Annemarie Seiler-Baldinger hat über südamerikanische Indianer geforscht und mit ihnen gelebt. Zu Hause ist sie zwischen den Welten. Nun hat die 71-Jährige ihre Memoiren geschrieben. Wir besuchten sie in ihrer Basler Wohnung, die einem Museum gleicht.
Annemarie Seiler-Baldinger liebt Hängematten. Ab sieben Uhr abends gibt es für sie keinen anderen Ort. Und dabei fernsehen, herrlich. Ein Bett besitzt die 71-Jährige nur, weil die europäischen Nächte so kalt sind. Sommers hat sie lange Zeit auf dem Balkon übernachtet, in ihrer Hängematte.
Seiler ist im Grunde ein Amazonasgewächs. Das Klima nahe dem Äquator, das Leben unter Indianern, das ist ihre Sache. Sechs Jahre hat die Ethnologin hauptsächlich in einer Hütte im venezuelanischen Manapiaretal gelebt. Nach Basel kam sie regelmässig, wegen ihrer Tochter Miriam, ihrer Freunde und ihrer Tätigkeit am Museum der Kulturen, doch immer wieder kehrte sie zurück in den Urwald.
«Meinen Sie, ich stricke?»
In den 1970er-Jahren, während ihrer ersten Forschungsreise nach Kolumbien und Peru, verlor sie bei einer Fahrt auf dem Amazonas ihren Mann und ihren Sohn. Vor ihren Augen ertranken sie. Das Erlebnis liess sie das Forschungsprojekt zwar abbrechen, doch band es sie an den Amazonas statt sie von ihm abzubringen. Bei einer späteren gemeinsamen Reise zurück dorthin sagte ihre Tochter, die beim Unglück ein kleines Mädchen war: «Wir gehen Vater und Bruder suchen».
Schon als Jugendliche interessierte sich Seiler für die südamerikanischen Indianer. Sie las, was ihr in die Finger kam. Ihr Vater, Professor für angewandte Physik an der Universität Basel, hatte für ihr Wunschstudium wenig übrig, da er Ethnologie für einen brotlosen Beruf hielt.
Seiler war jedoch nicht abzubringen und stiess im Zuge ihrer Dissetartion auf die Erforschung von indigenen Textilien, ihr Spezialgebiet bis heute. Eine von Seilers liebsten Anekdoten knüpft an die Entstehung dieser Neigung. Sie fragte ihren Doktorvater Alfred Bühler, Koryphäe auf dem Gebiet, ob sie für die Erforschung von Textilien wirklich in Frage käme: Sie sei handwerklich wirklich unfähig. Darauf Bühler: «Meinen Sie, ich stricke?»
Eine Matte wie ein Buch
Textilien also. Klingt von aussen gar spezifisch. Doch Seilers Erzählungen über Hängematten sind Fenster ins soziale Leben der Indianer. Die Hängematte ist das wesentliche Eigentum der Indianer, mit denen Seiler lebte (etwa mit den peruanischen Yagua und, ausgiebig, mit den Yabarana in Venezuela) – alle übrigen Gegenstände werden kollektiv gehandhabt. Das Individuum und dessen Besitz zählen ungleich weniger als bei uns.
Aus den Mustern der Hängematten, die in einem Indianerdorf zu finden sind, kann Seiler die Herkunft aller Bewohner ablesen. Wenn sich Kinder von zwei Clans verheiraten, bringt jedes das Muster seiner Familie mit in die Ehe. Die Hängematten, welche die nun verheiratete Frau herstellt, vereinen beide. Jedes Muster trägt also die Familiengeschichte in sich, die darüber hinaus zu mythischen Ursprüngen führt. Eine Matte wie ein Buch. Im Grunde ist das nicht verwunderlich; das Wort «Text» ist nichts anderes als eine Metapher, die sich vom stofflichen Textil herleitet.
Ähnlich ist es mit den flachen Körben, in denen Maniok dargereicht wird. Ihre Herstellung ist, entgegen den Textilien, Männerarbeit. Die Stämme, die Seiler besucht hat, haben zwar klar verteilte Geschlechterrollen, jedoch keine Hierarchie zwischen Mann und Frau. «Häufig haben umgekehrt die Frauen die Hosen an», sagt Seiler.
Auch sind die Frauen die Wissensträger des Stammes. Was Seiler über Geschichte und Bräuche erfahren hat, weiss sie von Frauen. Auch Häuptlinge haben die Stämme keinen, mächtiger als andere ist lediglich der Schamane. Doch der lebt gefährlich, da er für misslungene Heilungen ins Gericht genommen wird.
Entzauberung des Ökoheiligen
Emanzipiert und links, so erscheinen diese Gesellschaften. Doch vor allem hat Seiler das «allgemein Menschliche» vorgefunden. Die Indianer hassen und lieben, neiden und gönnen nicht anders als wir. Und das Klischee der Indigenen, die im Einklang mit der Natur leben – «alles Quatsch». Die Indianer nehmen sich ohne Bedenken, was sie brauchen. Dass die modernen Gesellschaften mehr Zerstörung anrichten, liege lediglich an den technischen Mitteln. «Seit sich die Entzauberung der Ökoheiligen in der Ethnologie breitgemacht hat, zieht das Fach ungleich weniger Linke und Grüne an als früher», sagt sie.
Annemarie Seilers Wohnung, aus der sie dieser Tage nach fast 50 Jahren ausziehen muss, gleicht einem Museum für indigene Kunst und Handwerksgegenstände. Ob sie das Leben im Urwald vermisst?
«Ja, wie wild!» sagt sie, und kriegt für drei Atemzüge einen ganz weichen Hundeblick. Seit sie 2003 aus Venezuela zurückkehrte, wo sie von einer Familie als deren Tochter aufgenommen wurde und sogar einen jungen Indianer hätte heiraten sollen, ist sie nicht dorthin zurückgekehrt und hat es auch nicht vor. Die politische Lage liess sie das Land verlassen, die Veränderungen bei den Indianern halten sie von einer weiteren Reise dorthin ab. «Viele sind gestorben. Die Verbliebenen haben den Standort des Dorfes gewechselt. Eine Rückkehr würde mir mehr weh- als wohltun.»
Seilers Leben im Wald ist vorbei. Doch Seilers Heiterkeit ist nicht zu brechen. Ihren Humor hat sie vielleicht von den Indianern.