Die Schneekönigin bricht aus

Als Saisonhöhepunkt zeigt das Theater Basel das Gastspiel «The Life and Death of Marina Abramovic»: Ein atemberaubender, audiovisueller Theaterrausch, bei dem Licht und Schatten nahe beieinander liegen.

 

Neue Perspektive auf sich: Marina Abramovic spielt nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Rabenmutter. (Bild: Lucie Jansch)

Als Saisonhöhepunkt zeigt das Theater Basel das Gastspiel «The Life and Death of Marina Abramovic»: Ein atemberaubender, audiovisueller Theaterrausch, bei dem Licht und Schatten nahe beieinander liegen.

Ikone, Grenzgängerin, Radikale: Marina Abramovic ist vieles. Nur eines gemeinhin nicht: Das kleine, schutzbedürftige Mädchen. Gerade dieses aber stellt Regisseur Robert Wilson ins Zentrum von «The Life and Death of Marina Abramovic», einem der wohl ungewöhnlichsten und umstrittensten Theater-Biopics, die je das Bühnenlicht erblickten. Eine «Travestie», eine «Schändung», schrieben empörte Journalisten nach der Uraufführung letzten Juli am Manchester International Festival

Expressiver Reigen am Rande der Erträglichkeit

Als Besucher der Basler Premiere des Gastspiels reibt man sich angesichts jener harschen Worte verwundert die Augen. Denn zwar sind Schändung und Travestie durchaus zentrale Momente der Inszenierung: Doch scheint Wilsons düsterer Reigen, in dem Marina Abramovic ihre eigene, misshandelnde Mutter verkörpert (im hochgeschlossen schwarzen Kleid, mit bedrohlich hallenden Stiefelschritten) nur gerade in der überzeichneten Entfremdung überhaupt erträglich. Die junge Marina wird dagegen von einem halben Dutzend Pantomimen gespielt, welche mit Stummfilm-artigen Slapstick-Tänzen und an Munchs «Schrei» gemahnender Mimik und Gestik ihre elementaren Gefühle, Angst, Schmerz, Wut ausdrücken.

Aus biographischen Eckdaten, Anekdoten und auftauchenden Erinnerungsschnipseln entspinnt sich so ein expressives, surreales Panoptikon des Lebens der Abramovic, die unter dem militärischen Drill ihrer jugoslawischen Eltern, beides dekorierte Kriegsveteranen, aufwächst und als Jugendliche mal russisches Roulette spielt, mal versucht, sich die eigene, als zu gross empfundene Nase absichtlich zu brechen, um mehr wie ihr Vorbild Brigitte Bardot auszusehen. Und die einige Jahre später – bereits als gefeierte Künstlerin – um ein Haar von ihrer eigenen Mutter mit einem Aschenbecher erschlagen wird.

Fortgesetzte Extreme statt einer Exegese

Dass sich diese erlebten Extreme nahtlos in den eigenen, oft unglücklichen Liebesbeziehungen und in ihrer Arbeit als Performancekünstlerin fortsetzen: Wenig verwunderlich, vielmehr folgerichtig. Wer, wie manche englischen Theaterkritiker, die zentrale Rolle der Mutter im Stück kritisiert, verkennt zweierlei: Es handelt sich um eine Biographie, keine Werkexegese. Und das Material, die Erinnerungen, hat Abramovic, die sich laut eigener Aussage erst sehr spät von der dominierenden Mutter lösen konnte, schliesslich bewusst selber beigesteuert.

Umso behutsamer, dass Wilson Abramovic im Stück zwei Archetypen zur Seite stellt, die Licht und Schatten – die beiden zentralen Momente von Wilsons Regie-Arbeit, im Bühnenbild und Beleuchtungskonzept atemberaubend umgesetzt – perfekt darstellen: Einerseits der versierte Hollywood-Charaktermime Willem Dafoe, der als märchenhaft irrlichternder Erzähler selber den Überblick über Abramovics biographische Stationen verliert.

Ersehnte Katharsis trotz unmöglichem Spagat

Andererseits Antony Hegarty (Antony & The Johnsons), welcher als musikalischer Leiter des fast dreistündigen Spektakels der teils schrillen, teils unterkühlten visuellen Ästhetik die dringend benötigte, akustische Wärme schenkt. Bei jedem Wendepunkt des Abends steht Lichtgestalt Antony wie ein Erzengel auf der Bühne und rührt mit seinem unwirklich warmen Vibrato den Saal zu Tränen. Am Ende schwebt Schneekönigin Abramovic bei ihrer eigenen Beerdigung als Geist über der Bühne, während Antony vom ausbrechenden «Volcano of Snow» singt. Eine Verklärung, fürwahr, gekrönt vom Heiligenschein. Aber auch: die von allen Seiten ersehnte Katharsis, eine Erlösung – für Abramovic selbst genauso wie für die Zuschauer.

Wilson gelingt mit «The Life and Death of Marina Abramovic» ein schier unmöglicher Spagat: Er schafft durch Distanz Nähe zur entrückten Ikone – und lässt Abramovic gerade in seiner biographischen Verzerrung wieder menschlich, allzumenschlich wirken. Gleichzeitig ermöglicht er dadurch, wie Marina Abramovic im Gespräch mit der TagesWoche selber betont, einen neuen, frischen Zugang: nicht nur zur Person, sondern genauso zu ihrer Kunst. Und für all jene, die mit der Performancekünstlerin dennoch nichts anfangen können oder wollen, bleibt die Erinnerung an einen fantastisch-verstörenden, audiovisuellen Theaterrausch, der niemanden unberührt zurück lassen dürfte.

«The Life and Death of Marina Abramovic», Theater Basel. Weitere Vorstellungen: 14. und 15. Juni, jeweils 20 Uhr.

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