Der Klang der Psyche

Das Lucerne Festival steht in diesem Jahr unter dem Motto «Psyche». Was taugt ein so weitgefasster Begriff für ein Klassik-Festival? Und wie klingt das?

Putins Freund, strenge: Gergiev. (Bild: Alexander Shapunov)

Das Lucerne Festival steht in diesem Jahr unter dem Motto «Psyche». Was taugt ein so weitgefasster Begriff für ein Klassik-Festival? Und wie klingt das?

«Einst hatte die Psyche ihren Wohnsitz in der Zirbeldrüse!», sagte der Komponist Heinz Holliger beim Lucerne Festival, das sich zum Ausdiskutieren des Festivalmottos eine Ausgabe des NZZ-Podiums ins Haus geladen hatte. Und der Schriftsteller Martin Mosebach präzisierte: «Die Seele ist das Nichts, das das Ding zu dem macht, was es ist.» 

Nicht immer geht es so ironisch zu beim «Versuch, das Unfassbare zu fassen», wie Büchner-Preisträger Mosebach sein Impulsreferat betitelte – doch die Motti der Schweizer Sommerfestivals geben alljährlich Anlass, über die Sinnhaftigkeit einer solch sprachlich fixierten programmatischen Ausrichtung zu sinnieren.

Die Motto-Versessenheit der Festivals

Die Bandbreite reicht von so selbstverständlich musikbezogenen Motti wie dem «Tanz» (Menuhin Festival Gstaad) – welche Musik hat ihre Wurzeln, ihren Bezugspunkt nicht im Tanz? – bis hin zu humoristisch gefärbten Oberthemen wie «Halt auf Verlangen» (Davos Festival) – welch gelangweilter Konzertbesucher hat sich nicht schon einmal einen im Konzertsaal absolut unrealisierbaren Halt-auf-Verlangen gewünscht?

Gerade bei einer so grossen und programmatisch vielseitigen Veranstaltung wie dem Lucerne Festival geht mit jeder Mottowahl auch die Gefahr einher, dass sie zur Beliebigkeit verkommt. Nach «Eros» (2010), «Nacht» (2011), «Glaube» (2012) und «Revolution» (2013) soll in diesem Jahr nun also «Psyche» Inspiration und Zusammenhang zwischen 148 Veranstaltungen in 31 Tagen stiften. Und auch wenn Intendant Michael Haefliger damit die «Macht der Musik, ihre erstaunliche Wirkung auf unsere Seele» meint – für welche Kunstrichtung gilt das nicht?

Was Babys hören wollen und sollen

Indes versammeln sich in jedem Jahr die gleichen Komponisten in den Programmen der Sinfoniekonzerte: Beethoven, Brahms, Dvořák, Mahler, Mozart, Schumann, Tschaikowsky. Weil diese Musik mitnichten Abnützungserscheinungen, sondern vielmehr einen Suchtfaktor bei den Seelen des Publikums erzeugt. Schon der Neuropsychologe Lutz Jäncke berichtete zu Beginn des Festivals in seiner Eröffnungsrede: Forschungen hätten gezeigt, dass Babys immer wieder die gleiche Musik hören wollen – egal, um welche Stilrichtung es sich handelt. Einmal in einem bestimmten Klangspektrum sozialisiert, will die angenehme Gefühle auslösende Musik immer wieder konsumiert werden.

So anders ist das bei den Erwachsenen nicht – weshalb Holliger ermahnend davor warnte, Kindern heute nur Popmusik vorzuspielen. Sie verlernten damit die angeborene Fähigkeit, offen jegliche Musikrichtung als Sprache zu verstehen, Verstehen und Genuss beim Hören komplexerer musikalischer Strukturen zu empfinden.

Doch unfreiwillig rückt das Thema Psyche auch auf eine andere Art und Weise in den Fokus: Der Tod Claudio Abbados im Januar diesen Jahres hat sein Lucerne Festival Orchestra führungslos gemacht. Es zeugt von einer starken Psyche, dass sich der 35-jährige Andris Nelsons dem «vorprogrammierten Scheitern» (NZZ) stellte, und die Leitung dieses Klangkörpers übernahm. 

Kindliche Freude an der Musik

Nach dem Eröffnungskonzert am 15. August spendete das Publikum Standing Ovations; die Kritiker aber waren geteilter Meinung, ob dies eine zukunftsträchtige Zusammenarbeit sei. Doch die Musiker selbst schätzen Nelsons Arbeit. Lucas Macías Navarro, Solo-Oboist des LFO, schreibt auf dem Festival-eigenen Blog: «Andris vermittelt uns das Gefühl, dass er uns schätzt. Nie ist es bei ihm wie bei manchen anderen Dirigenten, die glauben, den Orchestermusikern alles sagen zu müssen, und sogar jedes Solo vordirigieren. So etwas ist frustrierend.»

Tatsächlich liess sich auch bei Nelsons Gastspiel mit seinem eigenen Klangkörper, dem City of Birmingham Symphony Orchestra, die Wirkung der Musik (und ihrer Interpreten) auf die menschliche Psyche beobachten. Nelsons, der junge, dynamische Lette, zelebrierte beim Karfreitagszauber aus Wagners «Parsifal» sein sensationell zartes, durchdringendes Pianissmo, seine klaren, grossen Entwicklungsbögen, und bei Beethovens siebter Sinfonie seine feurigen, fokussierten dynamischen Ausbrüche – all dies mit Bewegungen, die seine kindliche Freude an der Musik (etwa, wenn er mit beiden Beinen gleichzeitig in die Luft springt und mit den Armen rudert) auch auf das Publikum überträgt. Standing Ovations, abermals.

Psychischer Beiklang bei Tschaikowsky

Standing Ovations erhielt auch Valery Gergiev, der mit seinem Mariinsky Orchestra angereist war. Seine politische Verbundenheit mit Vladimir Putin schien hier niemanden zu beeindrucken. Gergievs Dirigierstil ist ein durchweg anderer: Durchdringende Blicke, Bartstoppeln, die kein Lächeln preisgeben, und Hände, die beim ersten Ton drohend zu zittern und beben anfangen. Auch hier Wagner, mit dem satten, ungemein weichen und herben Klang der Russen, eine geradlinige, wenn auch etwas eindimensionale Klangdramaturgie bei Tschaikowskys Sinfonie «Pathétique».

Doch der psychische Beiklang der Komposition – der homosexuelle Tschaikowsky starb wenige Tage nach Vollendung der Komposition, Selbstmord nicht ausgeschlossen – war hier eindrücklich umgesetzt: Sensationell, wie langsam, wie leise der letzte Ton, der letzte Atemzug verklang. Hier eine Aufnahme des Stücks in derselben Besetzung unbekannter Herkunft:

Unfreiwillige Präsenz des Mottos

Das Motto Psyche ist also auf vielerlei Ebenen beim Lucerne Festival präsent. Manchmal unfreiwillig – etwa, wenn die kostenlosen «40min»-Konzerte dem Besucherandrang kaum standhalten können (gratis zieht) –, manchmal gewollt (wer gewinnt den Wettbewerb um die exquisiteste Abendgarderobe?). 

Um das aufzulockern, kooperiert das Lucerne Festival mit dem parallel stattfindenden Strassenmusikfestival. Trotz Regen wurde die Pause vor dem KKL von schrillbunt gekleideten Volksmusikern aus Madagaskar zur dritten Konzerthälfte verwandelt. Natürlich gilt auch hier das Festivalmotto.

«Dieses Jahr musste ich mir keine grossen Gedanken machen», sagte Organisator Hugo Faas dazu kürzlich in einem Interview: «Musik ist die Sprache der Seele.»

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