«Die orthodoxe Gesellschaft ist direkter»

«Fill the Void» steht für eine Premiere: Die Regisseurin Rama Burshtein, die selbst im strenggläubigen jüdischen Umfeld zu Hause ist, will mit dem Film zeigen, dass es auch in der Orthodoxie knistert, wenn geliebt wird.

Der Schein trügt: Nicht nur Männer haben in «Fill the Void» eine Stimme, sondern auch die Frauen der chassidischen Gemeinschaft. (Bild: zVg)

«Fill the Void» steht für eine Premiere: Die Regisseurin Rama Burshtein, die selbst im strenggläubigen jüdischen Umfeld zu Hause ist, will mit dem Film zeigen, dass es auch in der Orthodoxie knistert, wenn geliebt wird.

Die Leere, die der Filmtitel «Fill the Void» meint, ist unerwartet ins Leben der strenggläubigen, orthodoxen Familie Mendelman aus Tel Aviv eingetreten. An Purim, dem jüdischen Fest der Verkleidung, des Humors und der Lebensfreude, stirbt die ältere der beiden Töchter der Familie, Esther, als sie ihren ersten Sohn gebiert.

Zurück bleibt der traumatisierte Ehemann Yochay, der keinen Zugang zum Säugling findet und ihn meist in der Obhut der Mendelmans lässt, wo sich die jüngere Tochter Shira um das Kind kümmert. Nach der Trauerphase sucht er eine neue Ehefrau, die ihn in der Erziehung unterstützen soll, und findet eine Kandidatin in Belgien – eine Wahl, die bei den Mendelmans grosse Bestürzung hervorruft. Vor allem die Mutter fürchtet, nach der Tochter auch noch das Enkelkind zu verlieren. Sie schlägt Yochay vor, seine Schwägerin Shira zu heiraten und in Tel Aviv zu bleiben.

Liebe aus Pflichtgefühl

Shira ist 18, weiss nichts von der Liebe und hat keine Sprache für die Regungen des Herzens, und tatsächlich erklärt sie sich zuerst aus reinem Pflichtgefühl gegenüber der Familie mit dem Vorschlag einverstanden. Allerdings betreibt der Film keine Verhältniskritik und entpuppt sich nicht als Milieustudie über arrangierte Ehen in streng religiösen Gemeinschaften. Er erzählt, geboren aus einer Tragödie, die ersten Knisterlaute der Liebesgeschichte zwischen Yochay und Shira.

«Fill the Void» ist eine Premiere, weil die Bilder hier nicht von der säkularen Aussenwelt in das religiöse Umfeld hineinprojektiert werden. Die Regisseurin Rama Burshtein (45), gebürtige Amerikanerin und Absolventin der Sam-Spiegel-Filmschule in Jerusalem, hat selbst im Alter von 26 Jahren den Wandel von einer säkularen zu einer tief religiösen Frau vollzogen. «Fill the Void» ist Burshteins erster Spielfilm, der auch für ein säkulares Publikum gedreht wurde.

«Fill the Void» ist an den Film­festspielen in Venedig für die beste weibliche Hauptrolle ausgezeichnet worden. Derzeit läuft er in den Schweizer Kinos.

Frau Burshtein, Sie haben den Film gedreht, um für die Aussenwelt ein Fenster in die chassi­dische Gemeinschaft zu öffnen. Mit welchen Vorurteilen räumen Sie auf?

Das ist nicht mein Anspruch, aber schön, wenn der Film diesen Effekt hat. Ich wollte eine Geschichte aus unserer Gemeinschaft heraus erzählen. Und zeigen, dass diese Welt voller Gefühle ist, voller Leidenschaft – und auch sehr sexy sein kann.

Der Film ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte über die 18-jährige Shira, die vom Mädchen zur Frau reift und lernt, ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken. Dennoch streben ihr Leben und ihre Gedanken einzig auf eine Heirat zu. Warum?

Ich denke, da gibt es keine grossen Unterschiede zu säkularen Menschen. Ich kenne ja beide Welten, und stets geht es darum, den einen Menschen zu finden, mit dem man zusammenbleiben kann. Bei uns beschliesst man dies mit einer Heirat. Auch Shira reagiert im Film auf erste sinnliche Eindrücke, und sie wird von der Familie nicht dazu gedrängt, ihren Schwager zu heiraten, sondern nur angefragt. Die Entscheidung ist schliesslich ihre eigene. Das ist meiner Erfahrung nach bei allen orthodoxen Eheschliessungen so.

«In meiner Welt schubst mich ­niemand zur ­Seite»

Eine Nebenfigur im Film ist die Cousine Frieda, die unverheiratet ist und dies als Demütigung empfindet. Bedeutet die Ehelosigkeit für eine Frau in Ihrer Gemeinschaft einen Ausschluss?

Gegenfrage: Was bedeutet es in der säkularen Welt, unfreiwillig Single zu bleiben? Frieda ist keine Ausgeschlossene, aber sie erfährt Mitleid, und das macht ihr zu schaffen. Manche nicht religiösen Freundinnen von mir sind nun 35, 40 Jahre alt, ohne feste Bindung, ohne Kinder. Und erfahren durch ihr Umfeld nun, dass etwas fehlt in ihrem Leben. Die orthodoxe Gemeinschaft ist da viel direkter. Man sagt es sich ins Gesicht.

2012 wurde in Israel wegen eines Streits über geschlechtergetrennte Busse intensiv über die diskriminierende Stellung der Frau in streng religiösen Gemeinschaften diskutiert. Was hat Ihr Film dazu zu sagen?

Ich bin keine Idealistin, ich erzähle Geschichten. Meine Schultern sind nicht breit genug, um eine Diskussion über Frauenrechte zu tragen. Ich kann nur meine eigene Sicht schildern: In meiner Welt schubst mich niemand zur Seite. Die Verbindung zwischen Mann und Frau hat bei uns eine geheiligte Bedeutung. Ich kann Ihnen versichern, Männer ehren ihre Ehe und setzen sie nicht für einen Seitensprung aufs Spiel. Das habe ich in säkularen Beziehungen anders ­beobachtet. Ich will nicht verallgemeinern, aber die Bilder, die über die chassidische Gemeinschaft kursieren, entstehen auch aufgrund der Verschlossenheit dieser Gemeinschaft. Das empfinde auch ich als störend: Man baut kaum Brücken in die Aussenwelt. Es gibt fast keine Stimmen, die diese Kultur hinaustragen.

Verzichten Sie deshalb in Ihrem Film völlig auf das verbreitete Thema der Reibung zwischen religiöser und säkularer Welt?

Ja. Mein Film ist eine Familiengeschichte. Die Orthodoxie sieht sich regelmässig mit der Aufgabe konfrontiert, die 3000 Jahre alte Tradition zu bewahren und sich mit der Aussenwelt zu arrangieren. Aber es gibt auch eine Innenwelt, in der all diese Fragen keine Rolle spielen. Aber um diese Welt zu zeigen, braucht es Übersetzungsarbeit. Darum dieser Film.

  • «Fill the Void» läuft derzeit in den Schweizer Kinos, unter anderem im Atelier Basel.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.03.13

Nächster Artikel