Der Mensch, die Schweizer, der Bundesrat – als Reiskorn

In der Performance «Of all the people in all the world» sind alle Menschen klein, dünn und weiss: Mit Reiskörnern stellt die Künstlergruppe Stan’s Cafe Mengen dar, die wir nur als abstrakte Zahlen aus Zeitungsberichten kennen.

In braunen Industrie-Kitteln gekleidet stehen die Künstler Red und Antwort.

(Bild: Eleni Kougionis)

In der Performance «Of all the people in all the world» sind alle Menschen klein, dünn und weiss: Mit Reiskörnern stellt die Künstlergruppe Stan’s Cafe Mengen dar, die wir nur als abstrakte Zahlen aus Zeitungsberichten kennen.

Die Schweiz hat acht Millionen Einwohner  – jeder Schweizer weiss das. Doch wirklich vorstellen können wir uns diese Zahl nicht. Ganz anders ist es, wenn wir diese abstrakte Zahl als tatsächliche Menge vor uns sehen können.

An der Performance «Of all the people in all the world» des britischen Theaterensembles Stan’s Cafe ist das möglich. Diese wird am Theaterfestival Basel in der Turnhalle Klingental gezeigt. Die Künstler stellen statistische Zahlen mit Reiskörnern dar – jeder Mensch ein Reiskorn. Die Schweizer Bevölkerung wird zu einem riesigen weissen Haufen. Daneben liegen sieben mickrige Reiskörner: der Bundesrat.

Abstrakte Zahlen, konkreter Reis

Angefangen hat alles im Jahr 2003, als James Yarker, der künstlerische Leiter der vierköpfigen Truppe, sich Gedanken zur Grösse dieser Welt machte. Die Weltbevölkerung, die damals aus 6,2 Milliarden Menschen bestand, wollte er greifbar machen: «Ich überlegte mir, dass wenn ich 6,2 Milliarden kleine Gegenstände hätte, ich mir die Menge vorstellen könnte. Die Performance «Of all the people in all the world» begann mit einem aus 6,2 Milliarden Reiskörnern bestehenden Haufen.

Doch erst im Vergleich mit anderen Zahlen liessen sich interessante Geschichten erzählen und Dimensionen verdeutlichen. Und so kamen viele neue Reishaufen dazu – die abstrakten Zahlen aus Zeitungsberichten wurden sicht- und spürbar. Heute können die Besucher um den Haufen aller McDonald’s-Konsumenten weltweit eine Runde drehen und die Zahl der Schweizer Burger-Freunde mit zwei Handlängen abmessen.



Die grosse weite Welt...

Die täglichen Anzahl McDonald’s-Kunden weltweit… (Bild: Eleni Kougionis)



... und die kleine Schweiz.

… und die der Schweiz. (Bild: Eleni Kougionis)

Für Zahlenfanatiker ist «Of all the people in all the world» nicht geeignet – denn Zahlen werden nicht ein Mal angeschrieben (können jedoch vor Ort nachgefragt werden). Stattdessen regen die Reishaufen zum reflektieren an – Yarker nennt die Performance eine Mischung zwischen Poesie und Statistik. In einer Allee von ähnlich grossen Haufen werden dem Besucher schweizerische und britische Abstimmungsresultate vor Augen geführt. Natürlich wissen wir, dass sowohl Masseneinwanderungs-Initive als auch Brexit-Referendum nur extrem knapp angenommen wurden. Trotzdem: Wenn man die Befürworter und Bestreiter links und rechts neben sich liegen sieht und sich die beiden Haufen mengenmässig kaum unterscheiden, erinnert man sich und wundert sich erneut. 



Acht Tonnen Reis häuft die englische Künstlergruppe in der Turnhalle Klingental auf. 

Acht Tonnen Reis häuft die englische Künstlergruppe in der Turnhalle Klingental auf.  (Bild: Eleni Kougionis)

Dass die Kombination der Reishaufen bei aller Nüchternheit der Zahlen einen grossen Teil ihrer Aussage ausmacht, ist den Künstlern bewusst: «Klar, wenn wir die Anzahl Millionäre der Welt neben die Anzahl Flüchtlinge der Welt positionieren, sagen wir damit indirekt, dass das Geld ungerecht verteilt ist.»



Bewusste Kombination, diskrete Aussage.

Bewusste Kombination: Der grosse Haufen bezieht sich auf Menschen, die aufgrund von Konflikten und Gewalt weltweit verdrängt wurden. Der kleine zeigt die Anzahl Personen, die für das internationale Komitee vom Roten Kreuz tätig sind. (Bild: Eleni Kougionis)

Jeder weiss, wie Statistiken instrumentalisiert werden, um bestimmte Behauptungen zu stärken. Dieser Problematik hält Stan’s Cafe einen Spiegel vor, indem sie die Manipulation von Statistiken ebenfalls mit Reishaufen verdeutlichen: «In Bezug auf eine Protestkundgebung haben wir die offiziellen Zahlen der Polizei und die offiziellen Zahlen der Protest-Organisatoren einander gegenübergestellt – die Zahlen unterschieden sich deutlich.»



Hier wird ein Spaziergang durch die Welt der Statistik möglich.

Keine Reiskörner zwischen den Zehen: Schuhschutz ist Pflicht. (Bild: Eleni Kougionis)

Der Performance-Reis

Dass Reis das Thema Welthunger symbolisiert, wurde der Künstlergruppe erst im Nachhinein bewusst – die Wahl des Mediums sei rein pragmatisch ausgefallen: «Reis ist klein und günstig. Anders als bei Sand oder Salz wird Reis nicht zu Staub, rollt nicht davon und man kann jedes Korn einzeln wägen.»

Gerade letzteres ist von Bedeutung – gezählt wird bei Stan’s Cafe nämlich nichts, nur gewogen: Die Künstler wissen genau, wie viele Körner in einem Gramm enthalten sind, und können die Haufen dadurch exakt abmessen.



Nix mit zählen: Die Körner werden gewogen.

Nix mit zählen: Die Körner werden gewogen. (Bild: Eleni Kougionis)

Dass Handlungsanleitungen zum Weltverbessern ausbleiben, kann manch einen Besucher empören: «Uns wurde schon oft gesagt, es wäre besser, mit dem Reis etwas Sinnvolles zu machen.» Doch die Menge täusche, sagt der Statistik-Künstler: «Wir benutzen insgesamt acht Tonnen Reis. Das hört sich nach viel an, aber diese Menge würde längerfristig keinen Nutzen bringen.»

Die umweltfreundliche Verwertung des Reises ist den Künstlern dennoch ein grosses Anliegen. So gross, dass sie ihre Performance an eine Bedingung knüpfen: Die Festivalorganisatoren müssen eine ökologisch korrekte Weiterverwendung garantieren, sonst bleibt Stan’s Cafe zu Hause. So kommt es, dass nach dem Festival einige Schweine und Kühe in der Region Basel in den Genuss von original Performance-Reis kommen werden.



Jedem Körnchen sein Plätzchen: Stan’s Cafe legt dem Besucher die Welt zu Füssen. 

Gute Nachrichten: Der grösste Haufen im Bild bezieht sich auf Polio-Fälle im Jahr 1988. Der kleinste auf das Jahr 2015. (Bild: Eleni Kougionis)

Finde deinen Haufen

Kann man riesige Reishaufen überhaupt eine Performance nennen? «Ja, denn die Haufen verändern sich fortwährend», sagt Yarker. Im Laufe der zwei Festivalwochen und in Anwesenheit der Besucher werden die Haufen verändert und ergänzt. In braunen Industrie-Kitteln sind die Künstler permanent anwesend. Vor den Augen der Besucher wägen und arrangieren sie den Reis neu. Der Betrachter ist dazu eingeladen, sich selbst in einem der Haufen zu finden und somit als Akteur im absurden Schauspiel der Welt wieder zu entdecken.



Vater und Tochter an der Arbeit: James Yarker ist der künstlerische Leiter von Stan's Cafe.

Vater und Tochter an der Arbeit: James Yarker ist der künstlerische Leiter von Stan’s Cafe. (Bild: Eleni Kougionis)

Und zu welchem Haufen gehören die Mitglieder von Stan’s Cafe? Sicherlich zum Haufen der Reisliebhaber. Yarker ist auch nach 13 Jahren noch nicht gesättigt: «Es ist ja nicht wie wenn ich in einem Fish and Chips Shop arbeiten würde und das Zeugs nicht mehr sehen könnte – und roher Reis verleitet nicht zum naschen. Die Ausstellung erinnert mich eher daran, wie sehr ich Reis mag!»


«Of all the people in all the world» am Theaterfestival Basel, Turnhalle Klingental, bis 5. September täglich von 17 bis 21 Uhr

 

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