«Die Ökonomie wurde zur Religion Europas»

Tomáš Sedláček ist der Rebell der Ökonomenzunft. Das Gilgamesch-Epos dient ihm genauso zur Kritik der Marktwirtschaft wie die Wirtschaftsklassiker von Smith und Keynes. In seinem neuen Buch legt er die Ökonomie auf die Couch und entlarvt seine Patientin als Psychopathin.

Die Ökonomen wollen ihm noch nicht richtig zuhören. Doch das könnte sich ändern. Immer mehr Menschen bemerkten die «Unzulänglichkeiten des Systems», stellt Tomáš Sedláček fest.

(Bild: EPA/Herbert Neubauer)

Tomáš Sedláček ist der Rebell der Ökonomenzunft. Das Gilgamesch-Epos dient ihm genauso zur Kritik der Marktwirtschaft wie die Wirtschaftsklassiker von Smith und Keynes. In seinem neuen Buch legt er die Ökonomie auf die Couch und entlarvt seine Patientin als Psychopathin.

September 2012: Soeben war das Buch «Die Ökonomie von Gut und Böse» in Deutsch erschienen – das richtige Buch zur richtigen Zeit. Die Welt stand noch unter dem Schock der globalen Wirtschaftskrise, während sich ein junger tschechischer Makroökonom in seinem Erstling daran machte, die philosophischen und moralischen Widersprüche desjenigen Denkens zu ergründen, das zum Kollaps der Finanzmärkte geführt hatte.

Tomáš Sedláček war damals einer Einladung ans «Transart»-Festival gefolgt, als einziger Ökonom unter Malern, Musikern und Videokünstlern. Dort versuchte er das Publikum – und die sichtlich überforderte Moderatorin – eine Stunde lang mit unglaublichem Furor von der Krankhaftigkeit unseres neoliberalen, wachstumsgetriebenen und auf Schulden basierenden Wirtschaftssystems zu überzeugen.

Frenetisch gestikulierte der stämmige Mittdreissiger mit dem rötlichen Kraushaar und zeichnete auf einer Wandtafel in eine Grafik solange den Aufstieg und Niedergang einer Sinuskurve, bis die Kreide brach. Die Kurven standen für «Boom and Bust»; für eine Ökonomie, die in Zyklen Investitionsblasen produziert, die zum Platzen verurteilt sind. Nach getaner Arbeit, mit leicht gerötetem Kopf, zündete sich der Makroökonom der «Tschechoslowakischen Handelsbank» (CSOB) auf dem Trottoir eine Zigarette an und wollte nur noch eins: «Ein Bier!»

«Flüchtlinge in Europa – keine ökonomische Frage!»

Vor zwei Wochen stellte Sedláček sein neues Buch «Lilith und die Dämonen des Kapitals» am Literaturfestival BuchBasel vor. Doch diesmal hatte er weder Zeit für Interviews noch zum Biertrinken. Nach einstündiger Podiumsdiskussion musste er weiter nach Frankfurt. Ich rufe ihn einige Tage später in Prag an, wo er lebt und an der Karl-Universität lehrt. Sedláček assoziiert frei, springt in seinen Gedanken umher und erzählt lauter kurze Parabeln. Unabhängig von der Einstiegsfrage beginnt er das Gespräch dort, wo ihm der Kopf gerade steht; nämlich bei Europas Umgang mit der sogenannten Flüchtlingskrise.

«Täglich wird nun Ökonomen in der EU die Frage gestellt: Bringen die Flüchtlinge für unsere Volkswirtschaften Vor- oder Nachteile? Schon alleine diese Frage bereitet mir Sorgen. Wir haben es hier mit einer menschlichen Tragödie zu tun; das ist keine ökonomische Frage! Fragt von mir aus die Priester oder Soziologen, was zu tun ist, aber sicher nicht die Ökonomen. Alleine diese Frage zeigt, wie die Ökonomie zur dominierenden Religion Europas geworden ist. Sie bestimmt unsere Wertvorstellungen, obschon sie gleichzeitig den Anspruch auf absolute Wertfreiheit erhebt.»

«Unsere Wirtschaft befindet sich nicht in einer kurzfristigen Depression, sondern sie ist manisch-depressiv.»

Damit sind wir beim Thema: Sedláčeks Bücher hinterfragen die Ökonomisierung unseres Lebens und den absoluten Wachstumsfetisch, der die Wirtschaft antreibt. In «Die Ökonomie von Gut und Böse» dekonstruierte er das ökonomische Mindset anhand grosser Epen, zum Beispiel dem 4000-jährigen Gilgamesch-Epos aus Mesopotamien. Dort wendet sich Enkidu, eine Kreatur zwischen Mensch und Tier, von seiner Herde und der Natur ab und wird in der Stadt zur «zivilisierten» Person. Die Natur wird zur Ressource, Effektivität zum neuen Leitbild. Enkidus ursprüngliche Zufriedenheit weicht nun dem Drang nach Fortschritt, Spezialisierung und Wachstum. In solchen Erzählungen erkennt Sedláček den Ursprung eines Ideals, das vom Wunsch nach Produktivität, steigenden Erträgen und unendlichem Konsum genährt wird.

Die Ökonomie auf der Couch

«Lilith und die Dämonen des Kapitals» hat Sedláček zusammen mit dem Wiener Journalisten Oliver Tanzer geschrieben. Es ist wiederum eine intellektuelle Achterbahnfahrt durch mesopotamische, ägyptische, griechische und jüdisch-rabbinische Mythen, durch Herodot, Homer, Joyce, Nietzsche, Shakespeare und die Bibel. Doch diesmal nähert sich Sedláček seinem Lieblingsfeind mit der Brille des Psychoanalytikers. Inspiriert durch Sigmund Freud und Carl Gustav Jung legt er die Ökonomie auf die Couch und befragt sie nach Ängsten, Tabus, Emotionen, Werten und ihrer Selbstwahrnehmung.

Der klinische Befund der Autoren für die prominente Patientin ist niederschmetternd:

«Es (das ökonomische Gemüt) leidet offenkundig an einer bipolaren (manisch-depressiven) Störung und erzeugt in beiden Extremen Chaos. Philosophisch und ethisch gesehen glaubt es an die (omnipotente) Macht des Egoismus und predigt diesen ‹Gospel› (aus dem Altenglischen ‹gute Botschaft›), als wäre es die führende Kraft auf dem Globus. Das ökonomische Denken ist ein Abkömmling des individuellen Utilitarismus, der alle anderen Werte mit Zynismus straft.»

Mit anderen Worten: Die Ökonomie gehört eigentlich in die Klapsmühle. Man fragt sich: Ist uns da etwas entgangen? Wie konnte ein zutiefst gestörtes System, wie es die freie Marktwirtschaft laut Sedláček ist, zur absoluten und alles umfassenden Normalität werden? Oder sind seine Thesen schlicht absurd?

«Die meisten Ökonomen sind im naiven Glauben verhaftet, dass Wachstum etwas Natürliches ist; dass immer Sonnenschein und blauer Himmel herrscht.»

Darauf erwidert Sedláček: «Wichtig ist zu verstehen: Unsere Wirtschaft befindet sich nicht in einer kurzfristigen Depression, sondern sie ist manisch-depressiv. Und was wissen die Psychoanalytiker über manisch-depressive Patienten? Dass sie sich in manischen Phasen absolut grossartig fühlen; im schlimmsten Fall denken sie, dass sie  fliegen können und springen aus dem Fenster. Oder sie verausgaben sich, bis sie kollabieren. Ähnlich geht es der Ökonomie während Wachstumsphasen.»

«Nehmen wir das Beispiel der US-Wirtschaft um 2007: Das BIP nahm zu, die Zahl der Arbeitslosen war gering, der Innovationszuwachs erreichte einen Höhepunkt; der Himmel war strahlend blau, ohne eine einzige Wolke. Und plötzlich folgte der Kollaps; Lehman Brothers ging pleite und die ganze Welt wurde mit ihr in die Krise gerissen. Unser Problem ist, dass wir die Geschichte der Ökonomie vergessen haben: Sie lehrt uns, dass wirtschaftlicher Auf- und Abschwung in Zyklen verläuft. Doch die meisten Ökonomen sind im naiven Glauben verhaftet, dass Wachstum etwas Natürliches ist; dass immer Sonnenschein und blauer Himmel herrscht.»

Patientin mit Ödipuskomplex

Zusätzlich zur bipolaren Störung attestiert Sedláček seiner Patientin einen Ödipuskomplex. Denn immer wenn es Probleme gebe, renne sie zum eigentlich verachteten Vater – zum Staat. Auch im Verhältnis zu anderen Disziplinen gebäre sich die Ökonomie krankhaft: Sie wolle dominieren und sich so weit wie möglich von der Gesellschaft emanzipieren, aus der sie einst selbst hervorgegangen war. Dadurch erkläre sich auch ihr Unwohlsein in der Nähe der Geisteswissenschaften und ihre Zuflucht zu den Naturwissenschaften. Mit mathematischen Modellen versucht sie, ein soziales System, das auf Millionen von individuellen Entscheidungen und Motiven beruht, berechenbar zu machen.

«Die heutige Ökonomie basiert auf lauter Missverständnissen: Zwar haben verhaltensökonomische Studien das Modell vom homo oeconomicus (Anm. d. Red.: Mensch, der rationale Entscheidungen zu seinem grösstmöglichen persönlichen Nutzen fällt), auf dem unser Wirtschaftsmodell beruht, längst widerlegt. Trotzdem wird es weiter gelehrt. Ein Beispiel: Die weltweit grösste implizite Transaktion der Menschheit verläuft nicht nach ökonomischen Gesetzen: Eltern stecken Unsummen von Geld in ihre Kinder, ohne dass sie dieses jemals wieder zurückkriegen – speziell nicht in westlichen Ländern, wo die Altenbetreuung ausgelagert ist. Hier wirkt, was ich die ‹weichen› Prinzipien nenne, darunter Intuition und Ausdauer. Doch genau diese wurden in den letzten 200 Jahren aus der Ökonomie verdrängt; im Fokus stehen heute die harten Prinzipien, wie Aggressivität und Konkurrenzdenken.»

«Akademiker sind Dickköpfe. Die Professoren beten die selben Theorien herunter, als ob es die Krisen der vergangenen Jahre nie gegeben hätte.»

An schlechten Erfahrungen mit den «harten» Prinzipien fehlt es eigentlich nicht: Der Börsencrash von 2008 hat ganze Bevölkerungsschichten in die Armut getrieben, die Beinahe-Insolvenz Griechenlands eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent zurückgelassen, die Weltwirtschaft schröpft weiter diejenigen natürlichen Ressourcen, von denen sie selbst abhängt und lässt desillusionierte und ausgebrannte Manager und Angestellte zurück, welche die Gesundheitssysteme strapazieren. Finden also die «weichen Prinzipien», die für Sedláček quasi am Anfang eines neuen Denkens stehen, heute vermehrt Eingang in die ökonomische Lehre – zum Beispiel durch den Austausch mit anderen Disziplinen?

«Nein, Akademiker sind Dickköpfe. Die Lehrbücher in der Ökonomie sind die gleichen geblieben. Die Professoren beten die selben Theorien herunter, als ob es die Krisen der vergangenen Jahre nie gegeben hätte. Meine Frau ist Soziologin; in ihrer Disziplin werden die Lehrbücher an die neuen Realitäten angepasst. Zum Beispiel wird die Rolle der Social media für Massenaufstände thematisiert. Aber nicht bei uns in der Ökonomie.»

Aber nach 2008 gab es immerhin einen Aufstand von Wirtschaftsstudierenden, die sich gegen das klassische Dogma in der Ökonomie wehrten. Was wurde daraus?

«Ihre Forderung war: ‹Wir wollen mehr Pluralismus und keine Fachidioten werden.› Aber die Lehrer haben sie missachtet. Heute werden an den Universitäten weiter mathematisch-analytische Lehrstühle ausgebaut. Diese sind zwar schon auch wichtig, aber es ist gefährlich, wenn man sich einseitig darauf konzentriert.»

Geringes Interesse der Ökonomen

Noch sieht es nicht so aus, als könnte Sedláčeks Buch daran kurzfristig was ändern. Eine Nachfrage bei vier Wirtschaftsprofessoren und -professorinnen der Universität Basel zeigt, dass das Interesse an seinen Theorien in der eigenen Zunft gering ist. Zwei meldeten sich überhaupt nicht, einer findet in seinen Büchern «wenig Neues», und bei der Professorin für Makroökonomie liegt es seit Längerem auf einer Liste der noch zu lesenden Bücher.

In den verwandten Sozial- und Geisteswissenschaften sowie in Kunst und Literatur ist das Interesse an Sedláčeks Werk grösser. «Die Ökonomie von Gut und Böse» wurde gar als Theaterstück inszeniert; mit Sedláček in einer der Hauptrollen. Und Anfang Jahr erschien bei Hanser ein langes Gespräch zwischen Sedláček und David Graeber, Gallionsfigur der Occupy-Bewegung und Professor an der London School of Economics – ein Ethnologe, kein Ökonom. Fühlt man sich unter diesen Umständen nicht manchmal wie ein Missionar, der zu den bereits Bekehrten predigt?

«Nun ja, ich glaube es ist ein wenig wie mit den Grünen vor 20 Jahren. Damals dachten auch alle, dass sei ein kurzlebiger ‹Joke› von Spinnern mit einer radikalen Idee. Heute sind die Grünen eine politische und wirtschaftliche Macht. Sie haben unser Denken und Handeln nachhaltig geprägt. Ähnliches geschieht derzeit in der Ökonomie. Immer mehr Menschen realisieren, dass es da ein Problem gibt; die Unzulänglichkeiten des heutigen Systems wurden zum Thema. Sonst würden wir ja nicht darüber sprechen, oder?»

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Tomáš Sedláček und Oliver Tanzer: «Lilith und die Dämonen des Kapitals. Die Ökonomie auf Freuds Couch»; Hanser Verlag, 2015, 352 Seiten.  

Tomáš Sedláček und David Graeber: «Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?»; Hanser Verlag, 2015, 144 Seiten. 

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