Am 24. November 1991 starb Queen-Sänger Freddie Mercury – und mit ihm auch ein Teil meiner Jugend. Anlässlich seines Todestags präsentiere ich Ihnen meine ganz persönlichen Erinnerungen. Die Erinnerungen eines damaligen Pop-Royalisten.
Wach auf, sagte die Stimme. War es meine eigene, die mich aus dem Alptraum reissen wollte? Die Bettdecke raschelte. Ich öffnete ein Auge. Meine Mutter sass am Bettrand und zupfte mich. «Wach auf, Marc. Ich muss dir etwas Schlimmes sagen.»
Was konnte denn noch schlimmer sein als die Gedanken, mit denen ich am Abend zuvor einschlafen musste? Mein Idol Freddie Mercury sei HIV-positiv, hatten die Radiosender am Sonntag bekanntgegeben. Sie beriefen sich auf ein offizielles Communiqué.
«Freddie ist gestorben», sagte meine Mutter. «Sie haben es gerade in den Nachrichten gebracht.»
Ich war siebzehn. Ich war baff. Ich wünschte mir den Alptraum zurück, denn die Wirklichkeit war ja noch viel schlimmer.
Ich glaube, ich wollte in diesem Augenblick selber sterben. Denn ich war Fan. Grosser Fan. So gross, wie dies vielleicht nur Teenager sein können.
Auf den Geschmack gebracht hatte mich ein Lehrling meines Vaters, in den Herbstferien 1987. Tagsüber sammelte ich Äpfel und stockte so mein Taschengeld auf. Abends sammelte ich Höreindrücke und merkte, wofür ich das Geld ausgeben wollte: für Rockmusik. Vaters Lehrling spielte mir Schallplatten vor, von AC/DC, Deep Purple. Und schliesslich: von Queen. Erzählte leidenschaftlich vom Konzert seines Lebens (er war 18), 1986, im Zürcher Hallenstadion. Ich war fasziniert. Und elektrisiert. Unerhört genial, mitreissend, was da an meine Ohren drang.
Der Soundtrack zur Adoleszenz
Nach den Ferien verlor der Michael-Jackson-Spiegel in meiner kleinen Welt (sieben Quadratmeter, Dachschräge) an Bedeutung. Er wurde von Postern des britischen Rock-Quartetts verdrängt. Der Dorfkiosk interessierte nicht mehr nur der Panini-Bilder wegen. Wann immer im Inhaltsverzeichnis einer Jugendzeitschrift der Name Queen auftauchte, war sie gekauft. In der Gemeindebibliothek lieh ich Kassetten aus, schob sie in den Walkman und pedalte singend durchs Dorf.
Ich hatte den Soundtrack zu meiner Pubertät entdeckt. Mir wurde klar, dass diese Band in jeder Position stark besetzt ist, dass der Gitarrist Brian May mit seinen Gitarrensounds ein ganzes Sinfonieorchester ersetzen konnte, wie souverän auch Bassist John Deacon war, und sogar der Schlagzeuger Roger Taylor unersetzlich. Ich arbeitete die Vergangenheit einer Band auf, die 1971 gegründet wurde und Ende der 80er-Jahre ziemlich uncool war. Egal. Jede Platte, die ich entdeckte, regte meine Fantasie an, trug mich raus, aus dem Kinderzimmer, aus dem Dorf, in eine grosse Welt.
Die Lieder retteten mein Leben. So fühlte sich das zumindest an, als Teenager, als ich manchmal hilflos und verloren war, von Selbstzweifeln und Sinnfragen geplagt. Befiel mich eine dieser seltsamen Sehnsüchte, eine Melancholie, ein Welt- oder Liebesschmerz: Freddies Stimme spendete Trost, mit beseeltem und kraftvollem Gesang. Er gab mir das Gefühl, die Schwere des Lebens zu kennen und die Botschaft, nicht daran zu verzweifeln. Irgendwo da draussen in der Welt ist dein Platz, mein Freund!
Ein teures Hobby, Fan zu sein
Mit fünfzehn jobbte ich auch an schulfreien Nachmittagen, um meine Sammlung komplettieren zu können. Zuerst die Alben. Dann die Singles. Der Fetisch ging weiter: Jeansjacke mit aufgenähten Logos, T-Shirts, Tee-Tasse, Gurtschnalle.
Es war ein teures Hobby, Fan zu sein. Noch gab es kein Internet und damit auch keine Preisvergleiche. Inserate in Fachheften und Mailorder-Kataloge warben um die Fans, im Wissen, dass diesen die Idole teuer waren.
Es erforderte ein wenig Mut, diesen Fetisch auszuleben, auf dem Pausenplatz. Ich wirkte eher schrullig als interessant. Aber das Aussenseitertum nahm ich in Kauf. Die Verbündeten warteten zu Hause, an der Dachschräge, in der Stereoanlage, im Fanzine.
Es war der 24. November 1991, als mir mein Freddie starb. Iss etwas, Bub, bat mich meine Mutter, nachdem ich aufgestanden war. Ich hatte keinen Appetit. Auch keine Lust, zur Schule zu gehen. Doch sie kannte, bei allem Mitgefühl, kein Pardon.
Ich fühlte mich klamm und ratlos, als ich das Haus verliess. Radweg. Bahnhof. Regionalzug. Gymnasium. Was mich da erwartete, war mir schon peinlich, bevor ich die Schulzimmertür geöffnet hatte. 20 Köpfe drehten sich um, blickten mich an. Ich fühlte mich, als müsste ich ein Schauspiel abliefern. Und war doch wie gelähmt.
Alle wussten es, das von Freddie. Alle sahen es, das mit mir.
Unglücklich nahm ich Platz. Mein Wirtschaftslehrer, Herr Huber, fragte einfühlsam: «Marc, geht es?» «Es geht», sagte ich. Und verlor mich in meiner Trauer, die ich gar nicht so recht zu greifen bekam. Ja, es irritierte mich gar, dass ich nicht in Tränen ausbrechen konnte, dabei müsste man das doch jetzt, so wie man es von den jungen Schauspielern in den Vorabend-Serien kannte. Ging nicht. Stattdessen: Benommen. Dumpf. «Sie müssen nicht bleiben. Nehmen Sie sich den Vormittag frei», sagte Herr Huber nach zehn Minuten.
Der Fan fühlt sich im Stich gelassen
Ich stand auf, ging raus, lief los. Von Muttenz bis Basel. Lüftete den Kopf, kaufte am Bahnhof eine Packung Silk Cut – Freddies Zigarettenmarke – und eine englische Zeitung, ich glaube es war «The Sun», die auf der Frontseite in grossen Lettern verkündete: Freddie Mercury – «Es stimmt, ich bin HIV-positiv!»
Auf einmal erfasste mich eine Wut. Warum hatte er das nicht früher zugegeben, sodass man mit ihm hätte fühlen, mit ihm leiden können? Ratlos setzte ich mich in einen Park, den Walkman auf den Ohren, bis es mich durchschüttelte und ich weinen konnte. Flennen. Endlich trauern.
Es dauerte einige Tage, ja, vielleicht auch Wochen, bis ich realisierte, wie egoistisch ich gewesen war. Ich, der Fan, fühlte mich im Stich gelassen und machte ihm den Vorwurf, dass er mich nicht in sein Schicksal eingeweiht hatte. Wie naiv von mir! Wie dumm und idiotisch auch!
Ein würdevoller Abschied
Ich schämte mich. Trauerte ihm nach. Der Tatsache auch, dass ich diesen grandiosen Performer nie live erleben konnte. Entschlüsselte Rätsel, die mich monatelang beschäftigt hatten (Fans sind diesbezüglich unausstehlich, fragen Sie Dylanologen!). Auf einmal war vieles klar: warum das aktuelle Album «Innuendo» hiess («Andeutung», siehe Text nebenan). Warum Freddie in den letzten Clips trotz Make-up so fahl wirkte. Warum er 1989 den Rückzug von der Konzertbühne bekanntgegeben hatte. Und warum er sich nicht früher zu seiner Krankheit bekannte: Zum Schutz seines Lebenspartners, seiner Familie, seiner Freunde – und seiner selbst. Er wünschte sich Ruhe, in Montreux und in London, wo er lebte und arbeitete. «Erst als er nicht mehr im Stande war zu singen, zu schreiben, war sein Lebenswille gebrochen», erzählte Gitarrist Brian May später.
Anfang 1992 gab May mit seinen zwei Bandkollegen bekannt, dass sie das Leben und Schaffen ihres Freundes würdigen wollten. Stars wie Robert Plant (Led Zeppelin), David Bowie, Elton John, George Michael, Annie Lennox oder Guns’n’Roses zollten Freddie Mercury am Ostermontag 1992 Tribut. Ich stand inmitten der 72 000 Fans, die aus aller Welt angereist waren. Zu Hause nahm meine Mutter das mehrstündige Konzert auf Video auf, damit ich mich erinnern konnte. Es war ungefähr Reihe 17 im Wembley Stadion, wo ich emotional durchgeschüttelt wurde, glücklich, aufgehoben, stolz: Freddies Leben wurde gefeiert. In diesem würdigen Rahmen konnte ich von ihm Abschied nehmen.
Beste Queen-Coverband der Welt
Als Queen-Fan würde ich mich heute nicht mehr bezeichnen, als Bewunderer der Musik schon. Die Band hat, vor allem in den 70er-Jahren, Grosses geschaffen. Meine Sammelwut aber stellte sich irgendwann ein. Die letzten beiden aktiven Bandmitglieder, Brian May und Schlagzeuger Roger Taylor, haben es mir leicht gemacht. Seit 15 Jahren veröffentlichen sie altes Material in neuer Verpackung. Da war noch was? Ach ja, ein Comeback mit neuem Leadsänger, dem erdigen Paul Rodgers: Ich besuchte zwei Konzerte und erlebte dabei die beste Queen-Coverband der Welt. Nicht aber das Original.
Freddie Mercury wurde nur 45 Jahre alt. Er, der so viel positive Energie versprühte, so viel Kraft verlieh und Leidenschaft vermittelte, wurde von der eigenen Lebenslust zu Fall gebracht. Am 24. November jährt sich sein Todestag zum zwanzigsten Mal. Ich werde eine Platte auflegen, seine Stimme hören, mich an meine Jugend erinnern. Und ihm in Gedanken danken, dass er für mich da war. So viel Pathos muss sein.
Leicht ratlos, aber nicht ganz Gaga: Neues von Queen
Das wird lustig: «Borat»-Darsteller Sacha Baron Cohen soll Freddie Mercury spielen. (Bild: Foto: DUKAS, Roba Press)
Brian May und Roger Taylor ist die Ratlosigkeit anzumerken. Seit 20 Jahren verwalten der Gitarrist und der Schlagzeuger in erster Linie das Vermächtnis von Queen, dabei möchten sie doch gar noch nicht zum alten Eisen gehören – ganz im Unterschied zu Bassist John Deacon, der sich konsequent von der Showbühne verabschiedet hat.Zwischen 2005 und 2009 gaben May und Taylor als Queen mit Sänger Paul Rodgers ein Comeback, begleitet von einem mässigen Album. Zum 40-Jahr-Jubiläum in diesem Jahr legten sie lediglich das bekannte Gesamtwerk neu auf, ohne nennenswerten Mehrwert. Das wollen die beiden 2012 ändern, indem sie letzte Raritäten veröffentlichen – darunter auch Lieder, die Freddie Mercury in den 80ern mit Michael Jackson aufgenommen haben soll. Gerüchte, wonach Lady Gaga als Leadsängerin für eine Tour einspringen wird, haben sie hingegen dementiert. Man schätze sich, habe aber keine gemeinsamen Pläne. Ein anderes Gerücht hingegen hält sich hartnäckig: dass Komiker Sacha Baron Cohen («Ali G.», «Borat») für einen Spielfilm über Queen in die Kostüme von Freddie Mercury schlüpfen wird. Das Bandbio-Pic soll 2012 gedreht werden.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 18/11/11
24.11.: Fotogalerie ausgebaut.