«Der Zytglogge Verlag muss frischer werden»

Seit Juli ist der renommierte Berner Zytglogge Verlag offiziell in Basler Händen und unter der Führung eines Deutschen. Der neue Verlagsleiter Thomas Gierl sagt im Gespräch, was sich ändern muss – und dass sein Programm nicht folkloristisch wird.

«Zytglogge bleibt Zytglogge, auch unter neuem Inhaber.» Der neue Verlagsleiter Thomas Gierl will den Laden nicht komplett umkrempeln.

(Bild: Nils Fisch)

Seit Juli ist der renommierte Berner Zytglogge Verlag offiziell in Basler Händen und unter der Führung eines Deutschen. Der neue Verlagsleiter Thomas Gierl sagt im Gespräch, was sich ändern muss – und dass sein Programm nicht folkloristisch wird.

Im Sommer letztes Jahr ging ein Raunen durch die Schweizer Verlegerszene: Gründer Hugo Ramseyer und seine Frau Bettina Kälin Ramseyer gaben bekannt, dass sie zum 50-jährigen Bestehen des Zytglogge Verlags 2015 einen Produktionsstopp einlegen wollen und nach einer Lösung für die Zukunft des Verlags suchen. Mit Büchern wie «Dummheit ist lernbar» des Pädagogen Jürg Jegge oder «Verkaufte Illusionen» der einstigen Prostituierten Rita Dolder sorgte der Berner Traditionsverlag für Aufsehen und öffentliche Diskussionen bis über die Landesgrenzen hinaus. Doch nun war für das Ehepaar die Zeit gekommen, sich aus dem aktiven Verlagsleben zurückzuziehen und nach einem Nachfolger umzusehen, der den Verlag weiterführen würde.

Thomas Gierl, 46, hat Germanistik und Kunstgeschichte studiert, war Texter und Konzepter einer Berliner Werbeagentur und ist seit 2009 Mitglied der Geschäftsleitung der Schwabe AG. Seit 2010 leitet er dort den belletristischen Verlag Johannes Petri. Seit dem 1. Juli 2015 ist er Verlagsleiter des Zytglogge Verlags und Nachfolger des Verlagsgründers Hugo Ramseyer.

Anfang Dezember hatte man sich entschieden: Als künftiger Hauptaktionär von Zytglogge wurde das Basler Druck- und Verlagshaus Schwabe vorgestellt. Die Reaktionen fielen gespalten aus: Würde der Zytglogge Verlag seinen Ruf als traditionsreiches Berner Verlagshaus behalten? Gäbe es mit dem neuen Standort auch eine neue Ausrichtung, läutete dieser Wechsel das Ende einer Ära ein?

Thomas Gierl sitzt im ersten Stock der Schwabe AG über der Buchhandlung «Das Narrenschiff» und schüttelt lachend den Kopf. «Zytglogge bleibt Zytglogge», versichert er uns. Seit dem 1. Juli hat die Schwabe AG die Aktienmehrheit, mit Gierl als neuem Verlagsleiter. Der Deutsche freut sich auf die Herausforderungen einen Berner Verlag im Basler Haus unterzubringen. Die Zukunft sieht er mit Zuversicht, auch wenn sie einiges an Veränderung mit sich bringen wird.

Herr Gierl, vor nicht einmal einem Jahr gab Hugo Ramseyer seinen Rücktritt bekannt und nun ist der Zytglogge Verlag bereits nach Basel umgezogen. Sie haben Gas gegeben.

(lacht) Es ging tatsächlich Knall auf Fall: Ich bekam eine Mail von unserem Inhaber Ruedi Bienz, der fragte, ob ich diese «Rücktrittsmeldung» – es war ja eher eine unausgesprochene Verkaufsannonce – gesehen hätte. Ruedi Bienz vereinbarte einen Termin, fuhr zum Verlagssitz nach Oberhofen und traf sich mit Hugo Ramseyer. Als er zurückkam, war er begeistert: Ramseyer habe sich hervorragend vorbereitet und sei ihm mit konkreten Vorstellungen zuvorgekommen. Es muss ein sehr positives erstes Gespräch gewesen sein. 

Wie kamen Sie ins Spiel?

Hugo Ramseyer meinte schon bei diesem ersten Treffen zu Ruedi Bienz: «Sie haben diesen Gierl im Haus, der macht bei Euch doch Belletristik. Den würde ich gerne kennenlernen.» Beim zweiten Treffen war ich dann dabei. Obwohl ich anfangs meine Zweifel hatte.

«Ich habe dem Zytglogge-Gründer Ramseyer von Anfang an gesagt, ich sei kein Nachlassverwalter, ich wolle weiterentwickeln.»

Als Bernerin war meine erste Reaktion: Was will unser Verlag in Basel?

Das war auch eines meiner ersten Bedenken: Wie kommt es an, wenn ein etablierter Berner Verlag nach Basel zieht? Und dann ist der neue Verlagsleiter auch noch ein Deutscher! In erster Linie aber ging es mir um Hugo Ramseyer, den ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht persönlich kannte: Fünf Jahrzehnte erfolgreiche Verlagsarbeit sind ein Lebenswerk. Ich stellte mir einen Patron alter Schule vor, der nicht loslassen kann und jemanden sucht, der sein Unternehmen genauso weiterführt, wie er es haben will. Und dann hätte ich ständig jemanden im Nacken gehabt, der jeden meiner Schritte überwacht und kommentiert. Die Probleme im Haus wären vorprogrammiert gewesen.

Hat sich Ihr Verdacht bestätigt?

Überhaupt nicht. Es hat bei unserem Gespräch keine Viertelstunde gedauert, und ich wusste: Das wird kollegial und bereichernd. Da kann ich etwas lernen! Hugo Ramseyer ist ein faszinierender Mensch, sehr klar, souverän und dabei bescheiden. Sein grösster Wunsch war, dass Zytglogge verantwortungsvoll weitergeführt wird und seine Ära jetzt in eine neue übergehen kann. Er betonte, dass er nicht mehr das Sagen haben, aber gerne weiterhin als Ratgeber bei Programmfragen und als Lektor für Bestandsautoren zur Verfügung stehen wolle. Ich hatte das Gefühl, er war froh, die Führungsverantwortung abgeben zu können, mit der Gewissheit, sein Lebenswerk werde jetzt nicht komplett über den Haufen geworfen, sondern respektiert und weitergeführt. Ich habe ihm von Anfang an gesagt, ich sei kein Nachlassverwalter, ich wolle weiterentwickeln. Da war er einer Meinung mit mir.

Geht es bei einem traditionsreichen Verlag nicht auch darum, das Bewährte zu pflegen? 

Klar ist es wichtig, Bewährtes zu pflegen und auf Kontinuität zu setzen. Aber nicht nur. Wir müssen auch neuen Stimmen eine Plattform bieten, Neues ausprobieren, uns ein Stück weit neu erfinden. Auch über die Wirtschaftlichkeit müssen wir uns Gedanken machen, aber nicht im Sinne von reiner Bestandsausschöpfung und Profitoptimierung. Wir verstehen Zytglogge als Schweizer Kulturgut, nicht als Spekulationsobjekt. Es war allen Beteiligten klar, dass Schwabe Zytglogge nicht übernimmt, um die besten Aspekte rauszuziehen, heuschreckenmässig den Rest zu verkaufen und nach zwei Jahren die Hütte dichtzumachen, weil man alles an Firmenkapital versilbert hat. Es bestand von Beginn an der Konsens, dass wir Zytglogge mit derselben Sorgfalt wie bisher weiterführen werden. Unabhängig vom Verlagssitz bleibt Zytglogge als eigenständige Aktiengesellschaft und selbstständiger Schweizer Verlag erhalten.

«Ein brillantes Manuskript reicht.» Thomas Gierl über das Anforderungsprofil für potenzielle Zytglogge-Autoren.

Was müssen Autorinnen und Autoren mitbringen, um bei Zytglogge hineinzupassen?

Die müssen gar nicht viel mitbringen, ein brillantes Manuskript reicht (lacht). Wir haben eine sehr hohe Ablehnungsrate. Das Gefälle zwischen dem, was geschrieben und eingereicht und dem, was letztlich publiziert wird, ist riesig. Sicher ist es hilfreich, eine literarisch überzeugende Form und ein Thema zu finden, das man nicht schon tausendmal gelesen hat. Herzschmerz, Trennung, neue Liebe, Aufbruch ins Ungewisse mit anschliessender Selbstfindung – davon gibt es genug. Von Interesse sind ein ungewöhnlicher Themenzugang, neue Inhalte, Sprachwitz und natürlich für den Zytglogge Verlag: der klare Schweizer Bezug. Und wenn ein Buch zudem nicht nur aktuelle Diskussionen aufgreift, sondern selbst die öffentliche Debatte anstösst, dann ist das perfekt.

Kann das ein Buch heute überhaupt noch?

Das ist die grosse Frage. Sicherlich sind die Voraussetzungen heute anders als in den hochpolitisierten 1970er-Jahren, wo es von allgemeinem Interesse war, sich mit den Dingen aktiv auseinanderzusetzen, die man heute nur noch in den Medien konsumiert. Wir werden im Sachbuchbereich wohl nicht mehr in die Auflagenhöhen von damals vorstossen, aber wir versuchen, mit unseren Publikationen da einzustechen, wo es not tut oder zum Nachdenken zwingt. Wie mit dem Buch von Anton Gunzinger zur energiepolitischen Diskussion, «Kraftwerk Schweiz», das wir aktuell im Frühjahrsprogramm haben. 

Ein Verlag muss immer auch mit der Zeit gehen. Hat das Buch eine Zukunft?

Das ist unterschiedlich. Es kommt darauf an, aus welchem Bereich das Buch stammt. Konsultative Publikationen haben es im digitalen Zeitalter schwer  – ich meine, haben Sie noch ein Telefonbuch im Haus?

Natürlich nicht.

Eben. Da ist alles schon längst auf online umgestiegen. Auch das gedruckte Lexikon ist heute eine Ausnahme. Wenn ich etwas schnell nachschlagen will, finde ich es im Internet. Beim klassischen Leseverhalten ist das etwas anderes, da wird das Buch so schnell nicht verdrängt werden.

«Die Verkaufszahlen sind im E-Book-Bereich marginal.»

Auch nicht von E-Books? Sie sind viel handlicher und praktischer als ein gewöhnliches Buch.

Dafür gibt es ja auch andere Lesesituationen: Wenn ich heutzutage in den Urlaub fahre und am Strand lesen will, muss ich nicht mehr 17 Bücher im Urlaubsgepäck mitschleppen. Da ist ein E-Book sicherlich praktischer, sofern der Akku nicht schlappmacht, der Sand oder meine nassen Finger mir nicht das Gerät zerstören und ich trotz der Sonne noch etwas auf dem Display lesen kann (lacht). Aber das haptische Erlebnis eines schönen Buches, eines physischen Produkts, lässt sich damit nicht ersetzen. Und wenn Sie sich die Verkaufszahlen anschauen, dann sind die im E-Book-Bereich marginal. Schön, das kann noch wachsen. Aber ich denke nicht, dass das E-Book das gedruckte Buch so schnell überholen wird – letztlich ist es einfach ein weiterer Ausspielungskanal. 

Trotzdem verkaufen sich immer weniger Bücher.

Man muss sich überlegen – liegt der abnehmende Buchverkauf am zunehmenden Online-Verkauf, oder muss man den Grund woanders suchen? Die Gewohnheiten der Menschen haben sich geändert, es gibt ein anderes Freizeit- und Informationsverhalten. Mit dieser Realität muss man sich als Verlag auseinandersetzen. Das muss aber nicht heissen, dass dem Verlagswesen damit die Grundlage entzogen ist. Verlage müssen sich wieder stärker auf ihre zentrale Aufgabe konzentrieren: Aus der Masse des theoretisch Verfügbaren den ganz kleinen Teil herauszuziehen, der von übergeordneter Relevanz und übergeordnetem Interesse ist.

Und sich gut verkauft.

Ganz klar, jeder Verlag muss quersubventionieren, das heisst, niemand wird sich im Verlagswesen gegen einen Bestseller wehren. Die Frage ist nur: Ist es ein Bestseller um jeden Preis, oder ist es ein Bestseller, der in die Verlags- und Programmwerte hineinpasst? Der ganze Bereich der Me-too-Produkte, die versuchen, die Rezeptur eines Bestsellers nachzuahmen, wird es in gedruckter Form allerdings immer schwerer haben. Das ist auch nicht schlimm. In erster Linie geht es immer um Inhalte. Die «Darreichungsform» kommt erst an zweiter Stelle – da kann es bei Zytglogge künftig auch einmal um Online-First oder E-Only gehen – aber das ändert nur etwas an der Medienstrategie, nicht an der grundsätzlichen Aufgabe eines Verlags: Ein Gatekeeper, Veredler und Verbreiter für ausgewählte Literatur zu sein.

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