Endlich Meisterwerke: Filme von Asghar Farhadi, Alejandro Jodorowsky und den Coen-Brüdern in Cannes.
Kinohunger ohne Durststrecke: Die exklusivste Leinwand von Cannes ist aus Glas und misst nur vier Meter sechzig. Auf Steven Spielbergs 200-Millionen-Dollar-Luxusyacht verleiht sie dem Pool einen einzigartigen Meerblick, doch man kann auch Filme darauf schauen. Und wenn man will, zugleich entspannt im Wasser planschen. Auch wenn dafür kaum ein Film dafür besser geeignet wäre als des Meisters eigener «Der weisse Hai», befürchten Beobachter in Cannes bereits eine andere Verwendung. Ob sich der nun doch nicht allabendlich auf dem roten Teppich gesichtete Jury-Präsident das Wettbewerbsprogramm vielleicht direkt auf sein Boot schicken lassen könnte? Werden die anspruchsvollsten Werke der Filmkunst vielleicht gerade auf dem Mittelmeer verschaukelt?
Ein Kino aus Stein
Angesichts der rauen Brise, die noch am Sonntagmorgen an der Cote d’Azur wehte, würde man zumindest für das neue Meisterwerk des Iranes Asghar Farhadi ein festes Kino aus Stein bevorzugen. Für den Fahrtwind sorgt das wendungsreiche Drehbuch von «Le Passé» («Die Vergangenheit») schon selbst, das thematisch direkt an den Berlinale-Gewinner «Nader und Semin – Eine Trennung» anschliesst. Vier Jahre nach dem Ende ihrer Beziehung, wird Ahmad (Ali Mosaffa) von seiner Frau Marie (Bérénice Bejo) nach Paris gerufen. Endlich will man die Scheidung unter Dach und Fach bringen. Doch wie sich zeigt, sinnt sie zugleich auf Rache und will ihn mit seinem Nachfolger konfrontieren, der äusserlich wie eine jüngere Ausgabe seiner selbst anmutet. Doch schon bei seiner Ankunft merkt er, dass es mit Maries neuem Familienglück nicht weit her ist. Besonders die gemeinsame Tochter im Teenageralter lehnt die neue Beziehung ihrer Mutter vehement ab, die sich aus einer heimlichen Affäre entwickelt hat. Die Ehefrau des jungen Mannes befindet sich nach einem Suizidversuch im Koma, wofür sie der Mutter die Schuld gibt.
Doch so einfach sind Schuld und Unschuld in Farhadis Kino kaum verteilt. Wie im Vorgängerfilm eröffnen sich immer neue Ebenen, die dem Zuschauer gemeinsam mit dem Protagonisten die Vergangenheit in immer neuem Licht erscheinen lassen.
Kleinste Rollen, unverzichtbar
Der in einem Pariser Vorort spielende Film erinnert in seiner Erzählstruktur und dem konsequenten Appell an die Vorstellungskraft des Publikums an Michael Hanekes «Cashé». Und zeigt zugleich, worin dem Iraner derzeit niemand das Wasser reichen kann: Einen Unterschied zwischen Haupt- und Nebenfiguren scheint es in seinen feinen Charakterzeichnungen nicht zu geben, auch die kleinsten Rollen sind ebenso unverzichtbar für das Drama wie glänzend verkörpert.
Besonders die Kinder weichen Farhadi nie aus dem Fokus. Seine besondere Aufmerksamkeit gehört dabei dem fünfjährigen Sohn des jüngeren Mannes, dem hilflosen Spielball des verzweifelten der Erwachsenen in ihrem Streben nach privatem Glück und Selbstverwirklichung. «Le Passé» ist der erste eindeutige Favorit in diesem Festival. Wenn man die Lupe ansetzt und überhaupt einen Makel darin sehen will, dann ist es vielleicht die etwas einseitig positive Zeichnung der männlichen Hauptfigur.
Kapitalistische und stalinistische Ideale
Die Vergangenheit, im filmverliebten Cannes ist sie allgegenwärtig. Mit Jerry Lewis und Robert Redford erwartet man für die zweite Festivalhälfte die Ankunft zweier Schauspiellegenden in Altersrollen. Und mit dem Comeback des mexikanischen Kultregisseurs Alejando Jodorowsky («El Topo») stammt das grosse Highlight der Parallel-Sektion «Quinzaine des realisateurs» von einem 84-jährigen. «La Danza de la Realidad» ist eine 130-minütige, ebenso autobiographische wie verwegen surreale Odyssee in die Kindheit des Regisseurs. Aus der Sicht des Jungen erzählt er vom Leben des Vaters, eines kleinen Ladenbesitzers, der kapitalistische und stalinistische Ideale unter einen Hut zu bringen sucht.
Visuell gewohnt-verwegen, dennoch mit bescheidenen Mitteln realisiert, ist «La danza de la realidad» ein gänzlich entfesseltes Werk, ein Manifest für die Unabhängigkeit der Filmkunst von den Normen einer Unterhaltungsindustrie.
Die Freiheit der Coen-Brüder
In Hollywood haben diese kreative Freiheit nur Wenige, die Brüder Joel und Ethan Coen gehören zweifellos dazu. Ihr Wettbewerbsbeitrag in Cannes, «The World of Llewyn Davis», ist ihr bisher persönlichster Film, eine Reise ins Innenleben eines Folk-Sängers, der – vielleicht wie die Filmemacher selbst – seine Kunst in einer Welt betreibt, die andere für eine Geschäft halten. Zu verdienen jedoch gibt es mit den Liedern wenig, denn der grosse Durchbruch von Sängern und Songpoeten wie Bob Dylan, Peter, Paul und Mary oder Simon and Garfunkel, die Anfang der Sechziger in den verrauchten Bars von Greenwich Village reüssierten, ist noch nicht abzusehen.
In vielen ihrer Arbeiten haben sich die Coens als exzellente Musikkenner erwiesen, ihre Song-Kompilationen zu «The Big Lebowski» und «Oh Brother Where Art Though» wurden selbst zu Album-Klassikern. Wie ernst es den Brüdern mit ihrer natürlich dennoch unterhaltsamen Zeitreise ist, ahnten Cannes-Besucher, als sie statt der üblichen Presse-Information einen Essay des Musikologen Elijah Wald in ihren Pressefächern fanden. Darin ist ausführlich von Dave Van Ronk die Rede, dessen publizierte Erinnerungen das Vorbild waren für den von Oscar Isaac gespielten Sänger «Llewyn Davis». In seinen reduzierten Farben scheint der Film auch die Distanz zu suchen vom buntfarbigen «Mad-Men»-Retro-Look.
Halt schon mal das Seil
Es beginnt und endet mit Oscar Isaacs herzergreifender Interpretation eines Folksongs anonymen Urspruchs: «Hang Me, Oh Hang Me», das auch zum Repertoire von Van Ronk zählte. «Halt schon mal das Seil», heisst es im tieftraurigen Text, «aber warte noch, ich sollte meinen Vater noch mal sehen.» Diese Reise beschreibt dann auch die Geschichte, die von einem Subway-Movie zum Roadmovie gerät.
In die Einsamkeit des jungen Protagonisten, der unbemerkt ein Mädchen geschwängert hat, sich mit seinem Trio überworfen hat und nur die Couch von Freunden als Schlafplatz hat, mischt sich ebenso viel Komik: Etwa als er versehentlich die Katze seiner Gastgeber aus der Wohnung aussperrt und sie somit zum Reisegefährten machen muss. Nicht von ungefähr gleicht der kleine Streuner einem grossen Kinovorbild, Audrey Hepburns Filmkatze in «Frühstück bei Tiffany’s». Wurde ihr nicht auch schon eine Ballade namens «Moon River» zur Gitarre vorgesungen? «Inside Llewyn Davis» braucht sich auch hinter diesem Klassiker nicht zu verstecken.