog einen Platz buchen können», erzählt Hofstätter, «die wollen meine Besprechungen ganz einfach kaufen.» Die Bloggerin lehnt solche Angebote ab, sah sich aber aus der Community trotzdem schon mit dem Vorwurf konfrontiert, wegen der vielen besprochenen Diogenes-Titel «von denen gekauft zu sein».

«Völlig lachhaft», sagt Hofstätter dazu, Diogenes sei nun mal der grösste Schweizer Verlag. Trotzdem achtet sie seither auf eine buntere Durchmischung der besprochenen Bücher. 

Freunde, Fantasy, Favola

Neben Lesefieber gibt es nur eine Handvoll weiterer deutschsprachiger Blogs mit Schweizer Domain (ein paar werden hier aufgeführt), die regelmässig gefüttert werden. «Favolas Lesestoff» gehört in der All-Age-Sparte zu den meistfrequentierten. «Die Literaturbloggerszene steckt hierzulande noch in den Kinderschuhen, wenn man sie zum Beispiel mit Deutschland vergleicht», sagt Nicole Forrer, die den Blog betreibt und soeben von der Frankfurter Buchmesse, «unserem Bloggerklassentreffen», zurückgekehrt ist.

Der dtv-Verlag hat die Ehre: Bloggerinnen-Besuch an der Frankfurter Buchmesse.

An den Messen werden Bloggerinnen und Blogger längst wie Journalisten behandelt, exklusive Meet and Greets mit Autorinnen und Autoren, Rezensionsexemplare und videotaugliche Blicke hinter die Kulissen inklusive. Das viele Lesen würde ohne das Entgegenkommen der Verlage ganz schön ins Geld gehen, meint auch Forrer, bezahlt werde sie für ihren Aufwand aber nicht: «Das ist mein Hobby.»

Forrer liest und bespricht zwischen 150 und 200 Bücher im Jahr, bei Hofstätter sind es unwesentlich weniger. Beide beschreiben sich als Liebhaberinnen, die ihre Community an ihren Lese-Eindrücken teilhaben lassen wollen. Durchaus kritisch zwar, aber letztendlich immer wohlwollend.




Im Feuilleton selten zu haben: die Plauderei mit der Autorin. (Bild: Screenshot Favolas-Lesestoff.ch)

Und das ist die Crux der privat initiierten Netzkritik. Auf den meisten Blogs treffen interessierte Leserinnen und Leser auf bibliophile Seelenverwandte, Online-Brieffreundschaften oder Leseempfehlungen. Bissige Besprechungen, die auch mal weh tun: Fehlanzeige. In den meisten Fällen verharrt die helvetische Blogkritik in einer affirmativen Schwärmerei, die entweder Special-Interests bedient («Favolas Lesestoff») oder aber den Kanon mit persönlich gefärbten Rezensionen begleitet (Lesefieber.ch).

Schweizer Buchjahr: noch nicht punk genug
 
Einen anderen Anspruch erhebt die noch taufrische Plattform «Schweizer Buchjahr», ein Gemeinschaftsprojekt der Universität Zürich und einer Reihe literaturkritischer Magazine wie «Vice Versa», dem «Literarische(n) Monat» oder «Delirium».

Der «digitale Almanach», wie ihn der Mitbegründer und Professor für Literaturwissenschaft, Philipp Theisohn nennt, ist eigentlich eine Frühgeburt. Ursprünglich hätte das Projekt erst 2017 online gehen sollen, aber auf Anfrage der Buchpreis-Verantwortlichen fand der Launch bereits im Oktober statt. Theisohn ist Mitglied in der Buchpreis-Jury und verzichtet daher bis nach der Buchpreis-Verleihung auf eine publizisitische Teilnahme.

Hier erfahren Sie «alles, was sie über den Buchpreis wissen müssen und niemals zu erfahren hofften», verspricht kokett Eintrag 1, zusammengestellt von einem Team, «das kein Blatt vor den Mund nimmt». Philipp Theisohn umschreibt die Blogmission so: «Wir wollen ein gewisses Niveau haben und anhand neuer Literatur über Diskurse in der Schweiz nachdenken.»  

Der Blog startet vielversprechend. Die Themenwahl ist breit (neben den obligaten Rezensionen finden sich Analysen zur Bedeutung des Buchpreises für Bibliotheken und Fragen zur Lage der schreibenden Nachwuchsnation) und wagt sich durchaus ins Abseits ausgetretener Debattenpfade. Erfreulich ist der Fokus auf die Schweiz, anstrengend dagegen die unübersichtliche Zahl Rubriken.   

Deutlich zulegen dürfte das junge Projekt zudem in Sachen Multimedialität. Wer sich auf die Fahne schreibt, über Diskurse in der Schweiz nachdenken zu wollen, darf dies auch in der multimodalen Sprache der Diskurse tun – Video, Audio, Bilder, Grafiken, Gifs und eine Prise Social-Media-Gedöns würden dem «Schweizer Buchjahr» gut anstehen. Die unterhaltsame Rubrik «Das Literarische Quintett» ist ein Anfang.




Unterhaltsames Format: das literarische «Kampfgewicht» der Michelle Steinbeck auf einer Quartettkarte. (Bild: Screenshot buchjahr.uzh.ch)

Ausserdem stellt sich auch in diesem Fall die Frage, wer durch diesen Blog bedient und zur Teilnahme eingeladen wird. Am Sprachstil der bisherigen Einträge gemessen: Eine akademisch getrimmte Avantgarde mit Rampensauqualität. Die Texte sind klug, aber für Normalsterbliche ohne Wörterbuch nicht zu verstehen, um es wie Hofstätter zu formulieren. Dem Debütanten in der Schweizer Bloggerszene ist darum zu wünschen, dass er den Elfenbein-Ballast abwerfen kann, um so bodenständig klug, witzig, punk und bohème zu werden, wie es ein bunt durchmischtes Netzpublikum verdient.

Tell-review.de: der Streber

Bleibt noch ein Blick auf den Online-Salon Tell der Zürcher Journalistin und Autorin Sieglinde Geisel. Das «Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft» ist das Desiderat einer engagierten Debatte zur Lage der deutschsprachigen Literaturkritik, die auf der Rezensionsplattform «Perlentaucher» ausgetragen wurde und im März 2016 zur Gründung von Tell führte. Streng genommen ist Tell also keine Schweizer Plattform, wir nehmen in diesem Fall die Schweizer Urheberschaft als Kriterium für die Aufnahme in unsere Rundschau.    

Ein Besuch bei Tell veranschaulicht, was Blogs zu leisten im Stande sind, wenn sie regelmässig gefüttert und sorgfältig moderiert werden: Unter den Beiträgen entspinnen sich angeregte Diskussionen, die ohne die in Zeitungsforen üblichen Gehässigkeiten auskommen. Die Meinungen der Kulturjournalistinnen und Autoren werden im Forum kritisch seziert und beleuchtet – in diesem Gesprächsklima funktioniert das einfach nicht mehr mit der Daumen-hoch-Daumen-runter-Methode.

Auf Tell findet tatsächlich eine Demokratisierung der Kritik statt. Und das hat eine ganze Menge mit dem Internet zu tun.

Was die Profis denken

Und was sagen eigentlich die Berufskritiker zu Schweizer Bloggerszene? Sowohl Martin Ebel, Literaturredaktor beim Tagesanzeiger, als auch Nicola Steiner, Moderatorin des SRF-Literaturclubs, geben an, hin und wieder bei Tell vorbeizusurfen. Abgesehen davon nutzt Ebel «gar keine Literaturblogs». Steiner hält fest, dass typische Blogs selten über das «subjektive Geschmacksurteil der Schreibenden» herauskommen und fügt lakonisch an: «Wir wissen ja, dass subjektive Äusserungen einer Kritikerperson nicht selten zu einer Diskreditierung derselben führen.»

Weder Steiner noch Ebel fürchten die Konkurrenz aus dem Netz. Ebel glaubt nicht, dass der Kanon neu von unten geschrieben werde.

Zu Recht. Die Schweizerische Literaturbloggerszene hat mit Schweizer Buchjahr erfreulichen Zuwachs bekommen, ist aber noch weit davon entfernt, die Spielwiese Internet mit so kreativen Ideen zu besamen, wie das etwa die Leute aus dem Fashion-Bereich tun. Das grosse Frühlingserwachen lässt noch auf sich warten.

Nächster Artikel