Zwei nachdenkliche Liebesfilme und ein wohlmeinendes Gesellschaftsdrama: In Cannes zeigen Michael Haneke, Abbas Kiarostami und Thomas Vinterberg neue Filme im Wettbewerb.
Michel Piccoli wird in seiner Heimat nicht mehr besetzt. «Er ist schon lange nicht mehr ‚bankable‘», erklärt eine französische Produzentin trocken am verregneten Festivalstrand. Daran ändere auch sein Comeback als Papst im Nanni-Moretti-Film «Habemus Papam» nichts. «Jean-Paul Belmondo? Der ist doch 79 und kann nicht mehr richtig sprechen. Und Jean-Louis Trintignant? Hören Sie auf, der Mann ist 81. Dafür bekommen sie doch keine Versicherung.»
Frankreichs Filmindustrie, die an staatlicher Förderung reichste und erfolgreichste Europas, hat, wenns zur Sache geht, recht wenig Herz für ihre Veteranen. Und doch stand Jean-Louis Trintignant am Sonntagabend gemeinsam mit seiner Filmpartnerin Emmanuelle Riva (84) in Cannes wieder auf dem roten Teppich. Sie allein tragen als Hauptdarsteller Michael Hanekes großartiges Kammerspiel «Amour», Isabelle Huppert spielt als ihre Tochter lediglich eine kleine Nebenrolle. Schon jetzt dürfen die beiden Veteranen auf die Darstellerpreise hoffen. Es wäre Trintignants zweite Darstellerpalme nach 1969 als er für Costa Gavras’ Politthriller «Z» prämiert wurde. Und Emmanuelle Riva dürfte schon der Titel an den Gewinnerfilm des Jahres 1959 erinnern, der sie zu Weltruhm führte: «Hiroshima mon amour».
Der gerade Weg zum Ende
Nun ist auch diese wunderbare Filmgattung, der philosophische Liebesfilm, nach Cannes zurückgekehrt. «Amour» gibt bereits in seiner ersten Szene den Ausgang der Geschichte preis, was man bedauern kann, doch Haneke geht es nicht um Spannungsbögen, sondern um den geraden Weg zum Ende: Eine Wohnung wird aufgebrochen, auf dem Bett finden die Beamten die liebevoll mit Blumen umkränzte Leiche einer alten Frau. In der einsetzenden Rückblende begegnet man der Frau und ihrem Mann im Publikum eines Klavierkonzerts. Stolz lauscht sie ihrem früheren Klavierschüler, am nächsten Tag will man sich seine aktuelle CD besorgen, doch dazwischen klopft der Tod sehr handfest an die Tür. Ein Schlaganfall, bald darauf ein zweiter, rauben der alten Frau erst ihre Kunstfertigkeit und dann den Großteil des Verstands. Nur über Erinnerungen an die Kindheit, ein angesungenes «Sur le pont d’Avignon», kann ihr liebevoller Mann sie noch erreichen. Bis er es eben nicht mehr kann oder nicht können mag. Und ihr ein Kissen aufs Gesicht drückt.
Es gibt eine Reihe von Filmen über Sterbehilfe, und noch mehr gibt es über Menschen, die töten, was sie lieben. Doch anders als etwa Clint Eastwood bei «Million Dollar Baby» hält sich Haneke nicht lange damit auf, zu fragen, was der Mensch genau verlieren muss, um sich selbst oder einem geliebten Menschen nur noch den Tod zu wünschen. Gewiss: als sie nicht mehr spielen kann, wird die Protagonistin depressiv und will auch nichts mehr hören. In einer wunderbaren, wortlosen Szene spürt das ihr Mann, der sich selbst an den Flügel gesetzt hat und hört auch selber auf zu spielen. Weniger aus Rücksicht denn aus Liebe: Wer kann noch genießen, was den geliebten Anderen schmerzt?
Liebe und Erinnerung
Haneke ist berühmt dafür, in seinen Filmen zentrale Themen zu verstecken, aber dieses hier liegt klar auf dem Tisch: Es geht um den höchsten Reifezustand in der Liebe, die Intuition. Am Ende ruft sie nach dem Tod, doch es liegt nichts Heroisches darin, darauf zu hören. Die Trintignant-Figur tötet aus Liebe, aber auch aus Schwäche. Schon beim Singen des Kinderliedes verliert er fast die Nerven.
Eine weitere, nicht minder einfühlsame Perspektive ist der Umgang mit Erinnerung. In der wunderbaren, zusehends einseitigen Zwiesprache des Paares vermittelt Haneke sehr eindringlich die Rückkehr von Kindheitseindrücken im Alter. Die schönste dieser Erzählungen handelt vom Kino: Als Kind, so erzählt der alte Mann, habe er einmal allein ins Kino gehen dürfen. Und habe dann gleich danach jemandem die ganze Filmhandlung nacherzählt und sich der Tränen geschämt, die ihm dabei kamen. So geht es einem Filmkritiker, wenn er über «Amour» schreibt.
Unsichtbare Waagschale
Auch der Exil-Iraner Abbas Kiarostami hat wieder einen philosophischen Liebesfilm gedreht. Zumindest legt der Titel nahe, dass es einer ist. «Like Someone in Love» entstand mit bescheidenem Budget in Japan auf japanisch und erzählt von einem alten Professor und einer studentischen Prostituierten. Als der Freier von ihrem Verlobten für ihren Großvater gehalten wird, mag dieser nicht wiedersprechen. Wie so oft in seinen Filmen baut dieser große Kino-Moralist eine unsichtbare Waagschale vor dem Zuschauer auf.
Nach nach füllen sie sich für die Figuren mit Güte und Laster, moralischer Stärke und dem Umgang mit der eigenen Schwäche, Lebensnormen und ihrer Einlösung. Die Närrin am Rande ist die Nachbarin des Professors: Als Voyeurin am Fenster stiehlt sie vom Leben der anderen, während sie sich zugleich aufopfernd um den behinderten Bruder sorgt. Jeder stiehlt in diesem pessimistischen Lebensmodell vom anderen, und es wäre bitter, wenn das auch, wie der Filmtitel suggeriert für die wirklich Verliebten gölte.
Teufels Küche
Auch wenn der einst so bildmächtige Kiarostami hier wenig mehr tut als ein kluges Drehbuch lediglich zu illustrieren, bereitet sein Film ein stilles Vergnügen und wirkt noch lange nach. Ganz anders als Thomas Vinterbergs jüngstes Gesellschaftsdrama «Jagten» («The Hunt»), das hier in Cannes recht vorschnell gefeiert wurde. Die Hetzjagd des Filmtitels trifft einen begabten Erzieher, den ein phantasiebegabtes Kind in Teufels Küche bringt. Grundlos unter Missbrauchsverdacht, hat er bald das ganze Dorf gegen sich, die Fama vergrößert sich von Mund zu Mund. Auch wenn der Film seine aufrührende Wirkung nicht verfehlt, bleibt er doch so vordergründig wie ein besseres Fernsehspiel zu einem modischen Thema. Es gibt keine zweite Ebene, die Figuren bleiben flach, und die fatale Logik des Buches würde vielleicht schon dann nicht mehr funktionieren, wenn der bedauernswerte Protagonist sich einfach einen Anwalt nähme.
Thomas Vinterberg schrieb in Cannes 1998 Filmgeschichte, als er mit seinem Gesellschaftsdrama «Das Fest» dem dänischen Dogma-Kino mit zu Welterfolg verhalf. Der damals erst 29-jährige wurde als Genie gefeiert, doch «Jagten» zeigt keinerlei Esprit. Es ist ein formelhafter Film, der seine Botschaft so nachdrücklich vermittelt als erwarte er irgendeinen Widerspruch. Damit ist freilich nicht zu rechnen.