Sängerin Carleen Anderson hat vor 20 Jahren den britischen Acid Jazz geprägt. Was sie an der Eröffnung des «Stimmen»-Festivals bot, war ein Spagat zwischen Stilen und Registern – womit sie einen ambivalenten Eindruck hinterliess.
Dass bei «Stimmen» ein Stabwechsel vollzogen worden ist, manifestiert sich beim Blick aufs diesjährige Programm: Viele angelsächsische Acts zieren die Affiche. Kein Zufall, schlägt das Herz von Festivalchef Markus Muffler doch für die Musik aus diesem Sprachraum, wie er im Interview mit der TagesWoche erzählte. Er hat früher in London gelebt und gearbeitet – und vor Ort miterlebt, wie Jazzakkorde ein Comeback in den Clubs erlebten: Acid Jazz lautete das Etikett, das die Medien vor 20 Jahren der elektrisierenden Stilmischung aus Samples, Funk- und Hip-Hop-Grooves und Soulgesang verliehen haben.
So erfüllte sich Muffler am Donnerstag einen Herzenswunsch und begrüsste zur Festivaleröffnung Carleen Anderson auf der Burghof-Bühne: Zusammen mit ihren amerikanischen Landsfrauen Jocelyn Brown (Incognito) und N’dea Davenport (Brand New Heavies) verlieh sie dem britischen Acid Jazz eine gewichtige Soul-Stimme. Dies wiederum wurde ihr in die Wiege gelegt, ihre Mutter Vicki Anderson gehörte zur Entourage von James Brown, der Carleens Patenonkel war.
Priestertochter und Young Disciple
Während ihre Mutter in den 60er-Jahren mit JB auf Tour war, wuchs die Pfarrerstochter Carleen bei den Grosseltern auf, absorbierte Glauben und Musik – und den Gospel. Ein Background, den sie im Lauf ihres 75-minütigen Auftritts in Lörrach mehrfach offenbart: Ihre Stimme lässt sie in dunklem Predigtton über einem herrlich rund gespielten 12/8-Takt warmlaufen, ehe sie ein erstes Mal an die Acid-Jazz-Jahre erinnert und «As We Come To Be» anstimmt, ein legeres Funkstück, das sie seinerzeit mit den Young Disciples auf Platte bannte. Während der Song im Original mit Bläsern und lässiger Gitarre orchestriert wurde, präsentiert ihn Carleen Anderson 2013 ordentlich abgespeckt. Die 56-Jährige tritt in Trioformation auf, begleitet von einem erfahrenen Sessionduo: Rose Ann Dimalanta Kirsch an den Keyboards und Guido May am Schlagzeug, die sie bei ihrem aktuellen Live-Projekt begleiten.
Souverän legt May mit Besen oder Sticks seine Grooves hin, beweist, dass er Grössen wie Purdie oder Porcaro exzellent studiert hat und auch in Buddy-Rich-Manier virtuos solieren kann. Auch Dimalanta Kirsch demonstriert ihre Feinmotorik, legt die Harmonien unter Andersons Gesang, während sie mit ihrer linken Hand den Bass auf dem Keyboard ersetzt.
Am falschen Ort gespart
Doch mit dem Verzicht auf einen Live-Bassisten hat die Bandleaderin am falschen Ort gespart. Von Beginn wünscht man sich einen leibhaftigen vierten Musiker auf der Bühne, der in den Swingnummern mal den Upright-, im Funk mal den E-Bass zupft; nicht nur, weil die synthetischen Klänge den Gesamtsound in Sachen Transparenz beeinträchtigen, sondern auch, weil ein Bassist als Bindeglied der drei Musiker gedient und das Klangspektrum um eine wichtige Nuance erweitert hätte.
So aber werden viele Lieder einfach in eine Small-Band-Besetzung komprimiert. Eine Unsitte, die gerade bei amerikanischen Sängerinnen zunehmend feststellbar ist, wir erinnern uns etwa an Dionne Warwicks Basler Gastspiel im letzten Jahr. Gerade in jenen Momenten, in denen Anderson an die Blütezeit des Acid-Jazz erinnert – im grössten Hit «Apparently Nothing» etwa – vermisst man den vollen Bandsound, die wahre Grandezza. Das wäre nicht weiter schlimm, hätte sie Mut zur völligen Reduktion bewiesen und sich in den Trioarrangements noch stärker vom Original entfernt, die Intimität ausgespielt. Doch man wird den Eindruck nicht los, als traue sich Anderson nicht ganz, mit dieser Ära zu brechen und die Kompositionen an den Kammerjazz anzupassen.
Ein Roberta-Flack-Moment
Die Vermutung, dass Anderson nicht richtig weiss, welche Richtung sie musikalisch einschlagen möchte, wird phasenweise auch durch ihren Gesang bestärkt: Dass sie ein breites Register abrufen kann, unterstreicht sie oft und gerne. Doch tut sie sich nicht immer einen Gefallen damit, diesen im ebenso juvenilen Kleid wie sich selber zu präsentieren. Zwar trifft sie auch im Kopfgesang stets die Töne – aber längst nicht immer unser Herz. Je höher ihr Falsett, umso auswechselbarer der Gesang. Schade, gerade weil sie in den tieferen Lagen viel mehr Ausdruck hat und mit ihrem herrlichen Timbre begeistert – in Liedern wie «True Spirit», «Free» oder «Mama Said» dringt durch, welche Lebensgeschichte in dieser Frau steckt und über ihre Lippen kommt.
Für den überraschenden Höhepunkt des Abends sorgt schliesslich eine Coverversion: Ganz alleine erscheint Anderson zur Zugabe und setzt sich an den Flügel. Nur Stimme und Klavier, wie einst Roberta Flack. Sehr stimmig. Sehr berührend. Sehr überzeugend singt sie «Don’t Look Back in Anger» – im Original von Oasis, was man aber erst im Refrain realisiert. Verblüffend, wie Anderson diesem Britpop-Klassiker völlig neue Facetten abgewinnt, indem sie ihn tief in den Jazz tunkt – und das – endlich! – ohne sich in einer Falsetteria zu verlieren. Es ist dieser Moment grosser Intimität, der auf das Publikum wie sie selbst entfesselnde Wirkund hat.
Losgelöst setzt sie zur zweiten Zugabe an, «When The Light Shines», und verwandelt den Burghof in eine Kirche, in der das Publikum mitsingt und mit ihr feiert. Ein Showelement, klar, aber das Lachen der Sängerin macht deutlich, dass sie jetzt richtig angekommen ist – leider erst am Ende des Konzerts. Mit den Zugaben setzt sie zwei starke Schlusspunkte, befreit sich von den Kompromissen und dem Duktus des Acid-Jazz. Man wünschte ihr, dass dieser Befreiungsschlag, ein konsequenterer Mut zum Verzicht, noch stärker greift. So hätte Anderson auch in der Gegenwart noch eine Zukunft.