Kaum einer kennt Höhepunkte und Abgründe der gegenwärtigen Clubkultur besser als Sven Marquardt. Als Türsteher des Berliner Technotempels «Berghain» mittlerweile selbst zum Mythos gereift, fängt der Fotograf in seinen Kunstwerken die fragile Schönheit seiner Exponenten ein: Jetzt zu sehen im Zürcher «Hive».
Wer dem Phänomen Sven Marquardt auf den Grund gehen will, der tut gut daran, einen feinen Sinn für Ironie mitzubringen – ansonsten scheint die Gefahr gross, sich in den so offensichtlichen wie widersprüchlichen Mythen zu verfangen, die seine Person umranken. So mag Marquardt mittlerweile beinahe einer der meistgefeierten Fotokünstler seiner Zunft sein – bekanntestes Motiv bleibt aber bis heute er selbst: Jene hünenhafte, am ganzen Körper tättowierte Figur, an deren Gesicht und Hände mehr Schmuck hängt als manch vor ihm stehendes Mädel in der heimischen Schatulle verstaut hat. Jener Figur also, die zum Inbegriff des Wächters wurde, der über den Zugang zu – je nach Perspektive – Himmel oder Hölle entscheidet.
Denn seine weltweite Bekanntheit verdankt der Künstler eigentlich vor allem seinem «Nebenjob»: Als Türsteher des Berliner «Berghain», dem wohl berühmtesten Techno-Club der Gegenwart, welcher aufgrund seiner strikten Einlasspolitik gleichzeitig so gelobt wie gefürchtet wird, hat Sven Marquardt das Kunststück vollbracht, nicht nur das Gesicht seines Clubs zu verkörpern, sondern geradezu zur Projektionsfläche einer ganzen Generation von Clubbern zu werden: Als die unbestechliche Instanz, die entscheidet, wer dazu gehört, wer am Mythos Berghain und dessen legendären Feiern teilhaben darf, und wer aussen vor bleiben muss.
Diese Rolle liess Marquardt – viel mehr als irgendein DJ, Produzent oder Clubbesitzer – in den letzten Jahren zum Aushängeschild jener vielbeschworenen «Metropole des Easy-Jetset» werden, wo sich Wochenende für Wochenende unzählige Feiertouristen seinem prüfenden Blick stellen – und trug ihm damit den Titel des «härtesten» Türstehers der Welt ein. Ein ambivalenter Ruf, der Marquardt seither verfolgt – und den Blick auf sein Oeuvre oft auch verstellt: «Irgendwie hat sich diese Zuschreibung, die anfangs ironisch gemeint war, in den letzten Jahren verselbständigt», seufzt er – und fügt (wie im folgenden Video zu sehen ist) nach einer kurzen Pause dann doch auf den Stockzähnen lächelnd hinzu: «Aber ich kann damit leben.»
Am Ende seiner Laufbahn: plötzlich berühmt
Dabei wollte der Fotograf, der früher für Modemagazine arbeitete, bevor er seiner künstlerischen Integrität absoluten Vorrang einräumte, eigentlich bereits vor einem Jahrzehnt seinen Brotjob an den Nagel hängen: «Ich dachte, mit Anfang 40 sei die Zeit zum Abtreten gekommen – es schien mir ein guter Moment, aufzuhören.» Es sollte anders kommen – doch bereut hat Marquardt seine Entscheidung bisher nicht. Im Gegenteil: Im Berghain, dem Club, der damals kurz darauf die Tore öffnet, und für ihn bis heute «mehr Lebensgefühl als Arbeit» bedeutet, könne er sich sogar sehr gut vorstellen, alt zu werden: «Hier stimmt einfach alles, von der Musik über die Räumlichkeiten bis hin zum Bar- und Garderoben-, sowie natürlich dem Türpersonal.»
Denn so sehr er es mittlerweile auch geniesse, seine Werke weltweit ausstellen zu können, so sehr freue er sich jeweils auch wieder darauf, in dieses gewohnte, vertraute Umfeld zurückkehren zu können: «Da, wo keiner das Gefühl hat, er sei spezieller oder besonderer als die Anderen… wo man wieder total entspannt untereinander Sprüche klopfen kann… wo jeder einfach ein Teil dieses Ganzen ist – diese Bodenständigkeit halt, die ich so sehr schätze.»
Ein klarer Kontrast auch zu seiner Zürcher Stippvisite, Marquardts erstem Schweiz-Besuch überhaupt, wo er innerhalb der Partymeile des Kreis 5 von Szenegängern auf Schritt und Tritt erkannt und umringt wird – und sogar während seiner eigenen Vernissage immer wieder als Motiv für Souvenirbild und Schnappschuss herhalten muss. Dabei wäre es eigentlich naheliegender, gerade in diesem Kontext für einmal seine Werke ganz für sich sprechen zu lassen: Die grossen Schwarz-Weiss-Porträts, die nun – dank der langjährigen Zusammenarbeit der beiden Clubs – in den dunklen Gängen des «Hive» an der Geroldstrasse hängen, bilden schliesslich bereits selber ein schillerndes Zeugnis ebendieser Clubkultur, für die Marquardt und Berghain genauso wie auch der wohl bekannteste Schweizer Club symbolisch stehen.
Der schmale Grat zwischen Intimität und Distanz
Mit unglaublich feinem Gespür für den schmalen Grat zwischen respektvoller Distanz und Intimität porträtiert Marquardt nämlich die Protagonisten der Nacht – und fängt deren flüchtigen, fragilen Zauber ein. Menschen, die ansonsten in den Statistiken der Behörden wohl nur als Mitglieder einer Randgruppe aufgeführt würden, bekommen hier den Raum, sich selbst zu inszenieren: Nicht als aus dem herkömmlichen Raster rausgefallene Freaks, sondern als Individuen, deren Anblick die gängige Norm herausfordert oder gar überschreitet, und die gerade dadurch eine unverwechselbare, unübersehbare Schönheit, einen ureigenen Stolz ausstrahlen.
Marquardts fotografiert seine Modelle vorwiegend bei Tagesanbruch, das lässt das symbolische Verhältnis von Licht und Schatten in den Vordergrund treten.
Dieses Spiel von «Einblick und Abgrenzung» sei für ihn zentral, betont Marquardt: «Auch wenn man natürlich als Fotograf den Aspekt des Voyeurismus nie ganz ablegen kann, so ist mir trotzdem wichtig, meinen Modellen mit einem Höchstmass an Respekt und Achtung entgegenzutreten, und die Grenze zur Zurschaustellung nie zu überschreiten.» Marquardts in mehreren Jahrzehnten perfektionierte Vorgehensweise, vorwiegend bei Tagesanbruch mit speziell lichtempfindlichen Analogfilmen zu fotografieren, lässt vielmehr das symbolische Verhältnis von Licht und Schatten in den Vordergrund treten, und legt dem Betrachter damit eine fast klassische Interpretation seiner Modelle als heimliche Könige und Königinnen der Nacht nahe, die fast nahtlos an die ikonischen Porträts der Stummfilmära anknüpft.
Hoffen auf Offenheit – und ehrliche Antworten
Mag sich die beeindruckende Beobachtungsgabe, die subtile, tiefe Menschenkenntnis des Berghain-Türstehers in seiner Fotografie fortsetzen – eines fehlt dagegen komplett: Die vielbeschworene «Härte». Eigentlich folgerichtig: denn genausowenig, wie Marquardt bei seinen Motiven nach Makellosigkeit sucht, so wenig lassen auch seine Einlassentscheide bei näherem Hinsehen das vermeintliche Fallbeil über die Anwärter sausen. «Ich suche in erster Linie nach Offenheit, Ehrlichkeit. Kommt jemand, den ich nachts abgewiesen habe, morgens wieder, hoffe ich immer, dass er zugibt, dass es sein zweiter Anlauf ist. Tut er das, öffnet er sich, honoriere ich das. Dann gibt es diesen Moment des Einverständnisses zwischen uns: Bei Tageslicht betrachtet ist schliesslich alles oft gar nicht so übel», erklärt Marquardt mit seinem typischen, selbstironischen Lachen.
Der Zaubertrick von Marquardt: Er stellt sein Ego voll und ganz in den Dienst der Sache.
Und bestärkt damit den heimlichen Verdacht, dass sein auffälliges Äusseres im Grunde genommen mehr als gekonnt von seinem eigentlichen Talent ablenkt, jenem Zaubertrick, den Marquardt am Einlass des Berghains genauso wie am Auslöser seiner Kamera vollzieht: Sein Ego voll und ganz in den Dienst der Sache zu stellen, um damit umgekehrt die Persönlichkeit seines Gegenübers umso mehr ans Licht zu bringen. Dass dies von vielen Menschen als ultimativer Härtetest empfunden wird – das wiederum lässt im wahrsten Sinne des Wortes tief blicken.
Hive, Zürich. Geroldstrasse 5. Sven Marquardt Fotografie: Ausstellung zu sehen bis 17. August, Öffnungszeiten siehe Website.