«Die Kunst findet nur in diesem einen Moment statt»

In einem Glaskasten am Claraplatz stellt Dries Verhoeven Menschen und Situationen aus, die man in keinem Schaufenster findet. Der holländische Künstler sucht keine stummen Zuschauer, sondern Passanten, die auf seine Kunst reagieren, sagt der 38-Jährige im Interview.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

In einem Glaskasten am Claraplatz stellt Dries Verhoeven Menschen und Situationen aus, die man in keinem Schaufenster findet. Der holländische Künstler sucht keine stummen Zuschauer, sondern Passanten, die auf seine Kunst reagieren, sagt der 38-Jährige im Interview.

Wer zurzeit zwischen 15 und 20 Uhr den Claraplatz passiert, stösst auf einen seltsamen Glaskasten. Im Innern finden Szenen statt, die nicht zum alltäglichen Stadtbild gehören, schon gar nicht in Schaufenstern. Der holländische Künstler Dries Verhoeven (38) zeigt Personen, die von der Gesellschaft erniedrigt oder ausgegrenzt werden. Den Theatersaal hat er dafür hinter sich gelassen, weil er keine stummen Zuschauer will, sondern aktive Teilnehmer. Und die Passanten springen an. Ihre Reaktionen reichen von sexistischen und rassistischen Äusserungen bis hin zu Anteilnahme und Begeisterung.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Herr Verhoeven, warum machen Sie Kunst im öffentlichen Raum?

Indem ich auf die Strasse gehe, verlasse ich die konventionellen Kunstorte und treffe andere Leute. Potenziell alle, die dort leben. In Amsterdam haben 40 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund. Die gehen nicht ins Theater. Man muss zu ihnen gehen und sozusagen an der Tür klingeln. «Guten Tag, ich habe einen Kuchen, wollen Sie ihn? Er wird Ihnen vielleicht nicht schmecken, Sie aber sicher überraschen.» Wir müssen vermeiden, dass Theater eine Unterhaltung für die Upper Class wird.

Neben der Zusammensetzung des Publikums – was hat der öffentliche Raum dem Theatersaal voraus?

Ich weiss nicht viel über die Schweiz. Aber in Deutschland, Belgien und Holland haben die Institutionen ein Legitimierungsproblem: Sind wir relevant genug, damit sich die Zuschauer für zwei Stunden in den Saal setzen? Die Frage ist richtig, denn im Theater sitzen die Leute still, auch wenn sie sich langweilen. Die Kunst im öffentlichen Raum erreicht die Leute in einer anderen Lage. Sie beabsichtigen nicht, sich Kunst anzuschauen, sondern laufen an ein bestimmtes Ziel. Plötzlich, auf dem Weg zu H&M, sehen sie etwas Interessantes und Faszinierendes. Falls sie stehen bleiben, müssen sie sich selber erklären, warum sie das tun. Ein aktives Denken beginnt.

Wie wecken Sie Aufmerksamkeit?

Ich störe. Ich schaffe Bilder, die normalerweise nicht da sind. Der öffentliche Raum ist vom Marketing durchfrisiert. Niemand hat ein Problem damit, draussen mit der idealen Version seiner selbst konfrontiert zu werden. Es macht daher Sinn, die unperfekten Bilder zu zeigen: Dass wir verletzbar sind, dass wir brechen können, dass wir sterben werden. Ich möchte die Leute herausfordern.

Ein Beispiel?

In der Box am Claraplatz sitzt auch eine Kleinwüchsige in fancy Kleidern, die den Passanten verführerische Blicke zuwirft. Sie drückt die Frage aus: Warum sehe ich in der Öffentlichkeit immer weniger von meinesgleichen? Und warum nie in einem sexuellen Kontext? Alle fragen sie, ob sie ihr helfen können, aber nicht, ob sie ihr einen Drink spendieren dürfen. Die Botschaft dieses Verhaltens ist: Schön bist du hier, aber du bist nicht Teil der sexuellen Gesellschaft.

Ein deutscher Akrobat mit afrikanischen Wurzeln erinnert an die Völkerschauen, die der Basler Zolli bis 1935 veranstaltete. Tausende Besucher kamen, um sich die «Wilden» anzuschauen.

Wozu wollen Sie herausfordern?

Ich wünsche mir, dass die Leute auf der Strasse stehen bleiben und über die Gesellschaft diskutieren. Die Orte, wo wir das klassischerweise tun, nehmen ab. Wir haben keine Kirche mehr, wo wir Inhalte teilen. Auch die Familie spielt eine andere Rolle. Man lässt andere Menschen für seine Eltern und Grosseltern sorgen und ist durch die neue Mobilität mehr unterwegs. Kunst muss nicht schön sein, sondern bedeutsam. Wenn ich Gedanken und Gespräche lostrete, ist die Herausforderung gelungen.

Ist diese Herausforderung im Theater schwieriger geworden?

Vor allem bei deutschen Theatern habe ich den Eindruck, dass sie überladen sind mit Wichtigkeit. Man ist als Zuschauer vor allem damit beschäftigt, sich über die Inszenierung Gedanken zu machen. Das bringt dich weg davon, «caught in the act» zu sein. Doch auch vom Format her: Kunst ist ein Werkzeug, mit der Realität in Kontakt zu kommen. Im Theater wird Realität repräsentiert, das hilft mir nicht, mit ihr in Kontakt zu kommen.

Was passiert, wenn Sie im Theater sitzen?

Ich bin eher im Kopf als in Bauch und Herz. Ich schlafe ein, einfach weil ich die Möglichkeit dazu habe. Um wach zu werden, ist es wichtig, dass ich als Zuschauer handeln kann. Doch die Bühne schafft eine Hierarchie zwischen Spielern und Zuschauern. Du kannst auf ihr Spiel nur mit Schauen und Applaus antworten. Die Spieler kommen dir dadurch nicht näher.

Dennoch kann eine Theateraufführung herausfordern.

Das stimmt. Doch im Theater sind die Zuschauer allein, sie sprechen allenfalls nachher über ihre Erfahrungen. Auf der Strasse kann das gleichzeitig passieren. Ausserdem hasse ich es, wenn das Werk im Moment des Applauses vorbei ist. Bei Kunst auf der Strasse geht die Erfahrung weiter, auch wenn ich ihr den Rücken kehre. Ich frage mich: Warum bin ich weggelaufen? Das interessiert mich.

Und im Museum?

Museen sind interessanter als Theater, weil man sich bewegen kann. Ich fühle mich verantwortlich für meine Erfahrungen. Wenn mich danach jemand fragt, ob ich ein Werk gesehen habe, und ich habe es verpasst, dann bin ich selber schuld. Das Interessante am Theater ist jedoch, dass es lebendig ist. Die Kunst findet nur in diesem einen Moment statt. Ich versuche dies mit der Bewegungsfreiheit des Museums zu kombinieren.

Sind die herkömmlichen Gattungsbezeichnungen für Sie noch relevant?

Ich denke darüber nicht nach. Das machen Dramaturgen. Was ich über meine Arbeit sagen kann: Ich will die Zuschauer verantwortlich machen für ihre Erfahrungen. Durch die Hintertür der Darbietung soll die Realität einsteigen.

Ist Kunst im öffentlichen Raum die Richtung, in die es weitergehen muss?

Was die Zukunft bringt, weiss ich nicht. Es ist auch möglich, dass das Bedürfnis nach der Konzentration des geschlossenen Zuschauer- und Bühnenraums wieder zunimmt.

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«Ceci n’est pas…», Claraplatz, täglich 15 bis 20 Uhr, bis 15. Juni.
Ein Blog dokumentiert täglich die Aktion.
Im Rahmen der Reihe «Performacity» nimmt Verhoeven an einer Podiumsdiskussion teil: Rossstall, Klybeckstrasse 1b, 14. Juni, 18.15 Uhr.

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