Weiss wie frisch gefallener Schnee liegt die Frau auf ihrem Lager, doch es ist kein friedlicher Anblick.
Aus dem Dunkel der Draperien bedrängen unheimliche Wesen das scheinbare Idyll. Ein behaarter Kobold hockt auf der Brust der züchtig gekleideten Schönen, während ein Geisterpferd mit totem Blick den Vorhang teilt – es ist das Albdrücken, der volkstümliche Nachtmahr, der die Schlafende heimsucht.
Als der Zürcher Maler Johann Heinrich Füssli (1741–1825) seinen «Nachtmahr» 1781 an der Royal Academy of London ausstellte, war das Publikum dem Gemälde augenblicklich verfallen. Nackte Haut gab es zwar nur wenig zu sehen, aber für ein sittsames Schlafgemach gab der klassizistische Schinken eindeutig zu viele Rätsel auf. War die totenähnliche Starre noch Schlaf oder vielleicht doch eher das Erschlaffen nach einem – «shocking!» – sexuellen Höhepunkt?
Sublimierter sexueller Frust
Umtriebig genug war er ja, der ehemalige Pfarrer Füssli, der sich wegen eines Pamphlets gegen einen Landvogt ausser Landes begeben musste und auf Wanderschaft quer durch Europa ging. Auf dem Rückweg von Italien, wo er die alten Meister studiert hatte, verliebte sich Füssli 1779 Hals über Kopf in Anna Landholdt, die Nichte des Zürcher Aufklärers Johann Caspar Lavater.
«Ich muss sie haben», schrieb Füssli seinem Freund Lavater und schilderte einen feuchten Traum, der nie in Erfüllung ging: Das Fräulein zeigte Füssli die kalte Schulter und heiratete einen anderen. Dieser sublimierte sexuelle Frust mag «Nachtmahr» seine pikante Note verleihen, doch war da noch mehr, was die Gemüter von Füsslis Zeitgenossen erregte.
Folkloristischer Lustgrusel
Aufgewachsen in der damaligen Gelehrtenstadt Zürich, die sich selbst als «Athen an der Limmat» sah, war Füssli mit den Idealen der Aufklärung vertraut: Dem dumpfen Dunkel des Mittelalters wurde das Licht der Erkenntnis entgegengesetzt, das dem Menschen einen Weg aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit weisen und Vorurteile und Aberglauben verscheuchen sollte.
Dieses Licht verwendet Füssli in seiner effektgeladenen Hell-Dunkel-Malerei nun derart, dass ausgerechnet das Abseitige, Spukhafte umso greller ausgestellt wird. Das vom Reinheitsgebot eines klassischen Kunstverständnisses gelangweilte Publikum fand Gefallen am folkloristischen Lustgrusel, den der geschäftstüchtige Maler mit Motiven aus dem Volksglauben und der damals populären Schauerliteratur bediente.
Verdrängte Wünsche
Füssli, der sich aus Imagegründen in Fuseli umbenannte und in die Royal Academy of Arts aufgenommen wurde, fertigte weitere Versionen seines Blockbuster-Bildes an, auch politische Karikaturisten zitierten das Gemälde wiederholt im Zusammenhang mit dem sehr realen Albtraum, der im Gefolge der Französischen Revolution über Europa hereinbrach. Anklang fand der «Nachtmahr» zudem in einem der wichtigsten Werke der Schauerliteratur: Mary Shelleys «Frankenstein».
1816, im verregneten «Jahr ohne Sommer», als infolge eines Vulkanausbruchs das Wetter auf der ganzen Welt verrückt spielte, lieferte sich die britische Schriftstellerin mit Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori in einer Villa am Genfersee einen Wettstreit im Schreiben von Schauergeschichten. Shelleys Eltern waren mit Füssli bekannt, dessen «Nachtmahr» thematisch in «Frankenstein» einfloss.
Füsslis Rückgriff auf Volksmärchen und seine Vermischung von E- und U-Kultur bereitete aber nicht nur den Weg für die bis heute populären Schattengestalten des Horrorgenres, sein bekanntestes Gemälde soll auch in Sigmund Freuds Wiener Wohnung gehangen haben, wo sich der Psychoanalytiker mit den unbewussten und verdrängten Wünschen seiner Patienten beschäftigte. So verfolgt Füsslis «Nachtmahr» uns bis heute in unsere Träume – und deren Deutung.