Dorothee Elmiger hat einen Roman über Flüchtlinge in der Schweiz geschrieben. Für die Migranten eine Stimme zu finden, erwies sich als kaum lösbare Aufgabe – doch Schweigen ist keine Option.
Die Sammlerin sieht man Dorothee Elmiger nicht an. Dennoch hat sich bei ihr zu Hause in Zürich ein grosses Archiv aus Zeitungsartikeln, Magazinen und Prospekten gebildet. «Ich bin jemand, der alles behält», sagt sie und streicht sich die Fransen aus dem Gesicht. Auch für ihren neuen Roman «Schlafgänger» hat die 28-Jährige gesammelt. «Häufig fiel mir während des Schreibens etwas in die Hände und ist dann in den Text geflossen.»
Das merkt man Elmigers 140 Seiten dünnem Buch an. In einer Passage liegt das Freibad in Bremgarten verlassen da. Im vergangenen Sommer wurde die Badi von den Behörden für Asylsuchende zur Sperrzone erklärt. Und schon steckt man mitten im Thema von «Schlafgänger». Es geht um Grenzen, Migration und die Debatte darüber. Was jedoch fehlt, ist die Stimme der Betroffenen. «Die Position der Flüchtlinge einzunehmen fände ich anmassend», erklärt Elmiger. Sie traut der Authentizität nicht, die sich einstellen würde, wenn sie den Migranten das Wort gäbe.
Selbst Empörung klingt aus Elmigers Mund bedächtig
Zugleich will sie die Diskussion nicht genauso wiederholen, wie sie normalerweise geführt wird: «Man redet über diese Menschen immer nur als die Anderen.» Ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg gibt. Auch das Buch bietet ihn nicht an, sondern ist ein Nachdenken darüber geworden, wie eigentlich über Migration geredet wird.
Denn Schweigen ist keine Option. «Das Thema lag ganz offensichtlich vor mir», erzählt sie. Schliesslich geht es auch sie etwas an, wenn nicht alle, die sich in der Schweiz aufhalten, die gleichen Rechte haben. «Dadurch kann auch ich weniger hinter dieser Demokratie stehen.» So empört sich das anhören mag, aus Dorothee Elmigers Mund kommt die Aussage als eine bedächtige Feststellung.
Der Roman «Schlafgänger» ist ein Dialog von schemenhaften Figuren, die sich gegenseitig Geschichten erzählen, erlebte, gehörte, gelesene: Zum Beispiel von Flüchtlingen, die sich an Hausfassaden die Fingerkuppen abschleifen, um im Empfangszentrum nicht identifiziert werden zu können. Diese Verhältnisse stehen im krassen Gegensatz zu den übrigen Aspekten der Globalisierung. Güter und Kapital dürfen sich frei bewegen. Im Internet können wir digital fast überall hinreisen. Das Einzige, was uns in der realen Welt davon abhält, ist unser Körper. In Elmigers Worten: «Dass Asylsuchende sich die Fingerkuppen abschleifen, ist doch ein Versuch, diesen Körper zum Verschwinden zu bringen.»
Schreiben in stillen Morgenstunden
Mit ihrem Debüt «Einladung an die Waghalsigen» landete sie 2010 auf dem 2. Platz des Bachmann-Literaturpreises und erhielt 10’000 Euro. Ausserdem wurde der Roman für den Schweizer Buchpreis nominiert und brachte sie für Lesungen bis in die USA und nach Indien. Seltsam genug für Dorothee Elmiger: «Man schreibt zu Hause ein kleines Buch und plötzlich steht man damit in Kalkutta.»
Auch in Basel machte sie halt. Als die gebürtige Appenzellerin in Leipzig am Literaturinstitut studierte, kam sie oft in Basel an und schlief bei Freunden. Diese wohnen direkt an der Grenze. «Ich finde es speziell, wie man dort die Grenze so physisch vor Augen hat.» Und so fand die Stadt ins Buch: «Schlafgänger» spielt am Hafen, an der Elsässerstrasse und am Grenzübergang bei St-Louis.
Benannt ist ihr neuer Roman nach den Schlafgängern aus dem 19. Jahrhundert. Diese «flüchtigen Existenzen» konnten sich keine Bleibe leisten und mieteten sich für ein paar Stunden in fremde Betten ein. Für stille Morgenstunden war keine Zeit. Gerade die sind Dorothee Elmiger besonders wichtig. Am liebsten schreibt sie frühmorgens. «Ich mache mir nur einen Kaffee und setze mich dann an den Text.» Zwischen dem Schlaf und dem Wachsein sei man in einem «ganz weichen Zustand. Dann kommen mir oft gute Ideen.»