Am Wochenende feiert das Museum Tinguely seinen 20. Geburtstag. Im Gespräch mit der TagesWoche äussert sich Museumsdirektor Roland Wetzel zur besonderen Situation eines Hauses, das sich aus der Zwangsjacke eines Einkünstler-Museums befreien konnte und sich keine Sorgen um die Finanzierung von Sonderausstellungen zu machen braucht.
Es ist das kleinste der drei grossen Kunstmuseen in Basel. Aber das Museum Tinguely, das Roche 1996 als Geschenk zum 100. Firmengeburtstag stiftete, stellt das weltberühmte Kunstmuseum Basel und die erfolgsverwöhnte Fondation Beyeler in Sachen Originalität und Sinnlichkeit immer wieder in den Schatten.
Am Sonntag, 25. September, feiert das Museum seinen 20. Geburtstag. Und dies nicht etwa mit einer ehrwürdigen Referenz an den Namensgeber des Hauses, sondern mit einem Programm, das sich unter dem Titel «Out of Order» an eine experimentelle Sonderausstellung anlehnt.
Vor wenigen Wochen beging die Stadt Fribourg den 25. Todestag von Jean Tinguely mit einer grossen Feier. Das Museum Tinguely feiert am Sonntag seinen 20. Geburtstag, also sich selber. Ist Ihnen das Museum wichtiger als der Künstler?
Nein, überhaupt nicht. Wir begingen vor fünf Jahren den 20. Todestag von Tinguely mit einer grossen Ausstellung und einer Prozession durch die Stadt. Dieses Mal traten wir zugunsten von Fribourg, wo der Anlass schon seit langer Zeit geplant war, bewusst zurück. Eine Feier zum Todestag reicht ja auch – ob der nun in Basel oder in Fribourg stattfindet, ist nicht entscheidend. Und wir vom Basler Museum waren mit der Ausleihe des Werks «Safari» an der Prozession beteiligt. Es war ein schöner Anlass, der auf die Person Tinguely abzielte. Bei uns stehen nun die Institution und das Werk im Vordergrund.
Mit der Gründung des Museum Tinguely wurde vor zwanzig Jahren ein regelrechter Museumsboom ausgelöst – ein Jahr darauf wurde die Fondation Beyeler gegründet. Wo steht Ihr Haus heute in der Kunstmuseums-Landschaft von Basel oder der Schweiz?
Wir haben verschiedene Aufgaben: Erstens das Bewahren und die Präsentation des Werks von Tinguely. Das Museum besitzt die grösste Sammlung des Künstlers. Sie basiert auf einer Schenkung von Niki de Saint-Phalle und ist seit der Gründung des Museums stark gewachsen. Wir sind heute eine Institution, die ihre Position gefunden hat, auch wenn nicht alles in Stein gemeisselt ist. Wir versuchen, mit einem speziellen Programm an die Öffentlichkeit zu treten, Ausstellungen zu präsentieren, die man an anderen Orten nicht sehen kann. Und wir sind auch für andere künstlerische Disziplinen offen: für Musik und Performances. Das Museum wird jährlich von rund 110’000 Menschen besucht, das ist ein sehr erfreulicher Zuspruch. Basel ist ein Ort mit sehr vielen Museen, die sich im guten Sinne konkurrenzieren, weil sie viel Publikum anziehen, von dem wir letztlich alle profitieren.
Wie viele Werke befinden sich in der Sammlung des Museums?
Es sind rund 150 Skulpturen und weit über 1000 Arbeiten auf Papier und viele Fotografien.
Und sie wächst weiterhin?
Ja. Arbeiten auf Papier kaufen wir immer wieder an, und in zeitlich längeren Abständen tätigen wir auch grosse Ankäufe. Es existiert auch eine Wunschliste von rund zehn Werken, die wir gerne übernehmen würden. Aber das sind Werke, an die wir nicht so leicht herankommen.
«Die Sammlung zieht nach wie vor viele Menschen an, darunter viele Familien mit Kindern.»
Mit 110’000 Besuchern steht das Museum Tinguely hinter der Fondation Beyeler und dem Kunstmuseum Basel an dritter Stelle der drei grossen Kunstmuseen. Haben Sie sich mit dieser Position abgefunden?
Wir haben das Glück, dass wir keine Blockbuster um jeden Preis produzieren müssen und nicht in erster Linie aufs Publikum schielen. Wir haben ein zweigeteiltes Programm: Natürlich zeigen wir das Werk Tinguelys – es belegt gut die Hälfte der Ausstellungsfläche im Museum. Die Sammlung zieht nach wie vor viele Menschen an, darunter viele Familien mit Kindern. Als zweites zeigen wir Sonderausstellungen, die nicht primär zum Ziel haben, ein breites Publikum anzuziehen. Wir zeigen Künstler, die zum Teil kaum jemand aus dem breiten Publikum kennt.
Viele Menschen und, wie Sie sagen, Familien kommen ins Museum, um den Namensgeber des Museums zu sehen, treffen in den grossen Ausstellungsräumen im Erdgeschoss aber auf Künstler, die sie nicht kennen. Gibt es Menschen, die deswegen enttäuscht sind?
Jetzt, da das Riesenwerk «Grosse Méta-Maxi-Maxi-Utopia» auf Reisen ist, herrscht tatsächlich eine spezielle Situation. Durch die Retrospektive in Düsseldorf, die in Amsterdam fortgesetzt wird, sind einige wichtige Tinguely-Werke im Moment ausgeliehen. Es ist selbstredend fantastisch, der grösste Leihgeber für eine solch wichtige Ausstellung zu sein, andererseits fehlen die Werke natürlich hier im Museum. Aber ab Februar 2017 wird die «Grosse Méta-Maxi-Maxi-Utopia» wieder ein Hallensegment im Erdgeschoss besetzen, Tinguely wird also auch unten wieder deutlich sichtbar sein. Aber er ist auch heute nach wie vor sehr präsent, wenn man über die Barca in die oberen Geschosse geht. Doch es ist richtig, dass wir in der grossen Halle im Erdgeschoss in erster Linie Sonderausstellungen zeigen. Sie eignet sich durch die mobilen Hubwände sehr dafür.
Vor fünf Jahren war Tinguely im ganzen Museum zu sehen. Wie lange muss das Publikum warten, bis das wieder der Fall sein wird?
Nicht lange. Die nächste grosse Tinguely-Ausstellung wird am 18. Oktober beginnen. In «Musikmaschinen / Maschinenmusik» werden wir alle vier grossen Musikmaschinen Tinguelys zeigen, die zwischen 1978 und 1985 entstanden sind – darunter eine Leihgabe aus Japan und eine aus Wien. Dazu kommen weitere Musikmaschinen anderer Künstler und ein Programm mit vielen Performances und Konzerten, die einen Kontrapunkt zu den Maschinen abgeben werden. Mit dieser Ausstellung werden wir ein ganz zentrales Element aus dem Schaffen Tinguelys beleuchten.
Meistens aber ist Tinguely in den Sonderausstellungen nur am Rande oder als theoretischer Ausgangspunkt vorhanden. Wie planen Sie Ihre Sonderausstellungen?
Wir gehen von drei Standbeinen aus: die Vorbilder Tinguelys, seine Zeitgenossen, also die europäische Nachkriegs-Moderne, und jüngere Positionen aus der Gegenwartskunst, die eine direkte oder thematische Beziehung zu Tinguely haben. Bei den Zeitgenossen gibt es nach wie vor Vieles zu entdecken. Bei den Vorbildern wird es etwas enger, weil wir schon einige gezeigt haben: Marcel Duchamp zum Beispiel oder Kurt Schwitters. Bei der Gegenwartskunst ist das Feld sehr breit. Denn für mich ist Tinguely nicht in erster Linie jemand, der aus Metall Kunst gemacht hat, sondern ein Künstler, der relevante Themen aus seiner Zeit verarbeitet, das heisst in Kunst eingegossen hat. Es sind Themen, die heute noch sehr relevant sind: zum Beispiel die Interaktion zwischen Mensch und Maschine, die man heute ebenfalls auf die Digitalisierung übertragen kann. Tinguely war auch politisch engagiert, Konsumismus war ein Thema, mit dem er sich befasste – was bei der aktuellen Ausstellung «Out of Order» mit dem Werk von Michael Landy stark präsent ist. Für Tinguely war auch die Hinwendung zur Realität und zum Publikum wichtig, das heisst sein Anspruch, einen direkten Dialog auszulösen und Interaktionen zu ermöglichen. Für ein jüngeres Publikum sind das die Themen, die es in ein Museum zu bringen gilt. Aufgrund der Themenvielfalt in Tinguelys Werk sehe ich demnach keine Probleme, das Museum mit vielfältigen Ausstellungen in die Zukunft zu führen.
«Experimente sind ein Teil der DNA des Museums.»
Sie zeigen im Gegensatz zu den anderen Kunstmuseen oft auch thematische Ausstellungen und wagen dabei Experimente. Wie weit können Sie dabei gehen?
Experimente und auch experimentelle Ausstellungen sind Schlagworte, die wir als Auszeichnung für unser Museum betrachten – Tinguely war ein Künstler, der Experimente wagte, also sind Experimente ein Teil der DNA des Museums. Ich will hier als Beispiele unsere Ausstellungen zum Riech- und Tastsinn erwähnen – thematische Projekte mit einer grossen Reichweite, und die wir auch mit Symposien verbanden, die weit über das Feld der Kunst hinausführten. Wir haben also einen weit gespannten Rahmen, der sehr zukunftsträchtig ist.
Aber ganz frei bei der Themenwahl sind Sie doch nicht?
Ich bin der Meinung, dass es im Zweifelsfall wichtiger ist, eine tolle Ausstellung zu machen, als sklavisch etwas von Tinguely aufzunehmen. Aber Vieles ergibt sich ganz selbstverständlich. In jüngerer Zeit denken wir intensiv darüber nach, was für Künstlerinnen wir zeigen können. Die kinetische Kunst war lange Zeit doch deutlich von Männern geprägt, was sich aber stark gewandelt hat.
Das Museum Tinguely ist das einzige Haus, das zu 100 Prozent von einem Privaten getragen ist. Gibt Ihnen die Roche so viel Freiheit?
Roche überlässt uns komplett freie Hand bei der Programmation des Museums. Es ist ein wunderbares mäzenatisches Engagement, das uns trägt und uns inhaltlich alle Freiheiten lässt.
«Es ist ein grosses Privileg, nicht stets Geld suchen zu müssen.»
Ohne jeglichen Leistungsauftrag?
Ja, ohne. Natürlich müssten wir über die Bücher, wenn wir auf unter 100’000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr fallen würden. Es ist eine Abhängigkeit von einem Geldgeber, gleichzeitig aber ein grosses Privileg, nicht stets Geld suchen zu müssen. Das ist eine wunderbare Voraussetzung.
Sie können sich also, anders als Ihre Kollegen in der Fondation Beyeler und im Kunstmuseum, ganz auf die Kunst konzentrieren?
Das nicht ganz. Ich leite einen Betrieb mit 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im engeren Kreis – dazu kommen externe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber es ist ein sehr gutes Verhältnis zwischen administrativen Führungsaufgaben und kuratorischen, also inhaltlichen Arbeiten. Wir verfügen über ein Archiv, das sich wunderbar entwickelt hat. Wir konnten unter anderem einen Teil des Archivs von Pontus Hultén übernehmen und diverse fotografische Nachlässe. Das ist eine tolle Basis, die weit über Tinguely hinausreicht und uns zum Spezialisten für die Nachkriegs-Moderne ab 1960 macht. Entsprechend kommt auch eine zunehmende Anzahl an Forscherinnen und Forscher zu uns. Und wir beschäftigen zwei Restauratoren, die auf die kinetische Kunst spezialisiert sind – eine ungewöhnliche Aufgabe für klassische Kunstrestauratoren. Die beiden sind auch für andere Museen tätig – zum Beispiel gerade jetzt, da die Tinguely-Retrospektive vom Museum Kunstpalast in Düsseldorf ins Stedelijk Museum nach Amsterdam umzieht. Da ist einer unserer Restauratoren zwei Wochen mit dem Ab- und Aufbau beschäftigt.
Die Geburtstagsfeier des Museums läuft gemäss dem Titel «Out of Order». Ist das Programm ausser Betrieb?
Der Titel orientiert sich nach der aktuellen Sonderausstellung mit Werken von Michael Landy. Insofern stimmt er. Es ist eine spezielle Ausstellung, weil sie aus einer über zehnjährigen Auseinandersetzung des Künstlers mit Tinguely entstanden ist. Landy kam im Rahmen seiner künstlerischen Recherche über Tinguelys «Hommage à New York» 2005 erstmals zu uns ins Archiv und ins Museum. Es ist eine Ausstellung, die von den Werken und inhaltlich über seine Konsumismus-Kritik sehr gut zu Tinguely und in unser Museum passt. «Out of Order» bedeutet ja nicht nur «ausser Betrieb», sondern deutet auch auf etwas Aussergewöhnliches hin. Und das wollen wir sein an diesem Tag.
«Tinguely ist nach wie vor ein Künstler, der für eine junge Generation sehr interessant ist und als Inspirationsquelle dient.»
Michael Landy ist ein jüngerer Künstler, der sich auf Tinguely beruft …
… ja, er wurde von Tinguely zur Kunst angestiftet. Als er seine Werke 1982 in der Tate in London erstmals gesehen hatte, entschloss er sich als junger Textilstudent dazu, Künstler zu werden.
Gibt es viele junge Künstler, die Tinguely zum Vorbild haben?
Es gibt viele junge Künstler, die uns besuchen, und es ist kaum einer darunter, der sich von Tinguelys Weg und Schaffen nicht beeindruckt zeigt – von der Radikalität, wie er Kunst gedacht und umgesetzt hat. Er ist nach wie vor ein Künstler, der für eine junge Generation sehr interessant ist und als Inspirationsquelle dient.
Tinguely begann seine Karriere vor 60 Jahren. Ist er bereits ein Klassiker der Moderne?
Ein Klassiker vielleicht noch nicht. Aber man kann jetzt mit dem Abstand von über einem halben Jahrhundert seine Wichtigkeit für die Kunstgeschichte einschätzen. Er hat um 1960 herum am Puls der Avantgarde wirklich Neues geschaffen, das überdauern wird. Ohne jetzt sein Spätwerk abwerten zu wollen, war es vor allem sein Frühwerk, das eine grosse Brisanz hatte und noch hat. Aber auch ein spätes Werk, wie der Mengele-Totentanz, haut einen durch seine Intensität in der Auseinandersetzung mit dem Tod heute noch um.
Am letzten Tag der Sonderausstellung «Michael Landy. Out of Order» lädt das Museum zu verschiedensten Attraktionen rund um Jean Tinguely und Michael Landy im Museum und Solitude Park ein. Als krönender Abschluss werden die EepyBirds den Tag mit einem Ihrer spektakulären Mentos & Coke Experiments beenden.
Weitere Informationen zum Jubiläumsprogramm: Out of Order Day – 20 Jahre Museum Tinguely