Der Basler alt Regierungsrat Remo Gysin (SP) war Mitinitiant des Schweizer UNO-Beitritts. Zehn Jahre danach ist er immer noch stolz darauf.
Es war ein grosser Tag für Remo Gysin. Nicht ganz genau gleich wie vor zehn Jahren in New York, aber immer noch: gross. Der frühere Basler Regierungsrat und Nationalrat gehörte zu den treibenden Kräften des Schweizer UNO-Beitritts vor zehn Jahren und war an diesem Dienstag Ehrengast der Vereinigten Bundesversammlung. UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon sprach vor dem Parlament, es gab einen Empfang, sentimentale Rückblicke. «Es war eine kleines Klassentreffen», sagt Gysin, für den der UNO-Beitritt das grösste Ereignis seiner politischen Karriere war.
Herr Gysin, vor zehn Jahren waren Sie in New York bei der offiziellen Aufnahme der Schweiz in die Vereinten Nationen dabei und sagten danach der «Schweizer Illustrierten»: «Ich weine die ganze Zeit, derart freue ich mich.» Was hat Sie so bewegt?
Tatsächlich? Ich habe weinen gesagt? Das kann ich mir fast nicht vorstellen (lacht).
Aber es scheint schon ein spezieller Tag für Sie gewesen zu sein.
Ja und wie. Das war etwas vom Besten, was ich in meiner politischen Karriere erlebt habe. Und ich muss auch zugeben: An diesem Tag in New York war ich tatsächlich sehr emotional. Zwei Erlebnisse fand ich besonders berührend: zuerst, als die Schweizer Delegation von ihrem Beobachtersitz aufstand und als neues Vollmitglied im Gänsemarsch quer durch den Saal zu ihrem neuen Platz in der Generalversammlung spazierte, das war sehr ergreifend.
Und der zweite Moment?
Tja, das kam sehr überraschend. Ich wusste nicht, dass ich so auf Flaggen reagiere. Aber als in New York die Schweizer Fahne gehisst wurde, hat mich das sehr berührt.
Und das als Linker!
Eben.
Anscheinend gab es damals ein Problem mit der quadratischen Flagge – sie war verheddert und ging nicht richtig auf.
Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. An diesem Tag ging für mich einfach alles auf.
Im Rückblick kann man sich Ihre grosse Erleichterung und Ihre unbändige Freude nur schwer vorstellen.
Man muss sich den Kontext von damals vergegenwärtigen, die Schweizer Isolation. Wir hatten den EWR abgelehnt und standen in der Kritik wegen der Holocaust-Gelder. Wir standen alleine und litten darunter. Und die Welt hatte sich seit 1986, dem ersten, ablehnenden Volksentscheid zum UNO-Beitritt, weiterentwickelt. Der Kalte Krieg endete in der Öffnung des Eisernen Vorhangs. Fast 100 Prozent der Weltbevölkerung waren in der UNO vertreten. 185 Mitglieder hatten die Vereinten Nationen, als wir unsere Initiative lancierten. Wir waren draussen und standen mit unserem Beobachterstatus auf der gleichen Stufe wie die Arabische Liga, das IKRK oder der Vatikanstaat. Es war eine kuriose Situation. Denn gleichzeitig hatten wir den Sitz der UNO in Genf, sassen in allen Sonderorganisationen, waren starke Beitragszahler. Als die Schweiz dann Mitglied wurde, war das ein regelrechter Durchbruch. Wir traten als 190. Land der UNO bei, aber als Erstes über einen Volksentscheid.
Ihr Mitinitiant, der SP-Nationalrat Andreas Gross, ist mit der Bilanz der Schweiz nicht zufrieden. Sie habe ihr Renommee zu wenig genutzt, um den Sicherheitsrat zu reformieren, sagte er «20 Minuten». Sehen Sie das ähnlich?
Zwar hat die Schweiz gemeinsam mit den «Small Five», einer Gruppe von Kleinstaaten, Reformvorschläge zum Sicherheitsrat gemacht und diese dann unter Druck wieder zurückgezogen. Aber man darf das Schweizer Engagement nicht nur daran messen. Unsere Bilanz kann sich durchaus sehen lassen. Wir haben unseren Platz eingenommen, haben eine Plattform gefunden, um uns zu vernetzen und Koalitionen zu schmieden. Wir müssen nicht mehr andere bitten, an unserer Stelle zu sprechen. Wir haben an Mitbestimmung und damit an Souveränität gewonnen, ganz generell. Und wir haben auch konkrete Erfolge vorzuweisen: Die Einrichtung des Menschenrechtsrats, die Sicherung von Genf als UNO-Standort, die über 1500 Schweizerinnen und Schweizer, die im System der UNO zum Teil Spitzenposten bekleiden. Alt Bundesrat Joseph Deiss etwa war Präsident der Generalversammlung.
Im Jahr 2023 will die Schweiz in den Sicherheitsrat. Was soll die Schweiz da? Verletzt das nicht die Neutralitätspolitik?
Ich bin grundsätzlich der Meinung, dass es besser ist, in einer Institution zu sein und ihre Entscheidungen zu beeinflussen, als von aussen darüber zu jammern. Unsere Neutralität würde dabei nicht tangiert. Die UNO nimmt nicht Stellung für eine Kriegspartei, sie ist eine Friedens- und Ordnungsmacht, ein Polizist und Richter.
Ohne die entsprechende Resolution hätte es doch nie einen Einsatz in Libyen gegeben – dort hat die UNO Stellung bezogen.
Zum Schutz der Bevölkerung. Ihr Beschluss wurde aber nicht eingehalten. Tatsächlich gibt es im Sicherheitsrat Schwachstellen und natürlich versuchen die Vetomächte im Sicherheitsrat sich durchzusetzen, versuchen die USA, China und Russland ihre Hegemonialansprüche anzumelden. Auf der anderen Seite trägt die Schweiz praktisch alle Entscheidungen des Sicherheitsrats seit Langem mit. Warum soll sie Entscheidungen, die sie mitträgt, nicht auch in ihrem Sinne beeinflussen?
Die Situation in Syrien führt der Welt vor, wie schwach die UNO ist, wenn die Vetomächte sich querstellen. Fühlt man sich da als erklärter Freund der Vereinten Nationen nicht ohnmächtig?
Natürlich gibt es Grenzen, die oft schmerzhaft und ungerecht sind. Aber gleichzeitig gibt es keine andere Organisation, die sich so intensiv und wegweisend mit den Menschenrechten, mit Armut, mit Hunger, dem Frieden, dem Klima auseinandersetzt. Die UNO ist ein Spiegel der Weltrealität. Ein ehemaliger Generalsekretär hat einmal gesagt: Die UNO verspricht nicht den Himmel. Sie verhindert, dass die Welt zur Hölle wird.
In Zeiten der Krise ziehen sich die Menschen mehr ins Private, ins Kleine zurück. Ist die Zeit der grossen internationalen Organisationen ohnehin vorbei?
Gegenfrage: Haben Sie denn den Eindruck, die Klimafrage, die Verschmutzung der Meere, Kriege, Armut und Nahrungsmittelknappheit würden als Themen an Gewicht verlieren?
Nein, aber solange es den Menschen in ihrem Einfamilienhaus in der Ersten Welt gut geht, interessiert sie es nicht.
Gut, es ist tatsächlich ein Rückzug ins Private zu beobachten. Aber die Notwendigkeit zusammenzurücken, war selten grösser als heute. Wir brauchen eine Gegenkraft zu all den multinationalen Konzernen und ihrem fragwürdigen Umgang mit unserer Welt. Nestlé und ihre Wasserverknappung, die Ausbeutung der Rohstoffe durch Glencore, der Umgang von Syngenta mit Herbiziden, die gesamte Bankenbranche. Wir müssen die Multis in die Pflicht nehmen. Die Hälfte des Weltsozialprodukts liegt in den Händen der 500 grössten Firmen. Darum braucht es eine Gegenkraft, und das kann nur die UNO sein.
Ist sie überhaupt fähig, eine solche Gegenkraft zu sein?
Sie kann schon, sie muss sich aber ändern. Der Global Compact beispielsweise, die Initiative der UNO für eine soziale und nachhaltige Unternehmenspolitik, müsste endlich verbindlich und mit Sanktionen durchgesetzt werden.
Wo sehen Sie dabei die Rolle der Schweiz?
Zum Beispiel im Lancieren einer UNO-Konvention zur internationalen Unternehmensverantwortung und -haftung. Insgesamt ist die Schweiz auf einem guten Weg. Diesen muss sie weitergehen und gewisse Themen noch intensiver bearbeiten. Im Völkerrecht, bei der Bewahrung der Menschenrechte, als Vermittler in der Friedenspolitik, in der Umweltpolitik. Es ist ein weites Feld, die Aufgaben werden nicht ausgehen.
Ist es nicht etwas schwierig, wenn man in der UNO als grosser Mediator auftritt und gleichzeitig mit halb Europa im Steuerstreit liegt, den grossen Rohstoffkonzernen ein steuergünstiges Domizil bietet und Handgranaten in den Nahen Osten liefert?
Das ist schon so. Ordnung machen, beginnt zu Hause. Die Schweiz hat grösste Mühe, eine kohärente Politik zu betreiben. Nicht nur im Bankensektor, wo wir die Gesetzgebung von anderen Ländern aktiv unterlaufen oder bei der Global-Compact-Initiative, die wir viel zu wenig fördern. Am schlimmsten ist unsere Rolle beim Waffenexport. Einerseits bekämpfen wir im Rahmen der UNO die Verbreitung von Kleinwaffen. Andererseits exportiert die Schweiz Waffen an Diktaturen und Kriegsparteien. Wir müssen auch in der Schweiz endlich damit beginnen, die Achtung der Menschenrechte und die Achtung der Demokratie über wirtschaftliche Interessen zu stellen.
Jahrelange Arbeit
Der Beitritt zur UNO war ein Herzensprojekt von alt Regierungsrat und alt Nationalrat Remo Gysin. Drei Jahre lang dauerte die intensive Phase in Gysins UNO-Engagement. Im September 1998 wurde die Volksinitiative lanciert, am 3. März 2002 sagte die Schweizer Stimmbevölkerung Ja dazu. «In der Zeit dazwischen bin ich als Wanderprediger durch die Schweiz gezogen», sagt Gysin heute. Er sei in dieser Zeit etwas gar eindimensional auf die UNO fokussiert gewesen, das sei für sein näheres Umfeld nicht immer einfach gewesen. Koordiniert wurde die Initiative vom Petersplatz aus. Leute wie Rosmarie Alt, Daniel Hueskes, Ursula Metzger oder Patrick Loeb arbeiteten «wie verrückt» für die Initiative. «Eine Volksinitiative lebt nicht von Bundesräten und Nationalräten. Sie lebt von den stillen Schaffern», sagt Gysin. Seit dieser Zeit sei der Petersplatz für ihn nicht mehr einfach der Petersplatz.
Besonders stolz ist Gysin im Rückblick auf die Schaffung des Basler Komitees, in dem Politiker aus verschiedensten Parteien vertreten waren. Besonders das Engagement des ehemaligen FDP-Nationalrats Johannes Randegger habe ihn sehr gefreut. «Damals habe ich gelernt: Wenn man sich auf die Gemeinsamkeiten konzentriert, kann man sehr weit kommen.»
Quellen
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.09.12