«Dvořák – das ist veraltetes Zeug!»

Spielt Patricia Kopatchinskaja (35) Geige, dann ist jeder Ton eine Überraschung, jeder Klang so intensiv, dass es die Zuhörer durchschüttelt. Manchen ist das zu anstrengend. Ein Gespräch über Publikum, Musik und übers Muttersein.

«Die meisten Leute wollen immer dieselben Stücke hören. Ich verstehe das nicht.» (Bild: Sam Buchli )

Spielt Patricia Kopatchinskaja (35) Geige, dann ist jeder Ton eine Überraschung, jeder Klang so intensiv, dass es die Zuhörer durchschüttelt. Manchen ist das zu anstrengend. Ein Gespräch über Publikum, Musik und übers Muttersein.

Patricia Kopatchinskaja, wann waren Sie das letzte Mal so richtig glücklich?

Jetzt. Ich kann eine ganze Woche zu Hause mit meiner Familie sein, das ist wunderbar. Und vor Kurzem habe ich ein Quartett gegründet, es heisst «quartet-lab». Es macht unglaublich Spass! Und ist unglaublich schwierig!

Weshalb schwierig?

Ich muss es lernen wie ein neues ­Instrument. Im Quartett spielt man nicht einfach Geige, sondern es ist ein vierfaches Zuhören, eine vierfache Verantwortung. Aber es wäre ein ­armes Leben, nur als Solistin auf­zutreten – die beste Musik wurde für Quartett geschrieben!

Warum haben Sie erst jetzt damit begonnen?

Am Anfang meiner Karriere riet man mir davon ab. Man könne nicht in den grossen Sälen mit Quartett debütieren, dann habe man keine Chance mehr als Solistin, hiess es.

Wie findet man geeignete Kammermusikpartner?

Es ist fast unmöglich. Vor allem, weil ich für die meisten radikal und kompromisslos wirke.

Sind Sie es denn?

Ich weiss nicht. Wenn mich jemand wirklich interessiert, dann höre ich ganz genau zu und verändere mein ­Innerstes, um zu einem Zusammenspiel zu finden. Aber es muss eine gegenseitige Liebe sein, man muss einander so respektieren, wie man ist, auch mit Dingen, die man nicht mag. Und bereit sein, voneinander zu lernen.

Apropos Kammermusik: Vor ­Kurzem ist die rumänische Piani­stin Mihaela Ursuleasa mit 33 verstorben. Sie spielten oft mit ihr zusammen. Wie sehr schmerzt Sie dieser Verlust?

Mihaela ist unersetzbar. Wir waren wie Schwestern. Mit ihr hatte ich ­magische Momente auf der Bühne, wusste oft ganz genau, wann ihre Finger die Tasten erreichen und was für ein Klang da herauskommen wird. ­Ich denke sehr viel an den Tod im ­Moment. Und ich frage mich: Was hat Mihaela als Musikerin hinterlassen? Ich hätte gerne mehr Aufnahmen von ihr – aber es gibt sie nicht.

Noch vor wenigen Jahren haben Sie Aufnahmen abgelehnt, weil sie nur eine einzige der vielen Möglichkeiten, Musik zu inter­pretieren, zementieren.

Heute denke ich anders. Ich möchte jetzt mehr aufnehmen, möchte fest­halten, was ich glaube, zu sagen zu haben. Man muss immer damit rechnen, dass man plötzlich einfach weg ist.

Im Oktober erscheint Ihre neue CD mit Violinkonzerten von Béla Bartók, Péter Eötvös und György Ligeti. Sind das Herzensstücke?

Ja. Für mich ist es wie ein Erwachen mitten im ungarischen Kosmos. Alle Stücke sind untereinander verbunden, sie stammen alle aus derselben Erde.

Es ist ungewöhnlich, drei zeit­genössische Violinkonzerte gemeinsam auf eine CD zu bannen.

Ja, kaum eine Plattenfirma kann sich das heute leisten. Ich bin sehr glücklich, dass das Label naïve das wagt.

Ein Projekt gegen den Mainstream?

Das ist die Musik, die Mainstream werden muss! Das ist das Kernrepertoire! Sie sagt so viel mehr über unsere Zeit aus als irgendein Konzert von Max Bruch oder Antonín Dvořák! Das ist alles veraltetes Zeug, egal wie frisch man es spielt.

Aber das Publikum liebt es.

Die meisten Leute wollen immer ­dieselben Stücke hören, auf dieselbe Art und Weise gespielt. Ich verstehe das nicht. Das hat mit Kunst nichts zu tun. Das ist wie im Souvenirgeschäft eines Museums, man kauft sich eine Reproduktion von einem Bild in Form einer Postkarte.

Sie sind bekannt dafür, dass Sie Repertoirestücke gegen den Strich bürsten.

Früher wollten mir manche Orchestermusiker erklären, wie man es «richtig» spielt. Ich habe immer noch Angst, mit älteren Dirigenten spielen zu müssen.

Weshalb denn das?

Sie kommen aus einer Tradition, in der ich mich nicht wohl fühle. Sie wollen fertige Sachen auf der Bühne präsentieren, wissen schon, wie es geht. Ich nicht. Ich möchte Dinge ausprobieren, fragen, ob es vielleicht auch anders geht. Ich glaube, die Kunst braucht das, um sich zu entwickeln, um ­beweglich zu sein, um im Moment wieder entstehen zu können.

Ist das mit jüngeren Dirigenten leichter zu realisieren?

Ja, sie sind offener, gehen mit, wenn ich versuche, das Alte, Verstaubte zu sprengen. Im Konzert muss etwas ­Unvorhergesehenes passieren, etwas, das das Publikum wieder fühlen lässt, bis zum Verwundbaren. Jedes Stück muss wie eine Uraufführung klingen! – Aber eigentlich interessiert mich Zeitgenössisches viel mehr.

Warum?

Das ist das, was heute passiert. Die neue Musik sollte die Normalität sein. Ich weiss nicht, was das soll, wenn in einem Konzert absolut keine zeitgenössische Musik gespielt wird. Irgendetwas ist schiefgelaufen, dass die ­heutige Zeit nur noch zurückschauen kann. Die Leute haben Angst wahrzunehmen, was heute wirklich geschieht.

Sie spielen demnächst in Basel, Karl Amadeus Hartmanns «Concerto funebre» für Violine und Streicher.

Ja, eines der besten Stücke überhaupt. Hartmann komponierte es 1939, in der schlimmsten Zeit. Es steckt die Trauer einer ganzen Nation in diesem Konzert, Trauer über all das Faschistoide. Die Geige singt und schreit!

Sie treten gemeinsam mit dem Kammerorchester Basel auf …

… ein tolles Orchester, mit viel Er­fahrung, so dass wir ohne Dirigent spielen können.

Ein solch komplexes Werk ohne Dirigent?

Das ist richtig so, dieses Konzert ist wie Kammermusik. Aber es fordert ­jeden Einzelnen bis zum Letzten ­heraus, technisch und auch interpre­tatorisch. Hartmann schrieb, jeder Ton muss durchgefühlt sein, jede ­Pause durchgeatmet.

Sind Sie der Neuen Musik näher, weil Sie auch selbst komponieren?

Ja. Ich habe lange nicht geschrieben; nun gibt es aber einen Auftrag von der Camerata Bern. Das ist herausfordernd, ich habe stets ein Ohr daneben, bin mir selbst der stärkste Kritiker, wie beim Üben. Aber ich merke, beim Komponieren muss ich sehr viel ­kritikloser sein, muss es in mir kochen lassen – und dann ausgiessen, aus­giessen, alles aufschreiben.

Wann finden Sie zwischen all den Konzerten Zeit dazu?

Das ist ein Problem. Ich empfinde mich als Trägerin von fremder Musik, Informationen und Gefühlen. Wenn man komponiert, ist es die grösste ­Herausforderung, all diese fremden Harmonien, Rhythmen und Melodien rauszuwerfen, sich zu entleeren, um wieder zu seinem eigenen Kern zu kommen. Dazu braucht man Zeit.

Finden Sie die beim Reisen?

Nein, da geht es überhaupt nicht. Wenn ich ein Konzert spiele, kostet mich das sehr viel Energie. Ich habe keinen Autopiloten, den ich anstellen kann und der das Stück dann für mich durchspielt. Ich versuche bei jedem Konzert von vorn anzufangen. Wenn ich zwischen den Konzerten nicht zum Umschalten komme, lebe ich gleich­zeitig in fünf verschiedenen Stücken! Meine Seele kommt nicht mehr dorthin, wo mein Körper ist, ich renne mir selbst hinterher …

Ist das Reisen Fluch oder Segen?

Es gehört zum Job. Reisen ist mühsam, manchmal kann ich mich aber gut konzentrieren und versuche, so viel wie möglich zu arbeiten, damit das nächste Projekt vorbereitet ist, wenn ich heimkehre. Zu Hause in Bern bin ich ganz Mutter – und kann in Ruhe Kuchen backen (lacht).

Braucht es einen konstanten Ort, wenn man so viel unterwegs ist?

Unbedingt. Jeden Tag woanders sein – das ist nicht menschlich. Das Gefühl von Heimatlosigkeit, das muss man immer wieder beheben. Ich versuche, in den Stücken dieses Zu-Hause-­Gefühl zu finden. Aber man muss ­diesen Beruf auch wichtig genug finden, dass man all das opfert, was ein Mensch eigentlich hat: die Familie, die Sicherheit des Alltäglichen …

Wie oft können Sie mit Ihrer Tochter Alltag leben?

Nicht so oft, leider. Als sie klein war, haben wir sie immer mitgenommen. Nun geht sie in die Schule, der Papa kümmert sich jetzt um alles. Und ich habe ein schlechtes Gewissen.

Wem gegenüber?

(überlegt) Mir selbst. Weil ich eine tolle Mutter hatte, die alles für ihre Kinder getan hat. Doch wenn die Kinder alt sind und dich nicht mehr brauchen, dann ist da plötzlich ein grosses Loch – und das wollte ich nicht. Ich mache das ganz anders als meine Mutter, und ich bin nicht sicher, ob es richtig ist.

Wie geht Ihre Tochter damit um, dass sie einander so selten sehen?

Sie ist es gewohnt. Aber einmal hatte sie eine geniale Idee: «Mami, spiel doch schlecht, dann werden sie dich nicht mehr einladen. Dann bleibst du zu Hause!» Das fand ich wunderbar. Es ist eine Zwickmühle für mich: ­Einerseits habe ich mein Leben lang darauf hingearbeitet, um mit so tollen Orchestern zu spielen. Andererseits verpasse ich so viel in der Familie.

  • Patricia Kopatchinskaja live: Mo, 24. 9., 19.30 Uhr, Martinskirche BS, mit dem Kammerorchester Basel.
  • Ende Oktober erscheint ihre neue CD mit Violinkonzerten von Béla Bartók, Péter Eötvös und György Ligeti.
  • Am 30. Oktober läuft in der Dampf­zentrale Bern die Vorpremiere des Films «Patricia Kopatchinskaja: Ich kenne Dich, ich habe Dich spielen gehört» (Regie: Béla Batthyany). Der Dok-Film wird später auf SRF ausgestrahlt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.09.12

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