Du bist nicht Frodo

Warum regt sich niemand auf über die Überwachungsprogramme «Prism» und «Tempora»? Die Antwort ist in den Klassikern der Überwachungsliteratur zu finden: Wir sind die schweigende und dumpfe Masse.

Die Agenten aus «Matrix» bilden ein klares Feindbild. Die realen Geheimdienste hingegen können mit dem stillen Einverständnis der Bevölkerungsmehrheit rechnen. (Bild: akg-images)

Warum regt sich niemand auf über die Überwachungsprogramme «Prism» und «Tempora»? Die Antwort ist in den Klassikern der Überwachungsliteratur zu finden: Wir sind die schweigende und dumpfe Masse.

In George Orwells «1984» heisst es im siebten Kapitel über die «Proles», die Masse der minderbemittelten Bewohner von Ozeanien: «Wenn es noch Hoffnung gibt, schrieb Winston, so liegt sie bei den Proles.»

Doppelplusungut, lieber Winston. Hoffnung ist keine mehr. Aber das weiss Winston Smith, Mitarbeiter des Ministeriums für Wahrheit in «1984» noch nicht. Und am Schluss will er es auch nicht mehr wissen. «Er liebte den Grossen Bruder» ist der letzte Satz jenes Werkes, auf das im Nachgang der Überwachungsaffäre in den USA und Europa so gerne Bezug genommen wird und das dank dem Amerikanischen Nachrichtendienst zu neuer Popularität gelangte: In den USA sind die Verkäufe von «1984» explodiert. Im Juni wurde es bei Amazon auf der Liste der bestverkauften Bücher aller Zeiten auf Platz 123 geführt. Vor den Enthüllungen von Edward Snowden war «1984» noch auf Rang 11’855.

Zu einem grösseren Bewusstsein für die Ungeheuerlichkeit der Geheimdienste hat der Verkaufsschub allerdings nicht geführt. Noch immer reagiert die Öffentlichkeit seltsam zurückhaltend auf den Skandal.

Egozentrische Proles

Warum das so ist, lässt sich in Orwells Dystopie nachlesen. Im Kapitel über die Proles, auf die Winston Smith so grosse Hoffnungen setzt. Nur dort, bei den 85 Prozent der Bewohner von Ozeanien, die nicht Mitglied der Partei sind, könne die Kraft zur Revolution entstehen. Dazu bräuchte es nicht viel: «Die Proles, wenn sie sich nur ihrer Macht bewusst werden könnten, hätten es gar nicht nötig, eine Verschwörung anzuzetteln. Sie brauchten nur aufzustehen und sich zu schütteln, wie ein Pferd, das die Fliegen abschüttelt. Wenn sie wollten, könnten sie die Partei morgen in Stücke schlagen.»

Die Gefahr für die Partei, sie besteht nicht. Denn die Proles sind viel zu sehr mit sich selber beschäftigt: «Schwere körperliche Arbeit, die Sorge um Heim und Kinder, kleinliche Streitigkeiten mit Nachbarn, Kino, Fussball, Bier und vor allem Glücksspiele füllten den Rahmen ihres Denkens aus.» Die Proles sind so mit sich selber beschäftigt, dass sie für die Partei gar nicht würdig sind, überwacht zu werden. Dieses Detail wird in den Vergleichen zwischen dem NSA-Skandal und George Orwell oft übersehen: In «1984» werden ausschliesslich der innere und der äussere Teil der Partei überwacht – was nur 15 Prozent der gesamten Bevölkerung ausmacht. Für die Proles reichen ein paar einzelne Agenten, die sich unter den minderwertigen Bewohnern von Ozeanien bewegen, gezielt Gerüchte streuen und diejenigen notieren (und verschwinden lassen), die vielleicht gefährlich werden können.

Das Überwachungssystem bei Orwell ist auf die grosse, dumpfe Masse der Proles angewiesen. Genauso wie die NSA und die Geheimdienste der modernen Welt auf das stille und schliesslich auch dumpfe Einverständnis der Mehrheit der Bevölkerung angewiesen sind.

Die fragmentarische Einsicht der dumpfen Masse

Die ignorante Masse ist ein fixes Erzählelement in all jenen Werken der Popkultur, die sich mit totaler Überwachung und totalitären Regimes auseinandersetzen. Die Einsicht dieser Masse, vielleicht doch Teil eines grossen Bösen zu sein, sie bleibt immer fragmentarisch. Der Augenblick in der ersten Folge von «Black Mirror» beispielsweise, der preisgekrönten Serie von Charlie Brooker, als die Kamera die Gesichter jener Menschen zeigt, die noch Momente zuvor in einem Massenfuror ihren Premier zum öffentlichen Sex mit einem Schwein gezwungen hatten. Meistens fehlt die Einsicht gänzlich: Im ersten Teil von «Matrix» sinniert Cypher bei einem (falschen) Steak mit Agent Smith über die Bürde der Wahrheit. «Ignorance is bliss», sagt Cypher, «Unwissenheit ist ein Segen», und lässt sich freiwillig wieder in die Matrix einkoppeln. Jenes System, das die Totalüberwachung per se ist: Nicht mehr das Tun des Menschen ist überwacht, sondern der Mensch in seiner ganzen Körperlichkeit. Er wird mit Schläuchen und Anschlussknöpfen eins mit dem System.

Cypher steht exemplarisch für viele Menschen, die sich nicht mit der Überwachungsthematik auseinandersetzen mögen und sich in den Satz «Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten», retten. In der «Matrix» ist Cypher natürlich ein Bösewicht, ein Verräter, der seine Entscheidung bitter bereut. In der Realität wäre er nur Durchschnitt.

Die Figur zeigt uns, wie widersprüchlich die Gesellschaft mit dem Thema Überwachung und Totalitarismus umgeht: In Filmen, Büchern und TV-Serien ist unser Wertekompass zielsicher justiert. In der Realität nicht mehr so ganz.

«Herr der Ringe» – Parallele zur Realität?

Beispielhaft dafür ist der «Herr der Ringe» von JRR Tolkien aus dem Jahr 1954. Die Autoren David Rosen und Aaron Santesso haben im amerikanischen Magazin «Slate» kürzlich dargelegt, dass nicht «1984» die überzeugendste Parallele zur Realität von Edward Snowden und uns allen ist, sondern der «Herr der Ringe». Im Gegensatz zu Orwell ist die Überwachung bei Tolkien total. Das Auge Saurons sieht alles und alle. Auch sind die Agenten bei Tolkien, die Orks, viel näher an der Realität der NSA als es die Gedankenpolizei bei Orwell ist.

Als Ringträger Frodo nach seiner Begegnung mit der Spinne Kankra am Pass von Cirith von zwei Orks gefangen genommen wird, entsteht ein kurzer Dialog zwischen den beiden Geschöpfen der Unterwelt. «Was ist das, was meinst du? Sieht elbisch aus, ist aber sehr klein. Und so ein Ding soll gefährlich sein?», fragt der eine Ork. «Das wissen wir erst, wenn es uns genauer angeschaut haben», antwortet der andere und umreisst in einem Satz die Rechtfertigung der NSA für ihr sämtliches Tun: Überall können uns Gefahren auflauern. Darum müssen wir auch überall nachschauen.

Die Frage bleibt: Warum fiebern wir überhaupt mit Frodo mit? Warum finden wir die Allgegenwart von Sauron schrecklich? Und vor allem: Warum identifizieren wir uns mehr mit den Ereignissen in Mittelerde als mit jenen, die mitten unter uns geschehen?

Ein Wertesystem für Bequeme

Die erste und einfache Antwort: Die Realität ist kompliziert, die Populärkultur ist es nicht. Sauron ist böse. Die Matrix ist böse. Der Grosse Bruder ist böse. Die Unterdrückung ist offensichtlich, das Unrecht und die Ferne des guten Lebens sind es ebenso. Unterstützt wird dieses einfache Wertesystem durch eine Hauptfigur, mit der wir uns emotional identifizieren. Wir möchten gerne sein wie der rebellische Neo aus «Matrix». Möchten Kugeln mit einer Handbewegung stoppen, durch U-Bahn-Schächte schweben und die Welt zu einem besseren Ort machen. Wir wünschen Frodo, dass seine Reise auf den Schicksalsberg gelingen möge (auch wenn er zwischendurch nervt) und wir leiden mit Winston Smith und seiner hoffnungslosen Mission.

Und genau hier wird die Argumentation unsauber. Wir hätten auch in der Realität gerne eine Hauptfigur, die wenigstens für einen Teil der Bevölkerung eine prima Identifikationsfigur abgeben würde: Ein ehemaliger Geheimdienstler, der dem grössten Geheimdienst eine lange Nase dreht. Alleine gegen das System kämpft und in vollem Bewusstsein von allen ihn erwartenden Unannehmlichkeiten den aufrechten Weg wählt.

Die Realität ist fremder als die Fiktion

Und dennoch lässt uns Edward Snowden in seinem Moskauer Asyl relativ kalt. Uns ist die Realität fremder als die Fiktion. Warum das so ist, darüber zerbrechen sich Philosophen seit Jahren den Kopf. Sie nennen das Problem das «Paradox der Fiktion» und versuchen ausufernd und kompliziert zu erklären, warum wir gegenüber fiktiven Figuren Emotionen empfinden können, welche Emotionen das sind, und warum uns ähnliche Schicksale in der richtigen Welt unberührt lassen.

Colin Radford, ein englischer Philosoph, sagt es so: Um im wahren Leben bewegt zu werden, müssen wir die Umstände glauben, bei fiktiven Schicksalen wissen wir, dass die Umstände erfunden sind. Aber auch seine Schlussfolgerung bleibt banal: «Es liegt in der Natur des Menschen, zuweilen inkonsequent zu handeln und zu fühlen.» Und sich halt manchmal mehr um das Heim und die Kinder, die kleinlichen Streitigkeiten mit Nachbarn, Kino, Fussball, Bier oder Glücksspiele zu sorgen als um den grössten Überwachungsskandal unserer Zeit.

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